DEUTSCHES
BIOGRAPHISCHES
JAHRBUCH
HERAUSGEGEBEN VOM
VERBANDE DER DEUTSCHEN AKADEMIEN
QBERLEITUNGSBANDII: 1917-1920
1928
DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT STUTTGART
BERLIN UND LEIPZIG
PJi*>t<>iir^phisclii.j Originalaufnahme NicttL.i P^iiL-hcid. Berlin
Max K linger
REDAKTIONSAUSSCHUSS:
KARL BR AND I Gottinger Gesellsdiaft der Wissensdiaften
WALTHER VON DyCK, MunAener Akademie
PAUL ERNST, Heidelberger Akademic
FRITZ FOERSTER, Leipziger Akademic
ERNST HEyMANN, Berliner Akademie
ERICH MARCKS, Mundiener Historisrfie Kommission
JULIUS PETERSEN, Berliner Akademie
RICHARD VON WETTSTEIN, Wiener Akademie
HERAUSGEBER:
Dr. phii. HERMANN CHRISTERN in Berlin
BEARBEITER DER TOTENLISTE:
Dr. phil. JOHANNES HOHLFELD in Leipzig
GESCHAFTSSTELLE:
Berlin N\V 7, Unter den Linden 38
<PreufiisAe Akademie der Wissensdiaften)
VORBEMERKUNG:
Einige in Aussidit genommene Biographien hat der Herausgeber
fur diesen Band nicfat erhalten konnen, die Lucken solien nadi
Moglidikeit spater ausgefullt werden,- eine Biographie Friedridi
Naumanns wird im nadisten Bande (Jahrgang 1922) folgen.
Alle Rcchte vorbehalten
Druck der Deutschen VerlagS'Anstalt in Stuttgart
Papier von d.cr Papierfabrik Salach in Salach, Wurttemberg
INHALT
Biographien : IQ17 3
1918 207
1919 350
1920 490
Totenlisten: 1917 645
1918 679
1919 711
x920 739
Namenverzeidinis 767
Autorenverzeichnis 769
BIOGRAPHIEN
1917 / 1918 / 1919 / 1920
1917
Baare, Fritz, Geheimer Kommerzienrat und Dr.-Ing. e. h., * 9. Mai 1855 in
Bochum, 1 10. April 1917 in Oeynhausen. — Fritz B. wurde als drittaltester Sohn
des Geheimen Kommerzienrats Louis B. zu Bochum geboren. Schon in f riiher
Jugend zeigte er eine ausgesprochene Neigung zum Ingenieurberuf . Noch heute
wird eine von ihm in seiner Jugend hergestellte und gut arbeitende Dampf-
maschine aufbewahrt ; seiner Mutter hat er als Gymnasiast eine Nahmaschine
fur mechanischen Antrieb eingerichtet. Er besuchte zunachst das Gymnasium
zu Bochum und wahrend der letzten Jahre bis zur Erlangung des Reifezeug-
nisses das Gymnasium in Arnsberg. Schon als Schiiler hielt er sich in der GuB-
stahlfabrik auf und kannte viele altere Arbeiter, namentlich Facharbeiter,
personlich. Er studierte dann auf dem Polytechnikum in Berlin und Karlsruhe.
In Berlin wohnte er bei einem Schuhmachermeister, dem er manchen Hand-
griff in der Werkstatt absah. Sehr erstaunt war Geheimrat Louis B., als er
eines Tages in Marienbad ein Paket von seinem Sohn Fritz erhielt, in dem
dieser ihm ein Paar selbstgefertigter Schuhe iibersandte. Sie waren zwar nicht
von hochster Eleganz, aber doch recht bequem und veranlaBten den gleichf alls
in Marienbad anwesenden Dichter Emil Rittershaus zu poetischer Wurdigung
der schusterlichen Tat. Nach Beendigung des Studiums ging B. fur zwei Jahre
nach England zur Firma Tannet Walker & Co. in Leeds. Seiner Dienstpflicht
geniigte er bei den 1. Gardedragonern in Berlin. Gern hatte er damals den
Beruf des aktiven Offiziers gewahlt, verzichtete aber, dem Wunsche seines
Vaters folgend, hierauf. Seither gruppierte sich die Arbeit und die Erholung
seines Lebens um zwei Zentren : um den Beruf zum Ingenieur und um die Liebe
zum reiterlichen Soldatentum.
Fritz B.sLebensweg erscheint dem ihn nach seiner Vollendung tfberschauen-
den als ungewohnlich glatt verlaufend. Gliicklich verheiratet seit 1882 mit
Hedwig Heintzmann, der Tochter des Bergrats Heintzmann in Bochum, tatig
auf einem ihm zusagenden und auch dem Umfange nach seiner groBen Be-
gabung entsprechenden Arbeitsgebiet, lebend in einer Zeit, in welcher die
deutsche Wirtschaft nach dem tiefen Niedergang Ende der siebziger Jahre
allmahlich wieder zu erstarken begann, unbeschwert von den driickenden
Sorgen, die sein Vater nach der Griindung des Werkes und spater hatte durch-
kosten miissen, mit seinem Werk getragen und gehoben von der steigenden
Bedeutung der deutschen Industrie, so sieht sich sein Leben an als wahrhaft
vom Schicksal begnadet.
Naheres Betrachten zeigt aber auch in diesem Leben Schwierigkeiten, an
deren Uberwindung ein weniger starker Charakter, eine minder kraftvolle
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Natur als Fritz B. gescheitert ware. An den jungen Generalsekretar — dies war
er seit 1880 — wurden von seinem Vater die allergroBten Anforderungen an
Arbeitskraft und Zeit gestellt. 15 Jahre lang muBte er jederzeit des Winkes des
alten Herrn gewartig sein ; er war in seine tagliche Arbeit eingespannt wie kein
zweiter. In diesen langen Jahren hat Fritz B. einen eisernen FleiB und eine
Hingabe an seine Arbeit bewiesen, der auch die mitunter harte Hand des alten,
an sich selbst sehr hohe Anforderungen stellenden Geheimrats keinen Abbruch
getan hat, Urlaub im Sinne von Vergniigungsreisen kannte er weder damals
noch spater. Seine Erholung war der Sport nach Vollendung seiner Tagesarbeit,
dem er in vielerlei Form zugetan war. So hatte er bereits als Student in Berlin
sein Ruderboot auf der Spree und war stets ein ebenso eifriger Tennisspieler
wie Reiter. Abgesehen von tageweisen Abwesenheiten zur Jagd verbrachte er
irn iibrigen seinen Urlaub bei den militarischen tjbungen. Nach langjahrigem
Offizierdienst in der Reserve des Dragoner- Regiments 14 wurde er Rittmeister
der Landwehrkavallerie, erwirkte aber seine Zuriickversetzung in die Reserve
und setzte nunmehr bei den 11. Husaren in Diisseldorf bzw. Krefeld seine
tJbungen fort. Bei diesem Regiment wurde er anlaBlich des ioojahrigen Re-
giments] ubilaums auch Major d. R., ein Vorgang, der in der deutschen Frie-
densarmee selten genug war, um daraus auf die ungewohnliche Wertschatzung
riickschlieBen zu konnen, deren er sich auch in diesem seinem »Nebenberuf «
erfreute. Der Nachruf seines Regiments nennt ihn denn auch einen hervor-
ragenden Soldaten, einen treff lichen Kameraden und Freund. Auch der Kreis-
kriegerverband und der Kavallerieverein hoben bei seinem Ableben seine treue,
soldatische Gesinnung und seine groBen Verdienste fur ihre Sache in zu Herzen
gehender Weise hervor.
Fritz B. war der geborene Ingenieur. Mit den Erfahrungen von Leeds aus-
geriistet, trat er im Jahre 1880 als Generalsekretar und Stellvertreter seines
Vaters in die Dienste des Bochumer Vereins. Neben der hiermit verbundenen
kaufmannischen und Verwaltungsarbeit widmete er hauptsachlich der Technik
einen groflen Teil seiner Zeit und Kraft. Kein Tag verging, an dem er nicht in
den Konstruktionsbureaus und Betrieben des Werkes tatig gewesen ware. Von
ihm personlich entworfen und in alien Teilen der Ausfiihrung bestimmt ist die
1890 fertigmontierte hydraulische 4000-t-Schmiedepresse im Hammerwerk II.
Der Bochumer Verein trug sich schon seit langerer Zeit mit dem Gedanken,
die Herstellung groBerer und groBter Schmiedestiicke in seinen Erzeugungsplan
aufzunehmen. Die Absicht, zu diesem Zweck einen schweren Hammer aufzu-
stellen, scheiterte am Einspruch des Bergbaues, der den Untertagebau durch
eine solche Anlage an jener Stelle gefahrdet glaubte. Dieser Widerstand wies
den Weg zur Errichtung einer Schmiedepresse. Mit Unermiidlichkeit und groBer
Hingebung hat Fritz B. sich diesem Werk gewidmet, das insofern fiir deutsche
Verhaltnisse eine Neuerung darstellte, als hier zum erstenmal ein Differenzial-
kolben zur Anwendung kam, der die Einwirkung des vorhandenen Druckes von
50 bzw. 500 Atmospharen auf zwei verschieden groBe Flachen und damit eine
groBere Feinheit der Schmiedearbeit ermoglichte. Diese Presse steht noch
heute im Betrieb, allerdings in einzelnen Teilen erneuert und abgeandert. Um
die Mitte der neunziger Jahre, als die vom Bochumer Verein an die Waggon-
f abriken zu liefernden Waggonzubehorteile im Preise standig gedriickt wurden,
errichtete Fritz B. mit uberraschender Schnelligkeit und Energie eine voll-
Baare 5
standige Waggonfabrik auf dem Hiittengelande des Bochumer Vereins. DaB
er hierbei groBziigig vorging, beweist die Leistungsfahigkeit der neuen Anlage,
deren Hauptmontagehalle geniigenden Raum fur den gleichzeitigen Bau von
iiber 100 Eisenbahnwagen bot, und deren Jahreserzeugung bis 1500 Wagen
aller Art betrug.
Durch das langjahrige Zusammenarbeiten mit seinem Vater wuchs Fritz B.
auBerlich wie innerlich vollstandig in das patriarchalische System der Werks-
fuhrung hinein. Der Bochumer Verein war zwar eine Aktiengesellschaft, den-
noch war das Verhaltnis zwischen Arbeiterschaft und Werksleitung nicht etwa
ein unpersonliches, sondern im Gegenteil ein geradezu inniges zu nennen. Die
B.s waren derart mit dem Bochumer Verein verwachsen, daB sie vielfach als die
personlichen Besitzer betrachtet wurden. Sie waren Autoritaten fiir die General-
versammlung und den Verwaltungsrat, ebenso wie fiir Beamte und Arbeiter.
Auch das Verantwortungsgefuhl gegeniiber der Arbeiterschaft ubertrugsichvom
Vater auf den Sohn und schuf zwischen ihm und der Belegschaf t Beziehungen ,
wie sie zwischen dem personlichen Besitzer eines Werkes und seiner Arbeiter-
schaft nicht besser sein konnten. Dieses Gefiihl fiir die Zusammengehorigkeit
gait allgemein als althergebracht beim Bochumer Verein. Die alljahrlich statt-
findenden Jubilarfeste wurden als die Familienfeste des Werkes bezeichnet.
Fritz B. verstand es, bei diesen Gelegenheiten in geradezu meisterhafter Weise,
seine Zuhorer zu packen und ihnen klar zu machen, daB sie wie die Mitglieder
einer groBen Familie zusammengehorten und Treue um Treue zu iiben hatten.
Charakteristisch fiir seine Auffassung war es, als er gelegentlich einer Verwal-
tungsratssitzung dem Vorsitzenden Hermann Rosenberg anlaBlich seiner
25jahrigen Mitgliedschaft zum Verwaltungsrat das fiir 25jahrige treue Dienste
der Beamten und Arbeiter iibliche Geschenk, eine Uhr mit Widmung, ebenfalls
verlieh. Er sah in jedem, ob er am Tisch des Aufsichtsrats saB oder an der Dreh-
bank stand, in erster Linie den Mitarbeiter am gemeinsamen Werk. Den hohen,
moralischen und wirtschaftlichen Wert dieses Gefiihls der Zusammengehorig-
keit lernte man nach dem Tode von Fritz B. erst recht schatzen, als in den
Zeiten der Revolution manche ihrer Arbeit innerlich entfremdeten Beleg-
schaf ten ihren Werken dauernden schweren Schaden zufiigten. Der Bochumer
Verein mit seinen mehr als 2500 Jubilaren und meist seBhaften Arbeiter 11 in
der Belegschaft ist zwar von Erschutterungen dieser Art nicht ganz verschont
geblieben, aber der Verlauf dieser Vorgange war vergleichsweise giinstig zu
nennen.
Als Fritz B. 1895 der Nachfolger seines Vaters in der Leitung des Bochumer
Vereins wurde, standen Wirtschaft und Werk in voller Bliite. 1880 beschaftigte
das Werk 4000 Arbeiter, im Jahre 1895 waren es 8000. Unter seiner Fiihrung
dehnte es sich mehr und mehr aus. In der letzten Zeit seines Generalsekretariats,
als er bereits maBgeblichen EinfluB hatte, wurden die Aktien der Gesellschaft
fiir Stahlindustrie in Bochum angekauft. Mit gutem Blick hatte Fritz B. die
Zukunftsmoglichkeiten dieser Erwerbung fiir den Bochumer Verein erkannt.
Sie wurden allerdings erst nach seinem Tode mit der Verarbeitung und Ver-
feinerung des im Hauptwerk erzeugten Edelstahls ausgebaut. Heute sind diese
vortrefflichen Werkstatten ein Kernwerk der Deutschen Edelstahl A.G. Das
Hochofenwerk wurde um einen vierten Ofen vergroBert und, 1893, eine Gas-
kraftzentrale nebst einer NaBreinigungsanlage fiir Hochofengas gebaut, um
b 1917
dieses zur Gewinnung elektrischer Kraft nutzbar zu machen. Nach seiner 1895
erfolgten Emenniing zum Generaldirektor wurde auBer der bereits erwahnten
Waggonbauanstalt eine Brikettf abrik bei der Zeche Engelsburg gebaut und die
Hammerwerke, die mechanischen Werkstatten und die StahlguBformerei wur-
den vergroBert. Auch die Walzwerke wurden erneuert, desgleichen die Weichen-
bauanstalt und die Herzstiickwerkstatt. Die Erzbasis, die Louis B. durch den
Ankauf von Eisensteingruben im Siegerland, im Nassauischen und bei Bucke-
burg geschaffen hatte, wurde durch Neuerwerbungen in Lothringen erweitert.
191 1 wurden die Erzgruben Nartorpsfeld an der schwedischen Ostkiiste und
Intrangetsfeld in der Landschaft Dalekarlien hinzugekauft. Die Kohlenbasis,
seit 1886 vornehmlich bestehend aus der Magerkohle der Zeche Engelsburg,
wurde von Fr. B. 1900 durch den Erwerb der Fettkohlenzeche Carolinengliick
verstarkt und 1907 durch die im Horizont der Gas- und Gasflammkohlenpartie
abbauende Zeche Teutoburgia abermals verbreitert. Einige weniger gute
Zechen wurden dagegen 1904 abgestoBen.
Der Bochumer Verein war als Qualitatsstahlwerk bekannt und angesehen
in der weiten Welt. Fur Kundenwerbung wurden Ausgaben kaum gemacht.
Mit Stolz pflegte Fritz B. zu sagen: »Das haben wir nicht notig. « Nur bei Ge-
legenheit der Diisseldorfer Ausstellung 1902 wurde hiervon abgewichen und von
B. eine Ausstellungshalle errichtet, die berechtigtes Aufsehen erregte. An der
Vorbereitung und Durchfuhrung dieser Sonderausstellung des Werkes hat
Fritz B. mit dem groBten Eifer gearbeitet.
Seiner Beamtenschaft gegeniiber zeigte B. das groBte Wohlwollen. Er gab
gern und groBziigig, wo es verdient oder aus besonderen Griinden erforderlich
war. Freilich war er weniger geneigt, Anspriiche, die er nicht fiir berechtigt
hielt, anzuerkennen. Hierin, sowie in der Verteilung seiner Sympathie oder
Antipathie gegen Mitarbeiter war er schwer beweglich und unbeugsam, wie es
seinem Charakter entsprach. Sein personlicher Sinn fiir Uberlieferung wirkte
sich in einer Hochachtung vor dem Alten und Gewordenen aus. Als die tech-
nische Leitung indessen der Abneigung gegen notwendige Neuerungen und Ver-
besserungen weiten Spielraum lieB und die Selbstkosten des Werkes eine be-
drohliche Entwicklung nahmen, berief Fritz B., der gegen die hemmenden Ein-
fltisse einer zum Teil tiberalterten Beamtenschaft anzukampfen hatte, im Jahre
1906 einen neuen technischen Direktor, Felix Scharf vom Stahlwerk Osnabriick,
an den Bochumer Verein. In der Zusammenarbeit mit Scharf, der ein Stahl-
mann von Ruf war, zeigte sich die groBe Personlichkeit B.s im besten Licht. Er
vertrat die ganz ungewohnlich hohen Geldforderungen im Verwaltungsrat in
meisterhafter Weise, schnitt dadurch jeden Widerspruch ab und schuf so die
Moglichkeit zur technischen Erneuerung des Werkes, die Scharf und sein Mit-
arbeiter, der jetzigeGeneraldir. des Boch. Ver. Dr.-Ing. e. h. Walter Borbet unter
Fritz B.s Fuhrung beenden konnten. ImLaufe der folgenden Jahre wurde das
Hochof enwerk vollstandig modernisiert, die zweigeriistige SchienenstraBe durch
eine viergeriistige TriostraBe ersetzt, ein neues Siemens-Martin-Stahlwerk mit
einer Leistungsf ahigkeit von 30 000 t im Monat und eine Agglomerieranlage
zur Verhiittung von Feinerzen nach dem Dwight-Lloyd-Verfahren mit einem
Ausbringen von bis zu 2000 t taglich errichtet und schlieBlich, diese zu
Kriegszeiten, sehr groBe, mechanische Werkstatten in Angriff genommen. Ab-
gesehen von den letzteren war die technische Erneuerung des Werkes mit
Baare j
den vorstehend bezeichneten gewaltigen Neuanlagen und Umbauten vor
Beginn des Krieges abgeschlossen. Der erwartete giinstige EinfluB anf die Er-
zeugungskosten blieb nicht aus, insbesondere bei der neuen Stahlschmelze ;
das Werk vermochte sich ausschlieBlich auf das selbst erblasene Roheisen
und den im eigenen Betrieb entfaUenden einwandfreien Schrott zu stutzen.
Die Zusammenarbeit zwischen B. und Scharf ist jederzeit eine auBerst har-
monische gewesen.
B. muBte bei Kriegsbeginn zu seinem groBen Leidwesen sowohl wegen Un-
abkomrnlichkeit vom Werk als auch mit Riicksicht auf seine Gesundheit da von
Abstand nehmen, ins Feld zu ziehen. Sicherlich hatte es sonst keine groBere
Freude fiir ihn geben konnen, als mit seinen Husaren an den Feind zu kommen.
Mit um so groBerem Eif er widmete er sich nunmehr der Umstellung des Werkes
auf Kriegsbedarf, dessen Erzeugung alsbald gewaltige Zahlen aufwies.
Die Kriegsjahre wurden zugleich die letzten I,ebensjahre Fritz B.s. Seine ge-
schwachte Gesundheit war den besonderen Anforderungen, die auch in der
Heimat an die schaffenden Manner gestellt wurden, nicht mehr gewachsen, und
der bis zu allerletzt rastlos Tatige muBte im Marz 1917 nach Oeynhausen ge-
bracht werden, von wo er nicht mehr lebend zuriickkehren sollte.
Sein Charakterbild stand scharf umrissen vor seinen Mitarbeitern, sein Name
war ein Programm fiir den Bochumer Verein. Wenngleich Mitglied des Provin-
ziallandtages, des Bezirksausschusses in Arnsberg, des Bezirkseisenbahnrats
in Koln und der Handelskammer, so wohnte ihm doch eine starke Abneigung
gegen jedes offentliche Hervortreten inne, im Gegensatz zu seinem Vater, der
in den genannten Kollegien eine ungleich groBere Rolle gespielt hat. Jede
Tatigkeit, in der er die Moglichkeit einer Ablenkung vom Bochumer Verein
witterte, war ihm bedeutungslos. Kennzeichnend hierfiir ist die grundsatzliche
Ablehnung ihm angetragener Aufsichtsratsposten in anderen Gesellschaften,
zu deren Ubernahme ihn auch die Aussicht auf bedeutende Tantiemen nicht
zu bringen vermochte. Ebensowenig war er aus dem gleichen Grunde fiir den
Ankauf von Industrieaktien zu haben. Die Vorliebe fiir den bunten Rock war
und blieb die einzige Ausnahme, die er sich in dieser Beziehung gestatten zu
diirfen glaubte, und zwar um so mehr, als er mit diesem Dienst einer anderen
hohen Pflicht geniigen konnte. In seinen Entscheidungen war Fritz B. ruhig
und bestimmt. Er verlangte von denen, die Vortrag bei ihm hatten, peinlich
sorgfaltigste Vorbereitung, damit keine Zwischen- und Nachf ragen erforderlich
wurden. Seine Entscheidungen wurden ohne Ubereilung getroffen, waren aber
auch im allgemeinen unabanderlich. Es gab auf dem Bochumer Verein nichts,
was sich nicht seiner lebendigen Anteilnahme erfreut hatte. In der ersten Zeit
war ihm jede Neukonstruktion vorzulegen, in jeder technischen Beratung griff
er, so lange er sich daran beteiligen konnte, handelnd ein.
Neben dem Techniker darf aber auch der das Ganze iiberschauende Leiter
des Gesamtunternehmens, der Kaufmann und Finanzmann B., nicht iibersehen
werden. Er besaB einen vollkommenen Uberblick iiber die wirtschaftlichen Be-
dingungen, unter denen die westdeutsche Montanindustrie zu arbeiten hatte.
Seine Darlegungen aus AnlaB der Generalversammlungen erfreuten sich des-
halb der groBten Beachtung bei seinen Fachgenossen und bei der Borse. Im
personlichen wie im schriftlichen Verkehr fiir die Interessen des Werkes war B.
geradezu groB. Lange Eingaben an hochste Behorden diktierte er ohneStocken
8 1917
mit fabelhafter Sicherheit und legte dabei den Standpunkt des Bochumer
Vereins in den verwickeltsten Fragen klar. Auch als Finanzmann war Fritz B.
bedeutend. Jedem Schwindel abhold richtete er sein Bestreben stets darauf,
das Unternehmen leistungsfahig zu erhalten und nicht mehr Dividende aus-
zuschiitten, als nach sorgfaltiger Erwagung aller Verhaltnisse unter gebiihren-
der Beriicksichtigung veranderlicher und zweifelhafter Werte mit gutem Ge-
wissen verantwortet werden konnte.
In der Erinnerung der jetzt Lebenden erscheint Fritz B. als ein von der steten
Sonne eines wahrhaft heiteren Gemtits uberglanzter Charakter, als einer der
besten und witzigsten Gesellschafter, die innerhalb des ernsten Arbeitskreises
im Ruhrbezirk je an hervorragender Stelle gestanden haben. Stammt doch z. B.
von ihm die zunachst nur scherzhaft gemeinte Bezeichnung »Wumba« fur das
Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt. Er hatte, als er diesen Vorschlag ge-
legentlich einer Besprechung, einer momentanen Eingebung folgend, machte,
nicht entfernt daran gedacht, daB dieser Negername wirklich gewahlt werden
konnte. Der Bochumer Verein, heute ein Standardwerk der Vereinigten Stahl-
werke A.G. sieht in ihm den Mann, der das Werk seines Vaters zu stolzer Hohe
fortfuhrte, seine besten Uberlieferungen befestigte, der es schlieBlich im Kriege
zu gewaltiger Leistungsfahigkeit steigerte und dessen Name mit dem Werk
fur alle Zeiten eng verbunden bleiben wird. Unter den zahlreichen Ehrungen,
die ihm zuteil geworden sind, ist die hochste fur den Ingenieur erreichbare, die
Verleihung der Wiirde eines Doktor-Ingenieur ehrenhalber an der Technischen
Hochschule in Aachen besonders zu erwahnen. Aber B. war ein Mann, der durch
AuBerlichkeiten hindurch den Kern der Dinge zu schauen vermochte. Sein
Leben war Erfiillung des Dichterwortes seines Freundes Emil Rittershaus,
eines Wortes, mit dem er so manche Werkstattfahne geweiht hat, und das ihm
auch in das Grab nachgerufen wurde:
Was mit Kranzen kront die Erde,
Was mit Ehren lohnt die Welt,
Ist nur eine Stundenblume,
Die vor einem Hauch zerfallt.
Doch die Pflicht, die treuerfiillte,
Die die Menge nimmer preist,
Einst an deinem Sterbebette
Steht sie als dein guter Geist.
Bochum. Erhard v. Mutius.
Back, Otto, Burgermeister von StraBburg i. E., Dr. med. h. c, D. theol. h. c.%
* 30. Okt. 1834 in Kirchberg i. Hunsriick, f 15. Januar 1917 in StraBburg i. E. —
Otto B. wurde geboren als Sohn des evangelischen Pfarrers in Kirchberg,
spateren weithin bekannten Superintendenten und D. theol. in Castellaun. Er
besuchte zunachst die Volksschule in letzterem Ort, dann die Gymnasien in
Trarbach und Koblenz, wo er im Herbst 1854 das Abiturientenexamen bestand.
Er studierte auf den UniversitatenErlangen, wo er in das Korps Onoldia ein-
trat, Berlin und Bonn zuerst Theologie, dann Rechtswissenschaft, wurde 1858
Auskultator, 1859 Referendar. Als solcher wurde er zum besoldeten Bei-
geordneten der Stadt Barmen gewahlt, in welcher Stellung er bis 1866 ver-
Baare. Back g
blieb. 1864 hatte er sich mit Auguste Timme aus Koblenz verheiratet, welche
Ehe aber 1868 durch deren Tod gelost wurde. 1866 bestand er die Priifung als
Regierungsassessor und wurde 1867, zuerst kommissarisch, zum Landrat des
Kreises Simmern im Hunsriick, seiner alten Heimat, ernannt. 1870 heiratete
er in zweiter Ehe Luise Huesgen aus Traben, die ihm zu der Tochter aus
erster Ehe drei weitere Tochter und drei Sonne schenkte. Der Krieg 1870/71
fuhrte den Premierleutnant der Landwehr in das Kriegsgebiet nach ElsaB-
Lothringen. In dem neugewonnenen Reichslande fand er seinen weiteren
Lebensberuf , der ihn zu den hochsten Ehrenstellen fuhren sollte. Zunachst als
Unterprafekt in Metz und Diedenhofen tatig, wurde er 1872 Polizeidirektor in
StraBburg und 1876, als sich ein Weiterarbeiten der Regierung mit dem bis-
herigen Biirgermeister und Gemeinderat dieser Stadt als unmoglich envies,
mit der Verwaltung der Stelle des Biirgermeisters der Stadt StraBburg be-
traut. 1880 wurde er Bezirksprasident des UnterelsaB, 1887 Unterstaatssekretar
und Leiter der Abteilung fur Finanzen und Domanen. Schon Ende dieses
Jahres kehrte er aber, in den Gemeinderat der Stadt StraBburg gewahlt, unter
Zurdispositionsstellung in seinem Staatsamt auf das Rathaus zuriick. Er wurde
als erster Altdeutscher in den Bezirkstag des UnterelsaB und 1888 in den
LandesausschuB gewahlt, nachdem er schon vorher zum Mitglied des Staats-
rates ernannt worden war. In Verfolg der Uberlieferungen des Elternhauses
lieB er sich 1892 in das Presbyterium der lutherischen Gemeinde Jung-St.-Peter
und einige Mbnate spater in das Oberkonsistorium der Kirche Augsburgischer
Konfession wahlen. 1905 erhielt er den Charakter als Wirklicher Geheimer Rat
mit dem Pradikate Exzellenz, eine fiir einen Biirgermeister seltene Auszeich-
nung. Im Herbst 1906 schied er aus diesem seinem Amte aus, ubernahrn aber
trotz des hohen Alters von 76 Jahren 1910 noch die Stellung als Kurator der
Kaiser- Wilhelm-Universitat in StraBburg, in welcher er bis zu seinem Tode
blieb. 1911 wurde er vom Kaiser zum Mitglied der I. Kammer des auf Grund
der neuen Verfassung ins Leben gerufenen Landtages ernannt, welche ihn zu
ihrem ersten Prasidenten wahlte. Am 15. Januar 1917 starb er im Alter von
82 Jahren.
Von mehr wie mittlerer GroBe, breit gebaut war B. auBerlich eine sehr statt-
liche, mannliche Erscheinung. Bei dem geistigen Menschen trat vor allem seine
groBe, mit scharfem Verstande, schneller Auffassungsgabe und unerschiitter-
licher Ruhe gepaarte Klugheit hervor. Sie war die Grundlage fiir ein seltenes
MaB von Menschenkenntnis und Fahigkeit der Menschenbehandlung und einen
unfehlbaren Blick fiir die Wirklichkeiten des Lebens. Selbst immer klar und
griindlich, verlangte er die gleichen Eigenschaften von seinen Mitarbeitern.
Weil er in den Kern der Dinge eindrang, war es ihm leicht, die Hauptsache von
Nebendingen zu unterscheiden. Was er auch angriff, immer war er groBziigig.
Seiner Tatkraft gleich kam seine Geduld, mit der er die Frucht reifen lieB.
Jahrelang konnte er einen Plan, und wenn es sein Lieblingsplan war, zuriick-
stellen, bis er ihn plotzlich wieder hervorholte und zur Wirklichkeit werden
lieB. Monatelang lieB er schweigend die scharfsten An griff e iiber sich ergehen,
dann donnerte Jupiter und die Gegner waren zerschmettert. Fest im Blut saBen
ihm die Uberlieferungen seiner rheinischen Heimat von Freiheit und Unab-
hangigkeit. Nur vor wirklichem WTissen und Konnen hatte er Achtung, nicht
vor ScheingroBen. Aber auch anderen Menschen erkannte er das Recht auf
10 1917
Freisein von innerem und auBerem Zwange zu. Unermudlich fleiBig und
pflichttreu im alten preuBischen Sinne, kannte er, wenn die Arbeit drangte,
keine Dienststunden, ja, wenn es nicht anders ging, auch einmal keinen Sonn-
tag, so regelmaBig er sonst den Gottesdienst besuchte. Den Mann der festen.
entschlossenen Tat, der, wo die Verhaltnisse es forderten, sehr riicksichtslos
sein konnte, zierte dabei eine aus dem Herzen kommende Milde und ein warmes
Wohlwollen gegeniiber alien Menschen, mit denen das Leben ihn in dienstliche
oder personliche Beriihrung brachte. Wohl niemand, der ihm irgendeine Not
geklagt hatte, verlieB ihn ungetrostet. Sein Scherzname » Vater der Stadt* war
bei ihm ein wirklicher Ehrenname. Wie befreiend wirkte in schwierigen Lagen
oft sein nie versagender rheinischer Humor, wie erhebend seine f reudige Lebens-
bejahung! Zur Vervollstandigung seines Lebensbildes gehort noch seine ein-
fache, schlicht-burgerliche Iyebenshaltung, die ihn aber nicht hinderte, der
heiterste Gesellschafter zu sein, sein musterhaftes Familienleben und sein
ernstes, bewuJ3t evangelisches Christentum.
Mit so hohen Gaben des Geistes und des Charakters muBte B. in alien Stel-
lungen, zu denen er berufen war, Hervorragendes leisten. Lange hat man den
I,andrat von Simmern in seinem Kreise in gutem Andenken gehalten ; wer ihn
in seiner Tatigkeit als Bezirksprasident in StraBburg beobachten oder gar unter
seiner Leitung arbeiten durfte, bekam schnell den Eindruck ungewohnlicher
Tuchtigkeit. ElsaB-lothringischer Finanzminister war er zu kurz, um seine be-
sondere Begabung fur dieses Amt entf alten zu konnen. Sein Lebenswerk, mit
dem sein Name unausloschlich verbunden ist, war die Entwicklung von StraB-
burg zu dem Muster einer modernen deutschen GroBstadt. Sie zerfallt nicht nur
auBerlich in die beiden Perioden 1873 — 1880 und 1887 — 1906. Wahrend von
1873 — 1880 die Beseitigung der Mangel der franzosischen Verwaltung, die Ein-
deutschung des ganzen Gemeinwesens im Vordergrund stand und nur die ersten
Grundlagen fiir die kiinftige Entwicklung zur modernen GroBstadt gelegt wer-
den konnten, geht es von 1887 ab auf alien Gebieten der Verwaltung mit
schnellen Schritten vorwarts. Hierbei ist es von groBer Bedeutung, daB B. in
der ersten Periode nur von der Regierung bestellter Biirgermeisterei-Verwalter
war, wahrend von 1887 an ein einsichtiger, arbeitsfreudiger Gemeinderat dem
ordnungsmaBig gewahlten Biirgermeister einen Teil der Verantwortung ab-
nahm. Die Zeit 1873 — 1880 hat B. selbst in einem klar und eindringlich ge-
schriebenen Buch »Aus StraBburgs jiingster Vergangenheit« geschildert. Er
behandelt zunachst die politische Lage, die 1873 zur Amtsenthebung des
deutschfeindlichen Maires Lauth fiihrte, und geht dann auf die Zustande ein,
die er in StraBburg als einer nickstandigen franzosischen Departementalhaupt-
stadt von 85000 Einwohnern vorfand. Die erste Arbeit war die Klarung der
stadtischen Finanzlage. B. bewaltigte sie meisterhaft. Es gait die altiiber-
lieferten Verhaltnisse (eine Haupteinnahmequelle war und blieb eine Ver-
brauchsabgabe auf eine groBe Zahl unentbehrlicher Lebensbediirfnisse, das
Oktroi) mit den Anforderungen der Neuzeit (darunter Bewilligung auskomm-
licher Gehalter an die Beamten) in Einklang zu bringen. Das gelang damals und
in der Folgezeit trotz ungewohnlicher Schwierigkeiten so restlos, daB StraBburg
von jeder Finanzkrise verschont blieb. Einer volligen Umgestaltung, vor allem
auch in bezug auf die Raumlichkeiten bedurfte das deutschen Anforderungen
nicht geniigende Unterrichtswesen (kein Schulzwang!) von den Volksschulen
Back II
bis zum Gymnasium und den hoheren Madchenschulen. Viel Miihe und Kopf-
zerbrechen verursachte die Gelandebeschaffung fiir die Neubauten der 1872 ge-
griindeten Kaiser- Wilhelm-Universitat. Klug und zah wuBte B. schlieBlich alle
Hindernisse, die sich einer die Universitats- und stadtischen Interessen zugleich
entsprechenden Losung entgegensetzten, zu iiberwinden. Der Verbesserung der
teilweise iiblen Gesundheitsverhaltnisse diente die tatkraftige Durchfiihrung
der langst geplanten mustergiiltigen Wasserleitung, die riickstandigen Ver-
kehrsverhaltnisse wurden durch die Anlage eines weitverzweigten StraBenbahn-
netzes gefordert. Die Grundlage fiir die kiinftige Entwicklung zur GroBstadt
brachte die mit einer Vorschiebung der Festungswalle verbundene Stadt-
erweiterung. Ihr als der wichtigsten und nicht nur von der altelsassischen Be-
volkerung angefochtensten Aufgabe wandte B. das Schwergewicht seiner un-
erschopflichen Arbeitskraft zu. Sein genialer Weitblick, sein Wagemut, seine
Fahigkeit, auch scheinbar aussichtslose Verhandlungen zu dem gewollten Ende
zu bringen, bewahrten sich hier glanzend. Nicht weniger wie 17 Millionen Mark
muBte die Stadt dem Militarfiskus fiir das iiberlassene Gelande in GroBe von
384 ha zahlen, hierzu kamen viele Millionen fiir dessen AufschlieBung. Da war
es ein groBer Erfolg, daB 1906, als B. das Rathaus verlieB, das ganze Unter-
nehmen mit einem Plus von iiber 1 Million fiir die Stadt abgeschlossen werden
konnte.
Auch in der zweiten Amtsperiode (1887 — 1906) blieb die Durchfiihrung des
Stadterweiterungsunternehmens eine der Hauptaufgaben von B. StraBburg mit
seinem herrlichen Miinster war immer eine interessante, altertumliche Stadt
gewesen, jetzt erst wurde es wirklich die »wunderschone«, von der das Lied
singt. Die Neustadt durchzogen groBe, breite, vielfach mit Baumanlagen und
Vorgarten gezierte und in Schmuckplatze miindende StraBen. Von Jahr zu
Jahr wurden zahlreicher die meist prunkvollen offentlichen Gebaude, wie die
Universitatsbauten, der Kaiserpalast, die Ministerien, das Landtagsgebaude,
die Landesbibliothek, das Landgerichtsgebaude, die kath. Jung-St.-Peter-
kirche, die Synagoge, der Bahnhof, die neuen Kasernen. Ein ganz besonders
glucklicher Wurf von B. war es, daB er es durchsetzte, daB das an den alten
wundervollen stadtischen Garten, die Orangerie, angrenzende, 1895 fiir eine
Ausstellung aufgeschlossene Gelande in diese einbezogen wurde, womit
StraBburg einen der schonsten offentlichen Parks unter den deutschen GroB-
stadten erhielt. B. war es auch beschieden, die fiir die Zukunftsentwicklung
StraBburgs entscheidende Frage : die Schaf fung eines alien Anf orjierungen ge-
niigenden Rheinhafens im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhundert zur Losung
zu bringen. Erst legte er das ganze Gewicht seines Einflusses in die Wagschale
zugunsten einer Rheinregulierung im Gegensatz zu dem von vielen Seiten ge-
forderten Bau eines Kanals. Dann schuf er auf der Sporeninsel eine muster-
gultige, erweiterungsfahige Anlage, deren Entwicklung alien Erwartungen voll-
auf entsprach. Als ein Seitenstiick zu der in die erste Verwaltungsperiode fallen-
den Wasserleitung erscheint in der zweiten die erst heiB umstrittene, dann aber
von alien Einsichtigen gebilligte Durchfiihrung der Schwemmkanalisation fiir
das ganze Stadtgebiet. Aber auch in die unerfreulichen baulichen Verhaltnisse
der in mittelalterlicher Enge gebauten Altstadt griff B. zunachst durch Ver-
besserungsarbeit an Pflaster, Rinnen, Biirgersteigen, dann durch Nieder-
legung besonders ungesunder Hauser und endlich durch einen groBziigigen
12 1917
StraBendurchbruch mitten durch die iibelsten Viertel tatkraftig ein. Charakte-
ristisch fur ihn ist sein Verhalten gegeniiber der immer dringlicher werdenden
Entwicklung StraBburgs auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Hier war fast alles
riickstandig: Armenwesen, Krankenpflege, Wohlfahrtspflege, Versorgungs-
kassen usw., alles war im wesentlichen so geblieben, wie es auf den von der
f ranzosischen Revolution geschaffenen Grundlagen seinerzeit eingerichtet war.
Nun kam die deutsche sozialpolitische Gesetzgebung der achtziger Jahre, die
eingewanderten Altdeutschen verglichen die StraBburger Einrichtungen mit
denen der alten Heimat und verlangten Reformen. Hier nach modernen Grund-
satzen entschieden selbst durchzugreifen, hinderte B. die aus der rheinischen
Heimat mitgebrachten Anschauungen eines Nationalliberalen Bennigsenscher
Farbung, auch wuBte er wie zah und aus innerstem Herzen kommend gerade
hier der Widerstand der AltstraBburger sein wiirde. So schuf er sich jiingere
Beruf sbeigeordnete — auch eine einschneidende Neuerung gegeniiber den
f ruheren Ehrenbeigeordneten — und iibertrug ihnen die ihm nicht in alien
Stiicken liegenden Aufgaben, ihnen hierbei in solchem Umfange freie Hand
lassend, daB 1906 bei seinem Abgang die Armen-, Kranken-, Wohlfahrts- und
Wohnungspflege und die ganze iibrige Sozialpolitik voll auf die Hohe der
iibrigen deutschen Stadte stand und unter seinem Nachfolger zu Muster-
einrichtungen ausgebaut werden konnte.
Selbst auf dem B. urspriinglich ferner liegenden Gebiete der Kunst wurde er
ein Bahnbrecher. Seiner Tatkraft ist die Griindung des bald eine beachtenswerte
Bedeutung erlangenden Kunstmuseums zu danken, eine bald groBen Ruf er-
langende Kunstgewerbeschule und ein Kunstgewerbemuseum rief er ins Leben,
das Stadtische Theater wurde nach tJberwindung von allerlei Hemmungen all-
mahlich zu einer der ersten Biihnen Siiddeutschlands entwickelt, fur das schon
zu f ranzosischer Zeit Erhebliches leistende Musikkonservatorium wurde schlieB-
lich eine so erstklassige Kraft, wie es Hans Pfitzner war, gewonnen.
Was B. angriff, geriet ihm wohl. StraBburg erreichte unter seiner Verwaltung
nicht nur 185000 Einwohner, sondern war eine in jeder Richtung auf der Hohe
stehende moderne GroBstadt geworden.
Ein eigenartiges Abklingen eines tatenfrohen Lebens war es, daB der 76-
jahrige noch die Stellung des Kurators der Kaiser- Wilhelm-Universitat iiber-
nahm. Die Universitat StraBburg hatte vorher schon seine Wirksamkeit als
Biirgermeister durch den Ehrendoktor der Medizin anerkannt. Nun lernte sie
ihn in seinem neuen Amte schnell hochschatzen und verehren; auch den Uni-
versitatskreisen wurde er bald Vertrauensperson.
Ein Wort muB noch dem einfluBreichen Politiker gewidmet werden. Seine
Klugheit, seine Besonnenheit, seine Milde lieBen ihn auch in den politischen
Korperschaften ein ungewohnliches Ansehen gewinnen, von dem er aber nur
den vorsichtigsten Gebrauch machte. Er war einer der entschiedensten Ver-
fechter der Verdeutschungspolitik auf lange Sicht, wollte die elsassische Eigen-
art geschont wissen, und nicht zum Deutschtum zwingen, sondern iiberzeugen
und gewinnen. Daher genoB er iiberall Vertrauen bis in die Kreise der elsassi-
schen Bevolkerung hinein, die sonst allem Deutschen abhold waren. Dieses
Vertrauen fand 191 1 seinen bezeichnenden Ausdruck in der schon erwahnten
Wahl zum Prasidenten der Ersten Kammer des Landtages.
Als Kirchenpolitiker ist B. wenig hervorgetreten. Im Oberkonsistorium
Back. Bassermann 1 3
schloB er sich der Gruppe der Rechten an, war aber auch dort der Mann der
Versohnlichkeit und des Ausgleiches. Die evangelisch-theologische Fakultat
der Universitat StraBburg anerkannte B.s Tatigkeit auf kirchlichem Gebiet
durch Verleihung des Ehrendoktors der Theologie.
Ob man B. in StraBburg je das verdiente Standbild errichten oder wenigstens
einen der hervorragendsten Platze oder StraBen nach ihm benennen wird ! Er
konnte jedenfalls im Riickblick auf das, was er aus StraBburg gemacht hatte,
sagen: »Exegi monumentum aere perennius.«
Koblenz. Hans Freiherr v. d. Goltz.
Bassermann, Ernst, Rechtsanwalt und Stadtrat in Mannheim, Reichstags-
abgeordneter fiir die Wahlkreise: 1893/98 Mannheim, 1898/1903 Jena, 1904/06
Frankfurt a. d. O., 1907/11 Rothenburg-Hoyerswerda, 1912/17 Saarbriicken,
* 26. Juli 1854 m Wolfach i. B., | 24. Juli 1917 in Baden-Baden, entstammte
einer alteingesessenen badischen Familie, aus der sich im 19. Jahrhundert eine
ganze Anzahl ihrer Mitglieder als Staatsbeamte, Parlamentarier und Industrielle
einen Namen machte. Er wurde geboren als Sohn des Referendars Anton
Bassermann (1821 — 1897) und seiner Frau Marie, geb. Eisenlohr, die ebenfalls
einer weitverbreiteten badischen Familie angehorte. Die schnell aufsteigende
Laufbahn des Vaters bis zum Landgerichtsprasidenten in Mannheim brachte
Ernst B. haufigen Schul- und Wohnsitzwechsel. Er besuchte die Gymnasien
in Rastatt, Offenburg und Mannheim. Als Student der Rechte war er 1872
bis 1874 bei den Korps der Schwaben in Heidelberg und der Lausitzer in
Leipzig aktiv. Im Winter 1874/75 studierte er in Berlin, wo er im Hause Fried-
rich Hammachers in die erste personliche Beruhrung mit nationalliberalen
Parlamentariern kam, dann ging er nach StraBburg und Freiburg und bestand
1876 das erste Staatsexamen, 1880 das zweite, nachdem er 1879 in Kolmar
i. E. beim 14. Dragoner regiment gedient hatte. Er lieB sich als Anwalt in
Mannheim nieder und heiratete 1881 Julia Ladenburg, die Tochter des In-
habers des angesehenen Bankhauses Ladenburg. Fast gleichzeitig begann er,
sich am offentlichen Leben zu beteiligen. Etwa seit 1884, dem Jahre der Ver-
kiindung des Heidelberger Programms, war er lebhaft agitatorisch fiir die
nationalliberale Partei tatig und wurde 1887 in den Stadtrat von Mannheim
gewahlt, dem er bis zu seinem Tode angehorte. 1893 trat er in den Zentral-
vorstand der Nationalliberalen Partei ein. Nach der Reichstagsauflosung im
Mai dieses Jahres wurde er als Reichstagskandidat fiir den Wahlkreis seiner
Heimatstadt aufgestellt und gewann Mannheim, das seit 1890 sozialdemokra-
tisch vertreten war, noch einmal fiir die Nationalliberale Partei zuriick.
Vom Zeitpunkt seines Eintritts in den Reichstag bis in die letzten Wochen
seines Lebens gab es keine groBere politische Aktion im Reichstag, bei deren
Durchfiihrung B. nicht im Vordergrund stand. Schon in der Legislaturperiode
1893 — 1898 wurde er Vorsitzender bzw. Berichterstatter wichtiger Kom-
missionen, fiir die ihn seine Sachkenntnis besonders geeignet erscheinen lieB,
wie der Schiffahrtskommission und der Kom mission fiir das Handelsgesetz-
buch. 1897 wurde er Schriftfuhrer und, als Rudolf v. Bennigsen 1898 aus
dem Reichstag ausschied, Fraktionsvorsitzender. Stellungnahme gegen Um-
sturz- und Zuchthausvorlage, d. h. Ablehnung aller Ausnahmegesetze und
14 l9*7
Eintreten fiir das Koalitionsrecht, fuhrende Mitarbeit ani KompromiB des
Zolltarifs von 1902, an alien Heeres- und Flottenvorlagen von 1893 bis 1913,
die starkste Stiitze Bulowscher Blockpolitik wie der Bulowschen Kanzlerschaft
iiberhaupt kennzeichnen seine Tatigkeit bis Kriegsausbruch.
Sein Anwaltbureau bestand mit wechselnden Partnern bis zu seinem Tode
fort, und die tJbernahme der juristischen Beratung des Bankhauses seines
Schwiegervaters, das alsbald als »Siiddeutsche Diskontogesellschaft« im Kon-
zern der Diskontogesellschaft aufging, hielt ihn mit dem praktischen Leben,
insbesondere mit der deutschen Wirtschaft in Verbindimg. Er war Aufsichtsrat
in fast anderthalb Dutzend Aktiengesellschaften, die groBtenteils dem Bank-
konzern nahestanden.
Sechzigjahrig zog er am 12. August 1914 als Rittmeister und Kommandeur
einer Munitionskolonnenabteilung ins Feld. Er machte den Franktireurkrieg
in Belgien und den schweren Herbstfeldzug in Polen mit, oft 8 bis 12 Stunden
im Sattel und nachts biwakierend. Im September wurde er zum Major und
Fiihrer einer Gefechtstaffel befordert und Ende Oktober zum Adjutanten des
Militargouverneurs von Antwerpen ernannt. Es litt ihn nicht lange auf diesem
relativ ruhigen Posten. Er sah mit wachsender Sorge, daB die verhaltnismaBig
giinstige politische Lage nicht ausgenutzt wurde. Gerade in Belgien trat ihm
die Unzulanglichkeit der deutschen Diplomatic krafl vor Augen. Er horte, wie
er an Stresemann schrieb, jeden Belgier Bethmanns Worte vom Fetzen Papier
und der Anerkenntnis des Neutralitatsbruchs im Munde fuhren und bezweifelte,
daB Bethmann einen festen Zukunftsplan habe. Er wiinschte, dem Zentrum
naher zu sein, um sich mehr »um die Zukunft kummern zu konnen«.
Im Februar 191 5 kehrte er nach Deutschland zuriick, war kurze Zeit fiir die
Einrichtung einer Zentralstelle zur Beschaffung von Metallen in Lodz tatig
und wurde am 18. Juli 19 15 als Richter zum Oberkriegsgericht des Gardekorps
in Berlin kommandiert, das zweimal wochentlich tagte. Er konnte nunmehr
seinen politischen EinfluB wieder geltend machen, soweit dies fiir einen Partei-
fuhrer in den ersten Jahren des Weltkriegs in Deutschland moglich war.
Bald zeigte sich, daB Bassermanns Gesundheit, der er schon durch den Feld-
zug das AuBerste zugemutet hatte, den politischen Aufregungen dieser Zeit
nicht mehr gewachsen war. Sein Herzleiden, das 1905 zuerst ernstlicher auf trat,
machte sich in zunehmendem MaBe bemerkbar. Trotz mehrfacher schwerer An-
falle hielt er in Berlin aus und nahm auch an zwei Reisen von Parlamentariern
nach der Tiirkei und Bulgarien teil. Im Februar 1917 nahmen B.s Herzbeschwer-
den so zu, daB er die parlamentarische Tatigkeit aufgeben muBte. Vergeblich
suchte er zunachst in Mannheim, dann in Kissingen und Baden-Baden Heilung.
Am 24. Juli starb er.
B. hat einmal 1904, als Hammacher starb, von»dieser verworrenen Zeit der
Garung « gesprochen, in der jeder Verlust politischer Krafte besonders schwer
wiege. Im Grunde ist das Deutsche Reich, dessen politische Einheit so viel
j linger ist als die der westeuropaischen GroBmachte, bis heute nicht aus der
Garung herausgekommen. Und so war auch B.s Leben, in dem hinter der Politik
alles andere zuriicktrat, ein solches der Garung und Unruhe. Es ist bezeichnend,
daB er in seiner ganzen politischen Laufbahn nicht zweimal den gleichen Wahl-
kreis vertrat. Im Kampf des Liberalismus mit der Sozialdemokratie um die
Seele des Arbeiters wurde er stets in den gefahrdetsten Wahlkreisen aufgestellt,
Bassennann 15
weil man hoffte, durch seinen Namen und seine Personlichkeit die Massen dem
Liberalismus zu erhalten bzw. zu gewinnen. Er selbst hat es im Gesprach mit
Stresemann als den Hohepunkt seines politischen Wirkens bezeichnet, als
bei seiner letzten Reichstagskandidatur in Saarbriicken ein Arbeitervertreter
nach dem anderen das Vertrauen der Arbeiterschaft zu ihm betont habe. Die
unruhigepolitische Fuhrung Wilhelms II. brachte wechselnd innen- und auBen-
politische Krisen und damit gleichzeitig der Volksvertretung ein ganz anderes
MaB wenn auch noch nicht staatsrechtlicher, so doch moralischer Verantwor-
tung als zu Zeiten Bismarcks. Weit mehr als friiher muBten ihre Fuhrer vor
und hinter den Kulissen dafiir sorgen — um mit dem romischen Senat zu
reden — , ne quid detrimenti res publica capiat. Die standige Unruhe, schon
auBerlich durch das Hin und Her zwischen Mannheim und Berlin wahrend der
Reichstagssessionen und durch die vielen Reisen zu Aufsichtsratssitzungen
wie politischen Versammlungen gekennzeichnet, die gleichzeitige Beschaftigung
mit den verschiedensten Problemen entsprach aber B.s innerstem Wesen. Bei
langerem Aufenthalt an einem Ort fuhlte er sich nicht wohl.
Seine Stellung als Parteifuhrer und das groBe Vertrauen, das sich in ihrer
tibertragung kundgab, verdankte B. in erster Linie seinem Geschick, tief-
gehende Gegensatze auszugleichen und gegeniiber dem Trennenden das Eini-
gende in den Vordergrund zu riicken. Diese Begabung war besonders notig fur
den Fuhrer einer Mittelpartei wie der nationalliberalen, deren rechter Fliigel
sich gern konservative, der linke demokratische Forderungen zu eigen machte.
Eine eigentlich schopferische Natur war B. nicht. Er hatte ein gutes Verstand-
nis fiir die auBenpolitischen Machtbelange der damaligen Zeit und erkannte
die Gefahren einer einseitig eine Klasse oder Konfession bekampfenden Innen-
politik, trotzdem sich ein erheblicher Teil seiner politischen Arbeit gegen
Zentrum und Sozialdemokratie richten muBte. Aber seinen Briefen und Reden
ist nicht der weite Blick des Vorgangers Bennigsen und des Nachfolgers Strese-
mann in der Parteifuhrung eigen. Sie spiegeln die Auffassungen des Tages
wider, und er suchte der Schwierigkeiten mit den Mitteln des Tages Herr zu
werden. Von politischen Personlichkeiten iibte Fiirst Biilow erheblichen Ein-
fluB auf ihn aus. Aus seiner Korrespondenz mit diesem ist klar ersichtlich,
daB Bulow nach seinem Abgang durch B. seine Politik im Reichstag zu
verteidigen suchte. Auch Tirpitz zog B. in den Bann seiner starken Per-
sonlichkeit.
B,s Wirken als Parteifuhrer laBt sich vielleicht in drei Abschnitte teilen:
Herstellung der Einheit in der Partei, Unterstutzung der Kanzlerschaft Biilow,
Bekampfung der Kanzlerschaft Bethmann. Noch bei den beiden gegen die
Sozialdemokratie gerichteten Gesetzentwiirfen (Umsturz- und Zuchthausvor-
lage), denen die Mehrheit der Partei mit B. an der Spitze ablehnend gegeniiber-
stand, dissentierte ein erheblicher Teil der Fraktion und unterstutzte sogar die
Gegenpartei. B. selbst wurde als siiddeutscher Demokrat verschrieen, auch
Bennigsen tadelte seine Haltung. Bei den Abstimmungen iiber den Zolltarif,
der die Grundlage der deutschen Wirtschaftspolitik bis zum Kriegsausbruch
wurde, stimmte die Fraktion im Jahre 1902 mit Ausnahme eines Einzelgangers
geschlossen fiir die von B. propagierte mittlere Linie, auf der der KompromiB
der Reichstagsmehrheit zustande kam. Zwei Jahrzehnte friiher war es be-
kanntlich gerade die Meinungsverschiedenheit in den wirtschaftspolitischen
i6 1917
Fragen gewesen, die der Partei ihre ausschlaggebende Stellung im Reichstag
gekostet hatte. Freilich ist zu beachten, dafi die Fiihrung einer Partei nach
1890 leichter war als zu den Zeiten Bismarcks, der durch sein riicksichtsloses
Gegeneinanderausspielen der Parteien gerade die ihm am nachsten stehenden
immer wieder vor schwere innere Konflikte stellte.
Die wichtigste Epoche fur den Iyiberalismus zu B.s Zeiten waren wohl die
Jahre der Blockpolitik 1907 bis 1909. Durch die Zuriickdrangung der sozial-
demokratischen Vertretung im Reichstag war die Nationalliberale Partei noch
einmal in die Lage ausschlaggebender Mitwirkung im Reichstag ohne Zentrums-
hilfe gelangt. Die »konservativ-liberale Paarung«, die den linken Freisinn ein-
schlieBen muBte, war nur moglich, wenn die Nationalliberalen das Bindeglied
bildeten. Ob B. an der Vorbereitung dieser Wendung Biilowscher Politik be-
teiligt war, laBt sich nach dem mir vorliegenden Material nicht feststellen. Der
Erfolgsmoglichkeit soil er zunachst skeptisch gegeniibergestanden haben.
Die Nachfolge des Staatssekretars des Reichsjustizamts Nieberding lehnte er
1907 ab als seinem Naturell nicht zusagend: er konne keinen Posten iiber-
nehmen, bei dem er um Urlaub einkommen miisse, wenn er langer als drei Tage
fortbliebe. Das Reichsvereinsgesetz, fur das die Nationalliberale Partei schon
1 87 1 einen Entwurf eingebracht hatte, und die Novelle zum Borsensteuergesetz
brachten dann aber unter intensiver Mitarbeit B.s die Verwirklichung alter
liberaler Forderungen. Die von Lasker schon bald nach Griindung der Partei
erstrebte Zusammenarbeit mit dem Linksliberalismus wurde durch die poli-
tische Konstellation ebenfalls Tatsache. Der von linker Seite angeregten Ver-
schmelzung der liberalen Parteien zu einer liberalen Gruppe scheint B. nicht
nachgegangen zu sein.
Auch den Stimmen, die aus AnlaB der unvorsichtigen Veroffentlichung des
kaiserlichen Interviews im » Daily Telegraph « im Herbst 1908 verantwortliche
Reichsministerien verlangten, der alte Programmpunkt der Partei seit 1867,
gab B. keine Folge. Er hat in dieser Zeit offenbar gewiinscht, die erschutterte
Stellung des Fiirsten Biilow nicht noch mehr zu erschweren, und in diesem
Sinn ist auch die Rede zu beurteilen, die B. am 10. November 1908 im Reichs-
tag gegen das personliche Regiment hielt und die er als die schwerste seines
I,ebens bezeichnete. Er hatte seine Interpellation dem Reichskanzler bereits
am 3. November angekiindigt. Die Daily-Telegraph- Affare ist dann doch die
Ursache des fruhen Endes der Blockpolitik geworden. AuBerlich war es aller-
dings die Reichsfinanzreform, das Abschwenken der Konservativen, die dem
Reich keine direkten Steuern lassen, d. h. die Reichsgewalt nicht starken woll-
ten und die vom Zentrum gebotene, ihnen genehmere Losung fur die Auf-
bringung der von der Regierung geforderten 500 Millionen Mark annahmen.
Auch Heydeb rands Wort, »eine liberale Ara, die von konservativen Kraften
gestutzt war, hat die Welt noch nicht gesehen«, gibt sicher einen der Griinde
fiir das Auseinanderfallen des Blocks an. Entscheidend war aber doch, daB
Biilow infolge der Vorgange vom November 1908 der Riickhalt am Kaiser
fehlte und vom Hof kein EinfluB auf die gouvernementalen Konservativen
ausgeiibt wurde, um Biilows Politik zu stiitzen. Die nachste Folges eines Sturzes
war, daB Konservative und Zentrum als Mehrheit die Friichte des Wahlerfolges
1907 ernteten. 19 12 trat dann die Reaktion auf die unpopularen Steuern ein :
die Sozialdernokraten errangen mit 112 Mandaten einen Wahlsieg in noch
Bas9ermann 1 7
nicht dagewesenem AusmaB, der die alte Moglichkeit der schwarzroten Mehr-
heit wieder herstellte.
Auf B. hat diese Wendung offenbar auBerordentlich verbitternd eingewirkt.
Seine Briefe lassen von jetzt ab einen Pessimismus erkennen, der bis zu seinem
Tode nicht wieder schwindet. Er vermiBt die energische Fuhrung der Reichs-
politik, die er Biilow zugetraut hatte, und hatte von vornherein kein Vertrauen
zu dessen Nachfolger v. Bethmann Hollweg. Schon im Januar 1910 schrieb er,
dieser sei kein Mann, der iiber der Sache stehe, sondera der kleinmiitig ohne
Spur von Genialitat von den Schwierigkeiten bedroht und erdriickt werde.
Bethmann versuchte dann immer wieder, sich von dem Odium der Regierung
mit dem schwarzblauen Block zu befreien und die Nationalliberalen unter
dem Schlagwort der »Sammlungspolitik« zu der alten Mehrheit Konservative,
Nationalliberale, Zentrum zu gewinnen. Demgegeniiber beharrte B. auf der
Forderung, daB der gesamte Liberalismus mitwirken und die Erbschaftsteuer
und die preuBische Wahlreform seitens der Rechten bewilligt werden muBten.
Es ist zu beachten, daB offenbar die giinstigen Erfahrungen der Zusammen-
arbeit mit dem jetzt in der »Freisinnigen Volkspartei« vereinigten Links-
liberalismus B. ermoglichten, die Solidaritat des Gesamtliberalismus energischer
zu betonen als bisher.
Die Wahlen von 19 12 brachten B. personlich eine besondere Enttauschung.
Der Verlust von 9 Mandaten lieB sich verschmerzen, die Rechtsparteien hatten
weit starkere Verluste zu beklagen, und es blieb die Tatsache bestehen, daB
die Anhangerzahl der Nationalliberalen im I^ande in standigem Wachsen war
und an dritter Stelle hinter Sozialdemokraten und Zentrum stand. Aber es
waren gerade die B. nahestehenden Abgeordneten wie Stresemann, Weber und
Wachhorst de Wente nicht wiedergewahlt worden. Die Opposition der Alt-
liberalen (Fuhrmann, Schiffer), die zum AnschluB an die Rechte neigten, auf
der einen, der Jungliberalen auf der anderen Seite wuchs in der Fraktion gegen
ihn. Im Februar 19 14 lehnte er noch einmal den von konservativer Seite ge-
machten und von einem Teil der eigenen Fraktion unterstiitzten Vorschlag ab,
die alte Zolltarifmehrheit wiederherzustellen, um die Interessen der produ-
zierenden Stande bei den kiinftigen Handelsvertragen geschlossen vertreten
zu konnen. Dann brach der Krieg aus und lieB alle innerpolitischen Fragen
einstweilen verschwinden.
B.s Stellungnahme war in den ersten zwei Jahren des Weltkrieges nicht
wesentlich anders als die der iibrigen Parteifuhrer von den Konservativen bis
zu den Sozialdemokraten : er hoflte, daB die Gegner trotz ihrer zahlenmaBigen
Uberlegenheit durch ihre militarischen MiBerfolge des Krieges miide wiirden
und daB ein Friede zustande kame, der Deutschland fiir die Kriegsopfer ent-
schadige. Er war dagegen, daB man das Minimum, auf welches man bei den
Friedensverhandlungen zuriickgehen wiirde, vorher erkennen lasse. In dieser
Richtung suchte er personlich bis zum Friihjahr 191 7 Bethmann zu beein-
flussen, nachdem ihn seine militarische Tatigkeit nach Berlin zuriickgefuhrt
hatte. Sein eigentliches Ziel war aber, Bethmann zu stiirzen und ihn durch
den Fiirsten Biilow zu ersetzen. Als dies unerreichbar schien, sich die nach
seiner Ansicht falschen politischen Handlungen, wie die Erklarung Polens zum
Konigreich und das Friedensangebot vom Dezember 1916, mehrten und die
Zahl der militarischen Gegner damit parallelgehend wuchs, wurde er iiber den
DBJ 2
i8 1917
Kriegsausgang immer skeptischer. Er warnte auch vor weiterer Verschleppung
der Reform des preui3ischen Wahlrechts, die, je spater vollzogen, desto radi-
kaler ausf alien miisse. Als Hindenburg Generalstabschef wurde, schrieb er:
»H. ist eine Hoflnung. Es ist spat, hoflentlich nicht zu spat; ein Jahr haben
wir verloren.«
Er erlebte noch Bethmanns Sturz. Beteiligt war er an der Aktion, die gleich-
zeitig den Eintritt von Parlamentariern in die Reichsregierung und damit eine
von B. schon 1910 prophezeite Entwicklung bringen sollte, infolge seines
schlechten Gesundheitszustandes nicht mehr. Die Riicksichtslosigkeit, mit
der er wahrend des Krieges seine Gesundheit einsetzte, um den freiwillig iiber-
nommenen militarischen wie politisehen Anforderungen zu genugen, hat zu
seinem verhaltnismafiig fruhen Tod zweifellos erheblich beigetragen. Wohl hat
er schon in Friedenszeiten in Augenblicken der Enttauschung verschiedentlich
mit dem Gedanken gespielt, sich von der Politik zuriickzuziehen. In Wahrheit
war ihm der politische Kampf Lebensbediirfnis und tiefe Leidenschaft, der er
bedenkenlos seine Gesundheit opferte.
Literatur: Ernst B., Nationalliberale. Handbuch der Politik. i.Auti. 2. Bd. Berlin
1912/13. — Karola B., Ernst B. 1854 — 1917. Mannheim [1919]. — Richard Eickhoff,
Politische Profile: S. 121/28 Ernst B. Dresden 1927. — Fritz Mittelmann, Ernst B. Reden
und Aufsatze. 1. Bd. Berlin 1914. — Ernst Muller-Meiningen, Parlamentarismus. S. 176/77.
Berlin 1926. — Wilhelm Spickernagel, Fiirst Bulow. Hamburg [192 1]. — Stresemann,
Reden und Schriften. 1. Bd. S. 140/163: Ernst B. Dresden 1926.
An ungedrucktem Material konnte ich die mir freundlichst vom Em pf anger iiberlassenen
Brief e B.s an Stresemann und einige Aufzeichnungen B.s iiber politische Vorgange be-
nutzen. Der iibrige umfangreiche schriftliche NachlaB befindet sich im Besitz von Frau
Julia B., Mannheim; er konnte von mir leider nicht eingesehen werden.
Potsdam. HansGoldschmidt.
Beck, Theodor, Professor, Dr.-Ing. ehrenhalber, * am 3. Juni 1839 in Darm-
stadt, t am 3°- Jul* I9I7 daselbst. — Theodor B. war ein Sohn des Groflh. Hes-
sischen Ministerialsekretars Friedrich B. in Darmstadt; seine Mutter Auguste
war eine Tochter des Geh. Medizinalrats Professor Dr. LudwigNebel in Giel3en.
Er besuchte das GroBh. Gymnasium in Darmstadt 1851 — 1853, dann vom An-
fange des Wintersemesters 1854/55 bis zum Schlusse des Schuljahres 1855/56 die
Grofih. Hohere Gewerbeschule, an der er im September 1856 mit sehr guten
Noten die Maturitatspriifung bestand. Bis zum September 1857 arbeitete er
dann praktisch bei dem Schlossermeister Carl Schnabel in Darmstadt ; in dem
vortreff lichen Zeugnis nennt ihn sein Lehrmeister »einen ausgezeichneten
jungen Mann, von dem bei fortdauerndem Fleifle dermaleinst GroCes zu er-
warten ist«. Gleichzeitig besuchte B. auch den Unterricht im Konstruktions-
zeichnen bei I. Schroder, dem Griinder der spater so bekannt gewordenen
Schroderschen Modellfabrik in Daimstadt.
In denStudienjahren 1857/58 und 1858/59 besuchte Theodor B. diebeiden
Kurse der mechanisch-technischen Fachschule der GroCh. Badischen poly-
technischen Schule in Karlsruhe, die damals die einzige wirkliche technische
Hochschule in Deutschland war. Seine Lehrer waren Redtenbacher, Riegler,
Eisenlohr und Seubert; den groBten EinfluB auf ihn iibte Jakob Ferdinand
Redtenbacher aus, dem er bis an seinen Tod ein treues und dankbares An-
denken bewahrte.
Bassermann. Beck
*9
Nun arbeitete B. ein Jahr lang in der Montierwerkstatte der Maschinenfabrik
und EisengieBerei Darmstadt, dann — 1861 bis 1862 — auf dem technischen
Bureau der Main-Weser-Bahn in GieBen. Dann ging er nach Schottland und
arbeitete 9 Monate hindurch als Zeichner in den Scotland Steel Iron Works der
Firma Mirrlees & Tait in Glasgow, dann bei David Napier in London, endlich
— 1865/66 — bei C. Hoppe in Berlin. Aus alien diesen Stellungen liegen glan-
zende Zeugnisse iiber seinen FleiJ3, seine Tiichtigkeit und seine Kenntnisse vor.
Im Jahre 1867 wurde B. Teilhaber der Maschinenfabrik von Kleyer & Beck,
spater Beck und Rosenbaum in Darmstadt, die noch heute besteht. Im Jahre
1885 trat er aus, um sich seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu widmen. Er
habilitierte sich als Privatdozent an der Technischen Hochschule in Darmstadt
und war in ausgedehntem MaBe schrif tstellerisch tatig. An der Hochschule hielt
er viele Jahre hindurch Vorlesungen iiber Gewichts- und Kostenberechnung im
Maschinenbau und erhielt den Professortitel. AuBerdem war er 1889 — 1903
Sekretar der Handelskammer Darmstadt, deren Mitglied er von 1875 an ge-
wesen war. Gelegentlich der Feier seines 25Jahrigen Bestehens im Jahre 1905
verlieh der Niederosterreichische Gewerbeverein Theodor B. eine von Professor
Stephan Schwartz ausgefuhrte Plakette, die der Verwaltungsrat des Vereins
hatte anfertigen lassen, »um sie den bewahrten Freunden und Forderern des
technologischen Gewerbemuseums zu widmen «. Eine noch hohere Ehrung
wurde Theodor B. am 26, Juni 1909 zuteil. AndiesemTage ernannte ihn die
GroBh. Badische Technische Hochschule zum Dr.-Ing. ehrenhalber »in An-
erkennung der Verdienste um die technischen Wissenschaften, die er sich durch
seine umf assenden Forschungsarbeiten und Mitteilungen iiber die Geschichte
der Technik erworben hat«. Diese hohe Auszeichnung bereitete dem riihrend
bescheidenen Manne eine groBe Freude.
Im Jahre 1869 verheiratete sich Theodor B. mit Sophie, Tochter des Hofrats
Friedrich Baer in Miinchen.
Die wissenschaftlichen Arbeiten Theodor B.s gehoren fast alle einem leider
nur wenig beachteten und bearbeiteten, aber hochst interessanten und wich-
tigen Gebiete an — der Geschichte des Maschinenbaues. Gerade fur uns heutige
Menschen, die wir taglich die fabelhaftesten Fortschritte der Technik erleben,
ist es von hochstem Werte, zu erkennen, auf welch muhseligem Wege die
Menschheit sich zu der Hohe technischen Konnens, die sie heute erreicht hat,
hin auf arbeiten muBte. Der Wunsch diesen Weg kennenzulernen, hat auch
Theodor B. zu seinen uberaus griindlichen und miihevollen geschichtlichen
Forschungen veranlaBt, die in so besonderer Weise seiner stets auf das Griind-
liche und Grundlegende gerichteten Natur entsprachen.
Die alteren geschichtlichen Abhandlungen B.s erschienen in den Jahren 1886
bis 1896 einzeln in der Zeitschrift »Der Zivilingenieur«, die spateren — nach-
dem diese Zeitschrift eingegangen war — in der » Zeitschrift des Vereins deut-
scher Ingenieure«. Professor Riedler war es, der den Vorstand des genannten
Vereins auf die hohe Bedeutung der Arbeiten B.s aufmerksam machte und ihre
Herausgabe in einem stattlichen Bande veranlaBte. Der Verein deutscher
Ingenieure bewilligte einen namhaften Beitrag zu den Herstellungskosten. Die
erste Auflage erschien 1899 unter dem Titel »Beitrage zur Geschichte des
Maschinenbaues «, die zweite, vermehrte Auflage (582 S.) schon 1900. (Verlag
von Julius Springer in Berlin.)
20 1917
Diese zweite Auflage umf afit folgende Abhandlungen : Heron der Altere von
Alexandria (um 120 v. Chr.) und seine Vorganger; Pappus der Alexandriner ;
Marcus Vitruvius Pollio; Sextus Jul. Frontinus; Cato der Altere; Leonardo da
Vinci (3 Abhandlungen) ; Vanuccio Biringuccio ; Georgius Agricola ; Hieronymus
Gardanus; Jacques Besson ; Agostino Ramelli ; Buonaiuto Lorini; Giambattista
della Porta; Skizzen aus der Zeit der Hussitenkriege ; Vittoria Zonka; Juanelo
Turriano; Heinrich Zeising; Domenico Fontana und der Transport der Vati-
kanischen Obelisken; Salomon de Caus; Faustus Verantius; Jacob de Strada;
Giovanni Branca; Marinus Mersenne; Georg Philipp Harstorffer; James Watt
und die Erfindung der Dampfmaschine.
AuBer den in dem genannten Bande vereinigten Abhandlungen sind noch die
folgenden besonders zu bemerken: Kinematik, 5 Abhandlungen im »Zivil-
ingenieur« 1876 — 1879, Joann Leucheron (» Zeitschrift des Vereins deutscher
Ingenieure« 1901. Bd. 45), Kaspar Schott (daselbst 1902, Bd, 46), Leonardo
da Vinci, vierte Abhandlung: Codice atlantico, nach der von der »Accademia dei
Lincein veranstalteten Ausgabe (Band 50 derselben Zeitschrift, 1906), Kosten-
berechnung in der Maschinen-Fabiikation (daselbst, Band 37), Biographien
englischer Ingenieure von 1750 — 1850 (dieselbe Zeitschrift 1900 — 1903), die
Geometrie krummliniger Figuren Leonardos da Vinci (» Zeitschrift fiir gewerb-
lichen Unterricht, Jahrgang XVIII, Nr. 12 u, 13), endlich Evangelista Torricelli
1608 — 1647, » Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure « 1908). Die Summe
sorgfaltigster, griindlichster Quellenforschung, die in diesen Arbeiten nieder-
gelegt ist, fordert Staunen und Bewunderung heraus. Ihren reichen Inhalt auf
dem beschrankten, hier zur Verfiigung stehenden Raume auch nur andeutungs-
weise zu besprechen, ist unmoglich. Die meisten dieser Abhandlungen bestehen
namlich aus einzelnen, oft nur kurzen Beschreibungen der verschiedensten
Maschinen und Vorrichtungen. Schon die einfache Aufzahlung der behandelten
Gegenstande wiirde Seiten fiillen. Daher kann auch von einer kritischen Be-
wertung der Arbeiten an dieser Stelle keine Rede sein. Bemerkt sei nur, daB B.
stets bis zu den eigentlichen Quellenschriften hinabstieg und sich niemals auf
Mitteilungen aus zweiter Hand verlieB. Besonders hingewiesen sei auch auf die
liberaus zahlreichen, mit unubertrefflicher Klarheit, Sorgfalt und Sauberkeit
gezeichneten Figuren.
Theodor B. besaB eine ungewohnlich umfassende Bildung. DaB er ein iiber-
aus griindlicher Kenner des Maschinenbaues war, versteht sich wohl von selbst ;
aber seine ausgedehnten Quellenstudien erforderten auch ungewohnliche Kennt-
nisse in den alten und neuen Sprachen. Er liebte die Mathematik und besaB
griindliche Kenntnisse in dieser, seinem ganzen Wesen so sehr entsprechenden
Wissenschaft der Klarheit. Ganz besonders stark war er in der Geometrie und
zog stets — ihrer Anschaulichkeit und Durchsichtigkeit wegen — die geo-
metrische Losung einer Aufgabe der analytischen vor. Dennoch war er auch
ein vortrefflicher Rechner.
Theodor B. war die verkorperte Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit. Still
lebte er seiner Familie und seiner Forscherarbeit. Er sprach wenig und liebte es
nicht, von sich reden zu machen. In der bescheidenen Mittelstadt, in der er ge-
borenward, sein Leben mit kurzen Unterbrechungen zubrachte und starb,
kannten ihn nur wenige Menschen, und nur einzelne von diesen wenigen mogen
gewuBt haben, einen wie bedeutenden Mitbiirger sie in ihm besaBen. Sogenannte
Beck. Behring 21
Vergniigungen liebte er nicht; seine einzige Erholung waren Spaziergange in
die herrliche Umgebung seiner Vaterstadt. Er war ein riistiger und ausdauern-
der FuBganger. Er war bis zu seiner letzten Krankheit — dank seinem
kraftigen Korper und seiner auBerst maBigen und regelmaBigen Lebensweise —
ein kerngesunder Mann. — GroBere Reisen machte er nur sehr selten; erst
nach vollendetem 70. Iyebensjahre unternahm er mit seiner Frau eine Reise in
die Alpen .
B.s Charakter war lauter, rein und edel. Er war giitig, gerecht und teilnahms-
voll, mild und versohnlich in seinem Urteil iiber andere. Ruhig und ausge-
glichen, wie er war, lag ihm alles Leidenschaftliche fern. In unserem jahre-
langen, freundschaftlichen Verkehr — von 1893 bis an sein Ende — habe ich
ihn niemals zornig oder aufgebracht gesehen.
Ein eigentlicher Geschaftsmann war Theodor B. auch als Maschinenfabrikant
— die Firma Beck & Rosenbaum beschaftigte sich vorwiegend mit der Her-
stellung von Brauerei-Einrichtungen — niemals. Sein holier Sinn war nicht auf
Geldverdienen, sondern nur auf Erkenntnis gerichtet. Echter Forscherdrang
war es, der ihn zu seiner ergebnisreichen I^ebensarbeit begeisterte.
Literatur: Der Nachlafi Theodor B.s — Schriftstiicke, Zeugnisse, Drucksachen, Do-
kumente usw. — befindet sich im Besitze seiner jiingeren Tochter, Fraulein Emily B.,
Darmstadt, SandstraBe 32. — Vgl. unten S. 218 ff. iiber B.s Bruder Ludwig B.
Darmstadt. Ferdinand Meisel.
Behring, Emil v., Prof. Dr. Wirkf. Geh.-Rat, Exzellenz, o. 6. Professor der
Hygiene und experimentellen Therapie an der Universitat Marburg, * am
15. Marz 1854 m Hansdorf bei Deutsch-Eylau in WestpreuBen, f am 31. Marz
1917 in Marburg. — Bis zum 13. Lebensjahr wurde B. im elterlichen Hause
von seinem Vater August B., der Lehrer in Hansdorf bei Deutsch-Eylau war,
unterrichtet. Er besuchte sodann das Gymnasium in Hohenstein i. Ostpr.
bis zu seinem Eintritt in das Kgl. Friedrich-Wilhelm-Institut in Berlin im
Oktober 1874. Am 24. Februar 1877 bestand er das Physikum, am 15. August
1878 promo vierte er zum Dr. med.y mit der Dissertation: Neuere Beob-
achtungen iiber die Neurotomia opticociliaris, und bestand im Juni 1880 das
medizinische Staatsexamen.
Nach Beendigung seiner arztlichen Studienzeit wurde er zunachst fiir kurze
Zeit als Unterarzt an die Charite nach Berlin kommandiert, hierauf nach
Wehlau in das Fusilierbataillon des 59. Regiments und von dort als Assistenz-
arzt zum 2. Leibhusarenregiment nach Posen versetzt. Dort hatte er im
Laboratorium der Versuchsstation unter Dr. Wild Gelegenheit zu chemischen
Studien, die sich vorwiegend mit der Frage der Wirkungsweise antiseptischer
Mittel befafiten und im Jahre 1882 teils in der »Deutschen Medizinischen
Wochenschrift*, teils in der » Berliner Klinischen Wochenschrift« veroffentlicht
worden sind. Man wird kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daB in diesen
Jahren schon der Grund gelegt wurde fiir die Gedankenrichtung, die B.s
spatere Lebensarbeit beherrschten, die Idee der biologischen Desinfektion
bzw. Desintoxikation. Im Juli 1883 wurde B. auf eigenen Wunsch zur 4. Schwa-
dron der WestpreuBischen Kiirassiere nach Winzig versetzt, wo ihm auch
Gelegenheit zur Ausiibung einer privatarztlichen Praxis und zur Vorbereitung
22 1917
auf das Kreisarztexamen geboten war, das er im Marz 1885 ablegte. Im gleichen
Jahre nahm er in Wiesbaden im Untersuchungsamt des Direktor Dr. Schmidt
unter Leitung des Dozenten Dr. August Pfeiffer einen Kursus in Bakteriologie,
jener neuen Spezialwissenschaft, die dank der wenige Jahre zuvor von Robert
Koch gemachten Entdeckungen in raschem Aufbluhen begriffen war.
Nach Beendigung des bakteriologischen Kurses in Wiesbaden wurde B.
zunachst nach Bojanowo versetzt, und im August 1885 zum kommissarischen
Kreis- und Wundarzt in Rawitsch bestellt. Aber die rein arztliche bzw. kreis-
arztliche Tatigkeit befriedigte ihn nicht ganz. Zwei Jahre spater finden wir
B. in Bonn, wo er hauptsachlich bei dem bekannten Pharmakologen Binz
arbeitete. Aus dieser Zeit stammen die Arbeiten iiber Jodoform und Azetylen
(» Deutsche Med. Wochenschrift«, 1887, Nr. 20) und »t)ber die physiologischen
und die (choleraahnlich) toxischen Wirkungen des Pentamethylendiamins
(Cadaverin L. Briegers)« in der » Deutschen Medizinischen Wochenschrift*, 1888,
Nr. 24. Im Jahre 1889 ge^ang es B., Assistent bei dem damals schon welt-
beriihmten und gefeierten Robert Koch im Hygienischen Institut der Univer-
sitat Berlin zu werden. So wurde auch B. einer der Schuler Kochs. Aber er
war von Anfang an mehr als bloB ein Schuler Kochs. Er brachte seine eigenen
Ideen mit. Verfasser, dem es leider nicht vergonnt war, B. personlich zu
kennen, erinnert sich einer Unterhaltung, die er fern von der Heimat in Schang-
hai im Sommer 1917 mit dem gerade zu Besuch dort weilenden bekannten
Pathologen H. Welch von der John Hopkins University in Baltimore iiber
Emil von B., dessen Tod uns eben bekannt geworden war, hatte. Welch, der zu
jener Zeit auch in Deutschland studiert hatte, sprach mit grofler Lebhaftigkeit
davon, wie man im Kreise der Kochschen Assistenten und Schuler mit einer
seltsamen Mischung von Spott und Bewunderung auf den »verriickten« Stabs-
arzt wies, der im Korper Gegengifte erzeugen wollte. Und Max v. Gruber erzahlt,
wie ein fruherer Schuler Kochs bereits 1888 iiber den jungen Stabsarzt B.
berichtet hatte: »Niemand im Institut kann sich seinem EinfluB entziehen,
und alle erwarten AuBerordentliches von ihm.« In Wernicke fand B. einen
treuen und zuverlassigen Mitarbeiter, und schon bald nach seinem Eintritt in
den Kochschen Kreis konnte B. iiber wissenschaftliche Ergebnisse von groBter
Tragweite berichten. In der » Deutschen Medizinischen Wochenschrift« Nr. 49
(1890) veroffentlichte B. zunachst eine kurze, aber inhaltschwere Arbeit:
»t)ber das Zustandekommen der Diphtherie-Immunitat und der Tetanus-Immu-
nitat«, zusammen mit Kitasato, der ihm das zur Tetanus-Immunisierung not-
wendige Tetanusgift geliefert hatte. Die fur die Diphtherie-Immunisierung
und die Heilserumtherapie grundlegende, eingehende Mitteilung hat B. 1892
zusammen mit Wernicke in der Zeitschrift fur Hygiene und Infektionskrank-
heiten Bd. XII (Uber Immunisierung und Heilung von Versuchstieren bei
der Diphtherie) veroffentlkht. Behring und Wernicke, unlosbar sind diese bei-
den Namen verkniipft mit der Entdeckung des Diphtherieheilserums : B., der
leidenschaftliche Schopfer und Trager des Gedankens der Serumtherapie,
Wernicke, der unermudliche, sorgfaltige Experimentator und treue Bundes-
genosse B.s in dem Auf und Nieder der wechselvollen ersten Jahre ihres
Schaffens. Nach dieser wissenschaftlichen GroBtat war es selbstverstandlich,
daB der damalige Stabsarzt B. seine militarische Laufbahn auf gab, um
sich ganz seinen Forschungen und der Bearbeitung des von ihm eroffneten
Behring 23
vielversprechenden Gebietes widmen zu konnen. Auch auBere Ehrungen
stellten sich ein. Nachdem B. 1893 den Titel Professor erhalten hatte, wurde
ihm 1894 das Ordinariat fur Hygiene an der Universitat Halle und bald darauf
das in Marburg iibertragen. Die Jahre 1890 bis 1894 waren fur B. und seine
neue Heilserumlehre besonders kritisch gewesen. Er hatte in dieser Zeit den
groBen Sturm der Kritiker, Zweifler, Spotter und Gegner seiner neuen
Lehre zu bestehen. Und er hat ihn siegreich bestanden. Die praktische Brauch-
barkeit seines Heilverfahrens war nunmehr allgemein anerkannt. Der preu-
Bische Kultusminister wollte, in voller Wiirdigung der groBen Bedeutung des
B.schen Werkes, mit der Berufung nach Marburg B. eine moglichst ruhige und
geeignete Arbeitsstatte verschaffen. Das kleine Marburg mit seiner verhaltnis-
maBig geringen Studentenzahl schien hierzu besonders geeignet, urn so mehr,
als hier in der gerade frei gewordenen alten Roserschen Klinik groBe Raume
verfiigbar waren, die fur Laboratoriumszwecke umgebaut werden konnten.
Zu B.s Unterstiitzung im Unterricht wurde zuerst der Stabsarzt Dr. Wernicke
nach Marburg versetzt. Spater wurde eine Zweiteilung des Instituts vorge-
nommen: es wurde eine Abteilung fur Hygiene und eine Abteilung fur ex-
perimentelle Therapie geschaffen. Die Hygiene vertrat Bonhoff, und dadurch
wurde B. die Sorge fur den Unterricht fast ganz abgenommen. B. selbst iiber-
nahm die Abteilung fiir experimentelle Therapie und behielt die Direktion des
ganzen Institutes. Vom Jahre 1894 bis zu seinem Tode (1917) wirkte B. in der
reizvollen Universitat des Hessenlandes, in Marburg. In der Universitat, in
der Stadt und ringsherum im Gelande trifft man noch heute iiberall die
Spuren seiner Tatigkeit.
Zunachst warf sich B., unterstiitzt von seinen Schiilern und Mitarbeitern
Wernicke, Boer, Kossel, Kitashima, Ransom, Siebert, Knorr, v. Lingels-
heim, Romer, Much u. a., mit der leidenschaftlichen Energie seiner Person-
lichkeit auf den weiteren wissenschaftlichen und praktischen Ausbau seiner
Entdeckungen. Es gait, die Methoden der Herstellung des Diphtherie- und des
Tetanus- Heilserums zu verbessern und technisch so zu gestalten, daB dem
sich bald einstellenden Massenbedarf an Heilserum in der Praxis entsprochen
werden konnte. Zu diesem Zwecke trat B. in Verbindung mit den Farbwerken
Meister, Lucius & Briining in Hochst a. M. und griindete spater ein eigenes
Unternehmen, das » Behring- Werk«, Marburg, das sich spater zu der Aktien-
gesellschaft »Behringwerke« entwickelte. Von den Hochster Farbwerken
wurde ihm auf der Hone des SchloBberges ein besonderes Forschungsinstitut
errichtet, das spater (1920) den Namen »Institut fiir experimentelle Therapie
Emil von Behring* erhielt und 1920 bis 1923 von Uhlenhuth, 1923 bis 1927
von Dold geleitet wurde.
Es gait vor allem, MeB- und Prufungsmethoden fiir die Toxine und die Anti-
toxine zu schaffen. Diese grundlegenden und noch heute giiltigen Arbeit en
sind zum groBten Teil in engster Zusammenarbeit mit Paul Ehrlich (s. DBJ.
1914 — 16, S. 126 ff.), dem damaligen Direktor des Staatlichen Instituts fiir
experimentelle Therapie in Berlin-Steglitz, spater in Frankfurt a. M., ent-
standen. Neben diesen, dem weiteren Ausbau seiner Heilserumbehandlung
dienenden Forschungen nahm B. ein neues wichtiges Gebiet, die Frage der
Heilung und Verhiitung der Tuberkulose in Angriff. Die materiellen Vorteile,
die ihm aus seinen praktisch so bedeutungsvollen Entdeckungen zuflossen,
24 *9i7
lieB er seinen viel Geld verschlingenden neuen Arbeiten namentlich auf dem
Gebiet der Tuberkulose zugute kommen. Zuerst sahes aus, als ob es auch auf
diesem Gebiete B. gelingen wiirde, einen groBen Sieg zu erringen. B. hatte die
Hoffnung, auch bei der Tuberkulose wie bei der Diphtheric und beim Tetanus
eine ubertragbare Giftimmunitat erreichen zu konnen. Da das Tuberkulin
sich fur diesen Zweck als zu wenig wirksam envies, trachtete B. danach, starker
wirksame Gifte aus den Tuberkelbazillen zu gewinnen. Und in der Tat konnte
er Stoffe aus den Tuberkelbazillen extrahieren, die um ein Vieltausend-
faches giftiger waren als das Alttuberkulin. Leider gelang es aber auch mit
so hochwirksamen Giften nicht, kraftige und praktisch brauchbare Heilsera
zu erhalten. Nach diesem Fehlschlag wandte sich B. dem alten Pasteurschen
Immunisierungsprinzip, Erzielung einer Immunitat gegen virulente Bak-
terien durch Einverleibung der geschwachten Bakterien der gleichen Art, zu.
Im Gegensatz zu Robert Koch, der die Tuberkelbazillen des Menschen als
von den Perlsuchtbazillen (Tuberkelbazillen des Rindes) artverschieden er-
klart hatte, war B. zu der Auffassung gekommen, daB es sich hier nur um
Varietaten derselben Art mit verschiedener Virulenz handele, und daB der
sogenannte Typus humanus ein Tuberkelbazillus von geringerer Virulenz sei.
Er versuchte darum, das Rind mit Tuberkelbazillen vom Typus humanus
gegen die Perlsucht zu immunisieren. Im Jahre 1901 trat B. mit seinem neuen
Tuberkuloseschutzstoff fiir Rinder, dem »Bovovakzin« hervor, nachdem er
zunachst im Kleinen, dann im GroBen das Verfahren mit sehr gutem Erfolge
erprobt hatte. Wieder horchte die Welt auf, und ahnlich wie nach der Ent-
deckung des Tuberkelbazillus und des Tuberkulins durch Robert Koch ging
eine gewaltige Woge der Hoffnung durch die Menschheit. Aber wie damals
blieb auch diesmal der Riickschlag nicht aus. Die ubertriebenen Hoffnungen
konnten sich nicht erfullen. Teils weil bei den Nachpriifungen die Erfolge nicht
so offenkundig waren, wie man erwartet hatte, teils weil in den maBgebenden
Kreisen der Veterinarmedizin die Befreiung unserer Rinderbestande auf einem
anderen, veterinarpolizeilichem Wege, durch das sogenannte Tuberkulose-
tilgungsverfahren, angestrebt und die B.sche Methode der Schutzimpfung
stark befehdet wurde, flaute das Interesse fiir das neue Verfahren bald wieder
ab, und das Gefiihl der Enttauschung verdunkelte die groBe Bedeutung der
auch hier wieder von B. gemachten wichtigen Entdeckung: daB der einmal
tuberkulos infizierte Organismus durch diese Infektion eine betrachtliche
Immunitat gegen diese Krankheit erwerben kann und daB diese sogenannte
Infektionsimmunitat fiir den Verlauf der einzelnen Erkrankung sowohl
als auch fiir die Epidemiologic der Tuberkulose von der groBten Bedeu-
tung ist.
Die Enttauschung liber die Nichtanerkennung seiner Auffassungen iiber
Tuberkulose mag mit dazu beigetragen haben, daB sein Gesundheitszustand
in den folgenden Jahren viel zu wiinschen iibrig lieB und ihn ofters zwang,
die Arbeit, die er so sehr liebte, zu unterbrechen und Erholung zu suchen
auf Reisen und besonders in Italien, wo er in Capri ein Besitztum hatte.
Zuruckgekehrt und wieder im Besitz seiner Arbeitskraft griff er ein neues
Problem auf, das ankniipfte an seine ersten Entdeckungen. Bei dem Diphtherie-
heilserum handelt es sich um Antitoxine, die im Organismus von Tieren (Pfer-
den) gebildet und im Bedarfsfall dann dem kranken Menschen einverleibt
Behring 25
werden. Diese an artfremdes EiweiB gebundenen passiv ubertragenen Anti-
toxine werden aber bald wieder ausgeschieden. Um einen Schutz von langerer
Dauer zu erzielen, versuchte B. durch Einverleibung eines feinabgestimmten
Gemisches von Diphtherietoxin und -antitoxin eine aktive Immunisierung
des Menschen und besonders der Kinder zu erreichen. Das Toxin, das in dem
Toxin-Antitoxin-Gemisch zunachst gebunden ist, wird langsam wieder abge-
spalten und ruft eine allmahliche Antitoxinbildung im menschlichen Korper
hervor, die dem betreffenden Individuum eine praktisch furs Leben aus-
reichende Immunitat gegen Diphtherie verleiht.
Dieses sogenannte T.-A.-Verfahxen hat wahrend des Weltkrieges und nach-
her im Auslande, besonders in Amerika durch die verdienstvollen Arbeiten
von Park und seiner Schule, und in den letzten Jahren auch in Deutschland
mehr und mehr Eingang gefunden und wird allgemein als ein groBer Erfolg
B.s und als ein wertvolles Mittel im Kampfe gegen die morderische Volks-
seuche der Diphtherie anerkannt.
Der Weltkrieg, dessen ersten Jahre B. noch erlebte, brachte ihm noch die
groBe Genugtuung und Freude, die wunderbare Wirkung seines Tetanus-
serums bei prophylaktischer Anwendung erleben zu diirfen. Das Tetanus-
serum zeigt, bei der einmal ausgebrochenen Krankheit angewandt, meist eine
nur geringe Heilwirkung, weil das Tetanusgift sich zu schnell und zu fest am
Nervensystem verankert. Aber als Prophylaktikum gegeben, unterdriickt
es die Tetanusinfektion im Keime. GroB war die Sterblichkeit an Tetanus in
den ersten Kriegswochen, ehe die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer
systematischen Schutzimpfung gegen den Wundstarrkrampf durchgedrungen
und dann geniigend Tetanusserum beschafft war. Von da ab verlor der Wund-
starrkrampf fur die Verwundeten seinen Schrecken. Vielen Hunderttausenden
von Soldaten aller Nationen hat B.s Entdeckung das Leben gerettet.
Aber in diesen Jahren des Krieges, dessen Ausgang B. sorgenvoll entgegen-
sah, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand mehr und mehr, und am
13. Marz 1917 schloB Emil v. B. die Augen fur immer. An seiner Bahre trauer-
ten die Gattin und sechs Sonne, die Universitat und die Stadt Marburg, deren
Ehrenbiirger er war, die deutsche arztliche Wissenschaft, die einen ihrer
GroBten verloren hatte.
B.s groBe Bedeutung fiir die Medizin liegt darin, daB er zu einer Zeit, da
Virchows Zellularpathologie noch das ganze Denken der arztlichen Welt
allmachtig beherrschte, die Einseitigkeit und Unzulanglichkeit dieser Betrach-
tungsweise erkannte. Mit der Entdeckung der vom lebenden Organismus
erzeugten spezifischen Antitoxine war die groBe Bedeutung humoralpatho-
logischer Vorgange fiir Krankheit, Leben und Tod unzweideutig und weithin
sichtbar demonstriert. So wurde B. der Begriinder der Heilserumtherapie
als Heilmethode und der Schopfer der praktisch auBerordentlich wertvollen
Schutz-und Heilverfahren bei der Diphtherie und beim Wundstarrkrampf.
Und auch auf dem Gebiete der Tuberkulose sind seine Arbeiten nicht umsonst
gewesen: Sein auf der sogenannten Infektionsimmunitat sich aufbauendes
Schutzimpfungsverfahren ist eine der groBten wissenschaftlichen Leistungen
auf diesem Gebiet, und wir sind trotz intensivster Forschungsarbeit bei der
Tuberkulose nicht liber dieses B.sche Immunisierungsprinzip : Immunitat
durch Infektion, hinausgekommen.
26 19 17
B. war eine mit seltener Energie geladene Natur, eine eigensinnige, eigen-
willige, ganz auf sich selbst stehende Personlichkeit voll zaher Kraft. Kampf
war sein Leben. Und sein ward der Sieg. Er hat den Ruhm seiner Taten er-
leben dtirfen. Ehrungen durch in- und auslandische Universitaten und gelehrte
Gesellschaften, durch Fiirsten und Regierungen, Titel, Orden, Ernennung
zum Ehrenbiirger der Stadt Marburg, Erhebung in den erblichen Adelstand
wurden ihm zuteil. Und als arn 4. Dezember 19 15 sich der Tag, an dem das
Diphtherieserum der Offentlichkeit bekanntgegeben worden war, zum funf-
undzwanzigsten Male jahrte, wurde auf Anordnung des preuBischen Kultus-
ministers die Biiste Emil v. B.s im Treppenhause des Hygienischen Institutes
der Universitat Marburg aufgestellt. GroB und stark war der Eindruck, den
B. bei alien Marburgern Fakultatsmitgliedern seiner Zeit hinterlassen hat.
Gustav v. Bergmann hat es in der Chronik der Universitat Marburg nieder-
geschrieben :
»Wir sehen in B. ein Leben als Anspannung aller Krafte, Kampf bis zuletzt;
geworfen, erhob er sich noch einmal, urn unter Qualen zu sterben. Das Bild
ist zu groB, um auf kleine Fragen zu antworten: Was sagen die Studenten,
was sagen die Kollegen? Wer ihm wirklich nahe stand, es mogen auBer Frau
und Kindern nicht sehr viele gewesen sein, verehrte, liebte ihn . . . Mogen
die anderen, die drauBen standen, nur eines fiihlen: er war auf einem groBen
Gebiet der Wissenschaft, das geradezu sein Gebiet genannt werden darf,
gigantisch wie ein Naturphanomen, das man erleben soil jenseits von Liebe
und HaB. Dimensionen fiihlen, auch unter Zeitgenossen, das geniigt.«
Iviteratur: Eine vollstandige Zusatnmenstellung der zahlreichen Veroffentlichungen
Emil v. Behrings ist vom Verfasser in der Gedenkschrif t : In memoriam Paul Ehrlich und
E. v. Behring zur 70. Wiederkehr ihrer Geburtstage 14./15. Marz 1924, Frankfurt a. M.,
geliefert worden. Es diirfte desvvegen geniigen, wenn hier nur einige der wichtigsten Arbei-
ten B.s aufgefiihrt werden, im iibrigen aber auf diese an anderer Stelle erschienene voll-
standige Bibliographic hingewiesen wird. — B.und Kitasato, Uber das Zustandekommen
der Diphtherie-Immunitat und der Tetanus-Immunitat, Deutsche Medizinische Wochen-
schrift 1890, Nr. 49. — E. B., Untersuchungen iiber das Zustandekommen der Diphtherie-
Immunitat bei Tieren, ebenda 1890, Nr. 50. B. und Wernicke, t)ber Immunisierung und
Heilung von Versuchstieren bei der Diphtheric Zeitschrift f . Hygiene und Infektionskrank-
heitenBd. 12, 1892. — E. B., Zur Diphtherieheilungsfrage, Deutsche Medizinische Wochen-
schrift 1894, Nr. 15 — -17. — E. B. und P. Ehrlich, Zur Diphtherie-Immunisierungs- und
Heilungsfrage, ebenda 1894, Nr. 20. — E- B. und Boer, Oberdie quantitative Bestimmung
von Diphtherieantitoxinlosungen, ebenda 1894, Nr. 21. — E. B.und Ransom, Uber Te-
tanusgift und Tetanusantitoxin, ebenda 1898, Nr. 12. — B., Ransom und Kitashima,
ITber Tetanusgiftmodifikationen, Fortschritte der Medizin, 1899, Bd. 17, Nr. 21. — B.,
Ransom und Kitashima, t)berdie quantitativen Bindungsverhaltnisse zwischen Tetanus-
gift und Tetanusantitoxin im lebenden Meerschweinchenkorper, ebenda 1899, Bd. 17,
Nr. 22. — B., Ober die Artgleichheit der vom Menschen und der vom Rinde stammenden
Tuberkelbazillen und die Tuberkuloseimmunisierung von Rindern, Wiener Klinische
Wochenschrift 1903, Nr. 12. — E. B., Uber Lungenschwindsuchtentstehung und Tuber-
kulosebekampfung, Deutsche Med. Wochenschrift 1903, Nr. 39. — E. B., Die Bekampfung
der Rindertuberkulose mit Bovovakzin und Tauruman, Vortrag 14. Marz 1907. Arch, des
Deutschen I,andwirtschaftsrates 1907, Bd. 31. — E. v. B. DbereinneuesDiphtherieschutz-
mittel, Deutsche Med. Wochenschrift, 191 3, Nr. 19.
Berlin-Dahlem.
Hermann Dold.
Behring. Bettinger 27
Bettinger, Franz v., Kardinal der romischen Kirche und Erzbischof von
Miinchen-Freising, Doktor der Theologie, * am 17. September 1850 in Land-
stuhl (Rheinpfalz), f am 12. April 1917 in Munchen. — Kardinal B. entstammte
einfachen Biirgerverhaltnissen. Sein Vater war ein ehrsamer und biederer
Schmiedemeister in Landstuhl, verheiratet mit einer Tochter des ortsansassigen
Mullers der Felsenmiihle. Der allzeit gliicklichen Ehe entsprossen neun Kinder,
von denen zwei friih starben. Ihrem zweiten Kinde und ersten Sohne gaben
die Eltern den Vornamen des Vaters. Uber dem kraftigen SproBling lachte der
helle Sonnenschein eines vorbildlich schonen Ehe- und Familienlebens, von
dem die schwere Handearbeit des Mannes, das hauswirtschaftliche Verstandnis
und der rastlose FleiB der Frau, die Geniigsamkeit und Sparsamkeit beider
ernste Not fernzuhalten wuBten. Unter den warmen Strahlen gediehen des
Knaben gesunder Korper und klarer Verstand, sowie die pfalzischen Natur-
gaben geistiger Lebhaftigkeit und heiteren Gemiites. Was die Eltern und das
Elternhaus, in dem christliche Sitte und lebenstatiger Katholizismus wohnten,
dem Sohne in der Jugend geboten haben, ward von diesem nie vergessen.
Seiner Dankbarkeit durfte er, in selbstandige Berufsstellung gelangt, dadurch
freudigen Ausdruck verleihen, daB er den Vater und die Mutter bis zu ihrem
Tode in seinem Hausstande vor den Sorgen des Alters schiitzte.
Die vorziiglichen Geistesanlagen Franz B.s wurden in der Volksschule seiner
Heimat sehr bald als hervorstechend erkannt. I^ehrer und Erzieher rieten zum
Studium. Geistliche Gonner, die Ortskaplane Gumbinger und Stadtmiiller er-
teilten nacheinander den Vorbereitungsunterricht zum Eintritt in das acht-
klassige humanistische Gymnasium zu Speyer. Die Aufnahme in dieses erfolgte
zugleich mit der in das bischofliche Konvikt im Herbste 1864. Nach glanzend
bestandener Reifepriifung begann der Absolvent im Herbst 1869 das Fach-
studium fiir den langst nach reiflicher Uberlegung frei und fest erwahlten
Priesterberuf mit der Philosophic an dem damals noch bestehenden, um
Ostern 1880 aufgehobenen koniglichen Lyzeum zu Speyer. Die nachsten zwei
Jahre 1870 — 1872 gehorten dem Studium der katholischen Theologie an den
Universitaten Innsbruck und Wiirzburg. In jener Zeit konnten die Theologie-
kandidaten die zwei bis drei ersten akademischen Studienjahre noch auBerhalb
eines Konviktes oder Seminars zubringen. B. beniitzte die gegebene Freiheit
einmal, um neben den Beruf sstudien Einblick in andere Wissenschaf ten zu ge-
winnen, das geistige Sehfeld zu erweitern und an freien Tagen die herrliche
Natur in der Umgebung der Musenstadte, Land und Leute auf Wanderungen
kennen zu lernen, dann zum AnschluB an Studentenkorporationen und zu
regster Tatigkeit in denselben wie fiir sie. Es war mehr denn ein gesellschaft-
licher Akt, es war die glaubensmutige Ubernahme eines katholischen und
deutschen Lebensprogrammes der Tat als der j unge Akademiker in Tirols Haupt-
stadt zu Beginn des Winterhalbjahres 1870 in die unterm 9. Juni 1864 ge-
griindete katholische deutsche Studentenverbindung Austria eintrat und ein
Jahr danach in der Musenstadt am Main sich an der Stiftung der gleich-
gearteten Verbindung Markomannia maBgebend beteiligte und deren Grund-
satzen Religion, Wissenschaft und Freundschaft mit dem Wahlspruch »Furcht-
los und treu!« fiir das Leben sich verpflichtete. Den beiden Verbindungen und
dem sich stetig weitenden Verbande des »C.V.« (Cartellverband der katho-
lischen deutschen Studentenverbindungen) in alien Landern deutscher Zunge,
28 1917
die Jahrzehnte hindurch einen harten Kampf um ihr Dasein gegen nicht wenige
erbitterte Gegner zu fiihren hatten, blieb er mit tatigem Interesse treu bis zum
Tode. Franz B. machte sich den Gedanken der katholischen Universitats-
studentenverbindung schon in einer Zeit zu eigen, in der weite katholische
Laien- und Geistlichenkreise noch kein Verstandnis fiir ihre Bedeutung ge-
wonnen hatten. Sein klares Auge sah scharfer in die Gegen wart und Zukunft.
Sein starker Wille entschied sich fiir die Politik der Tat. Die Folgezeit gab ihm
recht. An der kirchlichen und offentlichen katholischen Erneuerung in den
deutschsprachigen Landern haben die katholischen Studentenverbande einen
nicht geringen Anteil. Als Priester, Erzbischof und Kardinal f reute er sich dessen
gehobenen Herzens und hiefl jede neu erstehende Vereinigung willkommen,
die sich auf die sittlich-religiose Grundlage seiner Verbindungen stellte. Ihn
erfiillte und leitete die Idee der unerschrockenen auBeren Vertretung des inner-
lich gefestigten iiberzeugungsvollen katholischen Glaubens- und Sittlichkeits-
bewuBtseins.
Die theologische Studienordnung rief den lebensfrohen, tiichtigen Hoch-
schiiler im Oktober 1872 zur wissenschaftlich-praktischen Berufsausbildung
als Alumnus in das bischofliche Klerikalseminar nach Speyer. Daselbst emp-
fing er im Laufe von zehn Monaten die Tonsur, die niederen Weihen und am
17. August 1873 im Kaiserdom die Priesterweihe. Oberhirtliche Anweisung
fiihrte den Neupriester, voll von Seelsorgeridealen, am 30. Oktober darauf als
Stadtkaplan nach Zweibriicken, als solchen dann am 12. April 1877 nach
Kaiserslautern, als Hilfspriester am 16. September 1878 nach Reichenbach, als
Pfarrverweser am 17. April 1879 nach Lambsheim. Hier wurde er am 19. August
1879 Pfarrer und wirkte in diesem Amte bis ihm am 26. Juni 1888 die Pfarrei
Roxheim ubertragen wurde. Konigliche Ernennung beforderte ihn am 21. Mai
1895 zum Domkapitular in Speyer, woselbst ihm auch die Verwaltung der
Dom- und Stadtpfarrei anvertraut wurde, am 24. Januar 1909 zum Domdekan
ebenda und auf Grund des bayerischen Konkordates unterm 23. Mai 1909 zum
Erzbischof von Munchen und Freising. Die papstliche Prakonisation erfolgte
am 26. Juni 1909 durch Konsistorialdekret, die Bischofskonsekration und
Inthronisation in der Metropolitankirche zu Unserer Iyieben Frau in Munchen
am 15. August 1909, kurz danach die Bekleidung mit dem Pallium. EinigeZeit
vorher hatte dem ernannten Erzbischofe die theologische Fakultat Munchen
den Doktortitel verliehen. Mit der Besitzergreifung des erzbischoflichen Amtes
war nach der bayerischen Verfassung vom 26. Mai 18 18 der Eintritt in die
Kammer der Reichsrate und das Recht auf den Anredetitel Exzellenz verbun-
den. Die konigliche Erteilung des Verdienstordens der bayerischen Krone gab
nach der Verfassungsurkunde den personlichen Adel mit dem Pradikate »von«.
Papst Pius X. kreierte den Erzbischof Dr. Franz v. B. im geheimen Konsisto-
rium vom 25. Mai 1914 zum Kardinalpriester der heiligen romischen Kirche
mit dem Titel S. Marcelli von Rom, iiberreichte ihm am 28. Mai im offentlichen
Konsistorium den Kardinalshut und wies ihn den Kongregationen der Sakra-
mente und Riten zu. Nach dem Tode des Papstes Pius X. zog Kardinal B. am
31. August 1914 in das Konklave im Vatikan ein und nahm an der Papstwahl
teil, aus der am 3. September Kardinal Jakobus della Chiesa als Benedikt XV.
hervorging. Verschiedentlich trat in der Presse des In- und Auslandes die Be-
hauptung auf, die Wahl dieses vortrefflichen, der schweren Kriegszeitlage als
Bettinger 29
gewachsen bewahrten Tragers der Tiara verdanke die katholische Welt dem
Miinchener Kardinal, der im Konklave zuerst auf ihn hingewiesen habe und
mit Eifer und Geschick fur seine Erhebung eingetreten sei. B. sprach nie ein
Wort hieriiber. Das Siegel seines Mundes und sein Wahleid blieben stets un-
verletzt. Einer spateren Geschichtschreibung mag es vorbehalten sein, aus
Geheimakten die Wahrheit zu offenbaren. Etwas ist aber an der Behauptung
zutreffend und erklart vielleicht ihre Entstehung, das namlich, daB der diplo-
matische Akt bei der nieht unschwierigen Papstwahl dem Wesen Kardinal B.s
nicht fremd gewesen ware. Bewies doch der Mann von Jugend auf einen auBer-
ordentlich scharfen Wirklichkeitssinn und piaktischen Blick fiir alles, was die
schwebende Stunde heischte. Das unverriickbare EbenmaB seines rasch auf-
fassenden und tief schurfenden Verstandes, wie seines zielbewuBten, zah, aber
unauff allig und nie verletzend schaffenden Willens brachte ihm bis zum letzten
Augenblicke des nahezu 67Jahrigen Lebens den reichsten Berufserfolg ein, er-
wirkte die auf richtige Hochachtung aller Stande und Gesellschaftsklassen ohne
Unterschied der Konfession und Weltauffassung vor seiner Wiirde und Person,
sicherte ihm die vertrauensvolle Hingebung und Verehrung von Klerus und
Volk und befestigte die treue Freundschaft von Nahestehenden, Studien-
genossen und Amtsbriidern. Der Zauber und das Geheimnis der Kraft seiner
Personlichkeit hatten ihren psychologischen Grund. B.s groBe Seele ankerte
in einem unerschiitterlichen, mannlich starken, jeder Gefahr und Versuchung
trotzenden Glauben an Gott und Kirche, in einer ererbten bodenstandigen,
echten, kindlichen Frommigkeit und einer streng gepflegten, niemals irgendwie
getriibten Sittlichkeit. All das verlieh seinem Leben und Wirken eine anziehende
und eindrucksvolle Ruhe und Sicherheit. Unterstiitzt wurde die Wirkung seines
festen Charakters durch eine hohe und breite Korpergestalt, deren schones
GleichmaB und elastischer Schwung die Harmonie der inneren Krafte wider-
spiegelte. Die hohe Stirne, vollen Ziige und lebhaften schwarzen Augen offen-
barten Milde und Wiirde, urwiichsige Geradheit und Ehrlichkeit, Kraft und
Giite und lieBen eine naturliche, hinter vornehmer Zuriickhaltung und Selbst-
beherrschung durchbrechende Lebensheiterkeit als Grundstimmung erkennen.
Frohliche sah er gern und liebte freundliche Erholungsplauderei am Abend
nach getaner Arbeit. Unmittelbarer, ungezwungener Verkehr war ihm Bediirf-
nis. Aus ihm schopfte er tiefe Menschenkenntnis und gewann griindlichen Ein-
blick in die jeweiligen Verhaltnisse und verlassiges Urteil iiber das zu tun Not-
wendige oder Vorteilhafte. Die Tiire des Dorf- und Dompfarrhauses stand jedem
Rat- und Hilfsbediirftigen offen und durch das Portal des erzbischoflichen
Palastes flutete ein groBer Verkehr. Als Kirchenfiirst freute sich B. auf die all-
jahrlichen Firmungs-, Visitations- und anderen Dienstreisen in seinem Sprengel,
weil er Klerus, Volk und Land genauer kennenlernen und mit seinem feinen
Natursinn die landschaftlichen Schonheiten genieBen wollte. Im Verkehr mit
dem Volke fuhlte er sich gliicklich und den Armen spendete er materiell fast
iiber seine Mittel. Er war ein Volksbischof im besten Sinne des Wortes. Nur
Boswillige konnten dem Wahn verf alien, dieser Eigenschaft eine politisch an-
nichige Bedeutung unterzuschieben. Seinem Konig und Land, Kaiser und
Reich wahrte er stets unentwegte ehrliche Treue. Im Leben und nach dem Tode
ward ihm hieriiber das beste autoritative und authentische Zeugnis ausgestellt.
Was er in der Zeit des Volkerkrieges fiir das Vaterland im Felde und in der
30 1917
Heimat geleistet, laBt in einem kleinen Ausschnitt der Lichtkegel schauen, den
das Biichlein »Im Purpur bei den Feldgrauen« von M. Buchberger (5. — 7. Aufl.
Kosel, Kempten-Miinchen 1917) gibt.
Man nannte B. oft ein »Verwaltungsgenie« und » seine Laufbahn die des
reinen Praktikers«. Zweifellos war er stark auf dem gemeinten Gebiete und hat
Bedeutendes geleistet. Ein Mann der Tat, voll Kraft und Leben, nicht trockener
Btichergelehrsamkeit bei allem Interesse f iir Iyiteratur, Wissenschaft und Kunst
— wissenschaftlich-literarisch trat er niemals hervor — setzte sich sein Talent
in der Welt von selbst durch, anspruchslos wirkend, gewissenhaft die zuge-
wiesene Pflicht erfiillend und zuf rieden mit dem auferlegten Amte, ohne eigene
Bemiihung und Bewerbung emporgetragen aus der Handwerkerhiitte in den
hochsten Rat der Weltkirche. In den von ihm geleiteten Landpfarreien be-
standen Ordnung und gute Sitten, herrschten streng katholischer Geist und
friedliches Zusammenleben mit Andersglaubigen. Seine Fachkenntnisse und
Erfahrungen im Volksschulwesen veranlaBten die Staatsbehorden, ihn zum
Distriktsschulinspektor zu ernennen, als welcher er sich sehr verdient machte.
In Speyer weckte der Dompfarrer reges Leben in der Pfarrgemeinde, gab dem
Vereinsleben machtigen Antrieb, beforderte den inzwischen verwirklichten Ge-
danken einer zweiten Stadtpfarrei und den Bau der St. Josephskirche und
griindete unter geschickter Uberwindung mancher Widerstande das Kranken-
haus St. Vinzentiusstift. Im Domkapitel war er gleichzeitig als Schulreferent
und Offizial tatig. Miinchen verdankt dem Kardinal und Erzbischof den Aus-
bau der Seelsorge in der rasch emporgewachsenen Haupt- und Residenzstadt,
mit deren Entwicklung die kirchlichen Einrichtungen nicht Schritt gehalten
hatten, die Anregung zur Hebung der Not an Kirchen in der Peripherie, die Er-
richtung neuer Pf arreien und Expositurbezirke mit entsprechenden Seelsorger-
stellen, die Schaffung der Gesamtkirchengemeinde, die Erweiterung und Be-
seelung des katholischen Vereinslebens, die Belebung und Bekraftigung des
nach innen und aufien tatigen Katholizismus. Nichts weniger als eine Kampf-
natur, vielmehr friedlich und versohnlich in seinem ganzen Wesen bevorzugte
er in seinem Wirken das freie Wort und offene Bekenntnis, besafi Mut und
Kraft, mit ritterlichen Waffen auf den Plan zu treten, wenn es gait, die hei-
ligsten Giiter gegen frevle Angriffe zu verteidigen. Mit apostolischer Uner-
schrockenheit trat er in seinem ersten Hirtenbrief am 17. August 1909 dem
Unglauben entgegen, wandte sich im Sendschreiben vom 28. Oktober gleichen
Jahres gegen die Angriffe auf die Religion, die Kirche und das Papsttum, nahm
in der groCen Protestversammlung der Munchener Katholiken das Wort gegen
die kirchenfeindliche Presse und hielt als Reichsrat eindrucksvolle Reden im
bayerischen Standehaus, so am 30. Mai 19 12 zur Frage der Aufhebung des
Jesuitengesetzes vom 4. Juli 1872.
Kardinal B. war ein geborener Fiihrer. GroBe Strategen sind Schweiger und
gute Taktik entquillt ruhiger Uberlegung. Diese Fiihrereigenschaften waren
ihm eigen und trugen manch schonen Erfolg ein. Er, der von den Jugend-
studien an die Rede und das Wort meisterte, einen gewandten fesselnden Stil
schrieb, frei von Phrasen und Wortgedrechsel in kernigen Satzen der Wahrheit
und dem Rechte Ausdruck verlieh, konnte schweigen wie das Grab, wenn es
sich um neue Plane handelte, wuBte zu dirigieren, ohne von anderen am Diri-
gentenpult gesehen zu werden, verstand ohne Laut und Larm zu organisieren
Bettinger. Bezzel 3 1
und umzugruppieren, die richtigen Unterfiihrer auszusuchen und an die rechten
Platze zu stellen. Man sah ihn nicht, man fiihlte ihn aber.
Gro.Be Menschen sterben in den Sielen. Am Donnerstag nach Ostern, 12. April
1917, wurde er durch einen Schlaganfall aus seinem segensreichen Arbeitsfelde
jah herausgerissen imd von der Hohe beruflicher Leistungskraft abgerufen.
Zwei Kunstschopfungen des Miinchener akademischen Bildhauers August
Weckbecker, eine plastische Biiste, aufgestellt im Historischen Museum der
Stadt Miinchen, und ein Standbild, aus rotem Untersberger Marmor gehauen,
den Kardinal in der Amtsgewandung mit dem roten Hute wiedergebend, am
Eckpfeiler der rechten Chorseite der Frauenkirche angebracht, erhalten die Er-
innerung an das korperliche Bild und den groBen Geist des Verewigten.
Literatur: Kardinal Dr. v. B.s jahrliche Hirtenbriefe (Amtsblatt fur die Erzdiozese
Miinchen und Freising 1909— 1917). — Lebensskizzen: Trauerrede von Domdekan
Sebastian Huber (Amtsblatt Beilage 2 vom 25. April 191 7). — August Knecht, Kardinal
v. B. zum verehrungsvoll treuen Gedachtnis (Akademia, Berlin, Germania 191 7, Nr. 59
bis 64). — M. Buchberger, Im Purpur bei den Feldgrauen. Kempten-Miinchen 191 7. —
Heimgang Sr. Em. des hochwiirdigen Herrn Kardinals und Erzbischofs Franziskus v. B.
(Schematismus der Geistlichkeit des Erzbistums Miinchen und Freising fiir das Jahr 1918,
S. 279 — 286). — Konrad Graf von Preysing, Kardinal Bettinger, nach personlichen
Erinneningen. Regensbuxg 1918.
Miinchen. August Knecht.
Bezzel, Hermann, Ritter v., Prasident des kgl. prot. Oberkonsistoriums in
Miinchen, * am 18. Mai 1861 in Wald bei Gunzenhausen, f am 8. Juni 1917 in
Miinchen. — Einem alten Pfarrgeschlechte entstammend, in dem die Reihe
der Trager des geistl. Amtes seit dem Jahr 1681 nie unterbrochen war, erblickte
Hermann B., der Erstgeborene unter 12 Geschwistern, das Licht der Welt zu
Wald, einem Pfarrdorf im Altmuhltal bei Gunzenhausen in Bayern, als Sohn
des dortigen Pfarrers Georg Ludwig B. und seiner Ehefrau Emma, geb. Frauen-
knecht, Stadtschreiberstochter von Gunzenhausen. Unter der eisernen Zucht
des gestrengen Vaters, von dem er nicht bloB die hohe Statur, sondern auch den
scharfen Verstand und das phanomenale Gedachtnis geerbt hatte, unter der
freundlichen Obhut der frommen, feingebildeten Mutter, der er sein tiefes Ge-
miit und mitfiihlendes Herz zu verdanken hatte, wuchs er heran. Schon in
seiner Kinderzeit trat an ihm ein auflergewohnlicher Ernst zutage, den seine
Geschwister in manchem Wort scharfer Zurechtweisung zu fiihlen bekamen.
Im Jahre 1872 bezog er das humanistische Gymnasium zu Ansbach, wo ihm
besonders die ersten Jahre viel Kummer und Herzeleid brachten. Das Abso-
lutorium (1879) aDer bestand er als einer der Besten, in manchen Fachern als
der Beste, schwach nur in der Mathematik, fiir die er wenig begabt gewesen zu
sein scheint. In seine Gymnasialzeit fiel ein bedeutungsvoller Wendepunkt fiir
seine innere Entwicklung infolge des friihen Todes der geliebten Mutter.
Seine Universitatsjahre von 1879 — 1883 verbrachte B. nur in Erlangen, wo
er, dem Wunsche des Vaters und seiner eigenen Neigung f olgend, Philologie und
Theologie studierte. Als Mitglied der Burschenschaft Bubenruthia, der er sein
ganzes Leben hindurch die Treue hielt, verstand er es, die pflichtmafiige Teil-
nahme an den studentischen Zusammenkiinften und Festlichkeiten reibungslos
zu verbinden mit regelmaCigem Kollegienbesuch. Fiir studentische Ausge-
32 1917
lassenheit hatte er keinen Sinn, wohl aber fur Humor und Satire. Bei seinen
Bundesbriidern durfte er sich wegen seines wiirdevollen Auftretens, seines be-
stimmten oft auch scharfen Urteils und seines energischen, zielbewuBten Han-
delns allgemeiner Hochachtung erfreuen, wenn er auch nicht von alien geliebt
wurde. Unter seinen akademischen Lehrern waren es vor allem die Philologen
Iwan Muller und August Luchs, die Theologen Hof mann, den er allerdings nicht
mehr personlich gehort, sondern nur studiert hat, Frank, Zezschwitz, Zahn und
Hauck, deren er Zeit seines Lebens in dankbarster Verehrung gedachte. Schon
nach drei Jahren (1882) unterzog er sich mit recht gutem Erfolg dem ersten
philologischen Examen, wahrend er das erste theologische Examen erst im
Jahre 1884 ablegte. Nach seinem Abgang von der Universitat Erlangen folgten
nun die Jahre seiner beruflichen Wirksamkeit, die ihn immer mehr in die breite
Offentlichkeit stellte und seinen Namen weithin bekannt machten.
Drei Lebensabschnitte sind es, die wir hier ins Auge zu f assen haben : 1 . S e i n e
Regensburger Zeit (1883 — 1891). Herbst 1883 wurde er zum Assistenten
an dem alten Gymnasium in Regensburg ernannt, wo ihn der streng katholische
Rektor Seitz, der bis zu seinem Tode mit ihm im brieflichen Verkehr stand,
hochschatzen lernte, seine Schiiler mit ehrfurchtiger Bewunderung zu dem
kenntnisreichen Lehrer und energischen Erzieher, der nicht nur an sie, sondern
auch an sich selbst hochste Anforderungen stellte, emporblickten. September
1884 wurde ihm vom VerwaltungsausschuB des protstantischen Alumneums
die erledigte Inspektorstelle iibertragen, die ihm Gelegenheit bot, diese etwas
heruntergekommene und in Verruf geratene Anstalt wieder zu heben und nach
seinen Erziehungsgrundsatzen umzugestalten. Strenge Zucht iibend, die aber
keineswegs in engherzigen Rigorismus ausartete, sondern sich auch offen hielt
fiir jugendliche Frohlichkeit, wuBte er seine Zoglinge anzuregen fiir die pflicht-
maBigen Arbeiten in der Schule und dariiber hinaus auch noch fiir eigene
Studien. Ein neues Wirkungsfeld fiir religiose Beeinflussung tat sich ihm auf ,
als er zur Erteilung des protestantischen Religionsunterrichts am neuen Gym-
nasium berufen wurde. Trotz dieses dreifachen Amtes brachte er in Regensburg
auch noch die Zeit und Kraft auf, sich den phil. Doktorgrad zu erwerben mit
einer Dissertation iiber ?>Conjecturae Diodoreaea, mit Predigten auszuhelfen
auch in der Diaspora und im Jahre 1890 seine theologische Anstellungspriifung
zu machen, bei der er durch seine in der St. Johanniskirche in Ansbach ge-
haltene Examenspredigt auffiel.
2. Seine Neuendettelsauer Zeit (1891 — 1909). Schon wahrend seiner
Regensburger Zeit war Neuendettelsau, die Griindung Lohes, in seinen Ge-
sichtskreis getreten, durch den Verkehr mit hier stationierten Diakonissen und
durch etliche Besuche, die er den dortigen Anstalten abstattete, so in den
Herbstferien 1888, wo Neuendettelsaus Gottesdienste mit den reichen Schatzen
altkirchlicher und altlutherischer Tradition einen tiefen Eindruck auf ihn
machten. Diese, wenn auch noch ganz losen Beziehungen waren der AnlaB,
dafl er am 18. August 1891 nach dem Tode Meyers, Lohes unmittelbaren Nach-
folgers, zum Rektor der dortigen Diakonissenanstalt gewahlt wurde. Erst in
dieser Stellung konnten sich nun seine reichen Gaben und Fahigkeiten in vollem
MaBe entfalten und auswirken. Achtzehn Jahre hindurch hat er, ohne auch nur
ein einziges Mai Ferien zu machen oder sich eine Erholungsreise zu gestatten,
nach der Versicherung seines Nachfolgers D. W. Eichhorn, die Arbeit von zwei
Bezzel
33
vollauf beschaftigten Mannern geleistet, und das nicht in auBerlicher Viel-
geschaftigkeit, sondern aus innerster religioser Willenshingabe. Neben den
eigentlichen Verwaltungsgeschaften erforderte viel Zeit und Kraft auch seine
reichbemessene Predigttatigkeit und der wahrend der Vorbereitung auf die
Konfirmation in weit iiber zwanzig Wochenstunden erteilte Unterricht. Dazu
kamen die vielen Besuche von seiten der das Mutterhaus aufsuchenden
Schwestern, die seelsorgerlichen Beratungen in gelegentlichen Aussprachen, fiir
die er immer Zeit hatte und in der Einzelbeichte, die von Lohes Tagen her in
Neuendettelsau fleiBig begehrt wird. Auch die Beitrage in dem von ihm re-
digierten, alle Monate erscheinenden Korrespondenzblatt fiir Diakonissen ent-
stammen fast alle seiner eigenen Feder. In seinen, theologischen Vorlesungen
gleichenden Einsegnungsunterrichten stellte er an seine Horerinnen nicht geringe
Anforderungen, wie das ganz besonders sein im Jahre 192 1 auch ira Druck er-
schienener Einsegnungsunterricht, »Der Knecht Gottes« beweist, dem auch fiir
die Geschichte der Theologie eine bleibende Bedeutung zukommen wird, da
hier B.s theologischer Lieblingsgedanke, der Gedanke der gottlichen Kondeszen-
denz, besonders deutlich in die Augen fallt. Das auBere Wachstum des Neuen-
dettelsauer Werkes forderte er durch mancherlei Erweiterungen und verschie-
dene Neugriindungen (Bruckberg, Himmelkron, Obernzenn). Besonders am
Herzen lag ihm auch die Ausgestaltung des Schulwesens, das er im innern Be-
trieb mit den staatlichen Forderungen in Einklang zu bringen suchte, nach
auBen durch die Griindung einer hoheren Madchenschule in Niirnberg (1901),
die immer mehr vergroBert werden muBte, des Lehrerinnenseminars und der
kleineren Seminare fiir Handarbeit in Himmelkron und fiir Kindergartnerinnen
in Neuendettelsau ausbaute. Daneben diente er auch schon damals in der Nahe
und Feme auch noch mit Predigten und Vortragen, fiir die er eine sonderliche
Begabung hatte, und verfaBte auch noch manche Betrachtungen und manche
Artikel fiir allerlei Zeitschriften, besonders fiir den »AltenGlauben«, aberauch
fiir die »Allgemeine evang.-luther. Kirchenzeitung«. Auch das Verdienst darf
ihm, den am 10. November 1904 auch die Erlanger theol. Fakultat durch die
Verleihung des Dr. theol. geehrt hatte, zugeschrieben werden, daB unter seiner
Leitung die Spannungen zwischen Neuendettelsau und der Landeskirche, die
da und dort noch hervortreten mochten, vollig ausgeglichen wurden.
3. Seine Miinchener Zeit (1909 — 1917). Nach dem Tode Dr. Alexander
Schneiders wurde B. durch den bayerischen Kultusminister v. Wehner als der
Mann, der in den verschiedensten Teilen der bayerischen Landeskirche treff-
lich Bescheid wuBte, dem man weithin auch aus den Kreisen der Pf arrer groBes
Vertrauen entgegenbrachte, am 6. Juli 1909 zum Prasidenten des kgl. Ober-
konsistoriums ernannt und damit vom 1. August an an die Spitze der baye-
rischen evangelisch-lutherischen Landeskirche gestellt; er wurde schon 1910
zum Ritter des Verdienstordens der bayerischen Krone und damit in den per-
sonlichen Adelsstand erhoben und erhielt 1912 den Titel Exzellenz. Wohl wurde
ihm, der nicht gewohnt war, Aktenstaub zu schlucken, sondern mit lebendigen
Menschen, vor allem solchen jugendlichen Alters, umzugehen, das Eingewohnen
in den neuen Verhaltnissen, das Zusammenarbeiten mit seinen neuen Amts-
genossen im Rahmen eines Kollegiums, »wo seine Stimme nicht mehr wog als
die eines jeden Kollegialmitglieds «, nicht leicht, so daB sich sogar eine schwere
Gemutsdepression einstellte; bald aber wuBte er seine Eigenart und die ihm
DBJ 3
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verliehene Gabe nicht bureaukratisch, sondern personlich zu regieren, auch in
der neuen Stellung nach Moglichkeit durchzusetzen. Von der Mehrzahl der
Kirchenglieder, aber auch von vielen Geistlichen, wenn auch nicht von alien,
wurde gerade dieser personliche seelsorgerliche bald ernst mahnende, bald
freundlich aufmunternde Ton aufs freudigste begriiBt. Auch bei den beiden
Generalsynoden, denen er zu prasidieren hatte, der Synode zu Ansbach 1909
gleich nach seinem Amtsantritt und der zu Bayreuth 1913, war es nicht so sehr
die kundige und gewandte Geschaftsfuhrung, durch die er sich auszeichnete,
sondern der aus der Furcht Gottes geborene Ernst, mit dem er die Verhand-
lungen leitete. Fast noch mehr Anerkennung aber als in seiner Heimatkirche
wurde ihm zuteil in der deutsch-evangelischen Kirchenkonferenz, wo er nach
dem tiefen Eindruck seiner gewaltigen Eroffnungspredigt am 6. Juni 1912 in
der Kapelle der Wartburg zum 1. Vorsitzenden gewahlt wurde, und im Kirchen-
ausschuB, wo ihm die Stelle des 2. Vorsitzenden iibertragen wurde. Durch seine
SchluBpredigt in Upsala aber auf der XIII. allgemeinen evangelisch-luthe-
rischen Konferenz (191 1) durfte er auch dazu mithelfen, das Zusammenge-
horigkeitsgefiihl der lutherischen Kirche der ganzen Welt zu starken. Auch
jetzt, noch mehr als in Neuendettelsau, ubernahm er zu seiner eigentlichen
Amtstatigkeit, die auch in dieser Stellung niemals unter bloB kirchenpolitischen,
sondern stets unter hochsten letzten Gesichtspunkten ausgeiibt wurde, viel
freiwillige Arbeit. Von tiberallher wurde er zu Festpredigten begehrt und zu
Vortragen aufgef ordert ; noch mehr : er erbot sich auch selbst etwa einem ihm
bekannten Pfarrer in einer kleinen Dorfgemeinde zur Aushilfe mit einer Predigt.
In Miinchen iibte er neben seinen beruflichen Pflichten eine iiberreiche seel-
sorgerliche Tatigkeit aus und pflegte auch sehr oft zu predigen besonders in
der Kriegszeit. Dazu kam noch seine schriftstellerische Tatigkeit: in der
»Neuen kirchl. Zeitschrift« erschienen Jahr fiir Jahr seine bedeutsamen
Neujahrsartikel, in der »Allgem. ev.-luth. Kirchenzeitung* seine tiefernsten
Betrachtungen zur Einfuhrung in die Passionszeit und noch manche andere
Beitrage. Im Jahre 1916 beschenkte er seine Pfarrer mit seinem Vademecum
pastorale »Der Dienst des Pfarrers«, dem er als Anhang Betrachtungen iiber
das Hohepriesterliche Gebet Johs. 17 beigegeben hatte, ein Kapitel, das ihm
besonders teuer war. Kein Wunder, daB unter dieser Arbeitslast und bei
solchem Arbeitstempo seine schon in Neuendettelsau iiberanstrengten Krafte
vor der Zeit verbraucht wurden. Schon im Jahre 1913 hatte seine Gesundheit
einen schweren StoB erlitten durch einen Gelenkrheumatismus, der eine Herz-
schwache zuriicklieB und ihn gegen seine bisherige Gewohnheit notigte, auch
einen zweimaligen langeren Urlaub zu nehmen. Vollig gebrochen aber wurden
seine Krafte durch seine beiden Berufsreisen an die Front Marz und August
1 916, wo er in standigem raschesten Ortswechsel mit immer neuen Ansprachen
und Predigten und fortwahrenden Besuchen bei den verschiedensten Truppen-
teilen und in alien irgendwie erreichbaren Lazaretten fast ITbermenschliches
leistete. Mit verfallener Gestalt kehrte der sonst so kraftige Mann zuriick, sich
noch immer mit auBerster Anstrengung dazu auf raff end, die gewohnte Tatig-
keit fortzusetzen. Am 21. Januar 191 7 leitete er nochmals eine Sitzung seines
Kollegiums. Nun aber kamen fiir ihn Monate schwerer Krankheit, die dem
Manne rastloser Tatigkeit, der sich nie Ruhe gegonnt hatte, dem Christen froher
Ewigkeitshoffnung, der so siegesgewiB von der Welt der Vollendung hatte
Bezzel. Bissing 35
reden konnen, auch noch Stunden hoher geistlicher Anfechtung brachten, wo
das eigene Glaubenslicht fast verloschen wollte. Am 8. Juni 1917 ging er, »tiber
dessen Wesen schon hienieden eine feierliche Weltentnommenheit lag«, heim.
Seine letzte Ruhestatte aber hatte er sich selbst ausersehen in dem gleichen
Dorfe, in welchem er geboren war, an der Seite seines Vaters. Hier wurde er,
der immer den einzelnen gesucht hatte, der sich so gerne gerade zu den Niedrigen
und Geringen herabgelassen hatte und die schlichten einf achen Leute, besonders
auch die Bauern viel mehr liebte als die Hohen und Vomehmen, betrauert und
geehrt wie ein Ftirst, mit einer Predigt seines Bruders Ernst, des dortigen
Pfarrers iiber Johs. 7,38 begraben.
Literatur: 1. »Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben*.
Zur Erinnerung an D. Dr. Hermann v. B.; herausgegeben von Pfarrer Dr. Hilmar Schau-
dig, 191 7, im Verlage des Evangelischen Gemeindeblattes Miinchen, in dritter, etwas
erweiterter Auflage erschienen 1925 in der Verlagsbuchhandlung Miiller & Frohlich,
Miinchen unter dem neuen Titel »Lebensbild des verstorbenen Oberkonsistorialprasidenten
D. Dr. Hermann v. B.«. — 2. »Zum Gedachtnis Hermann v. B.s.« Gesammelte Aufsatze,
Leipzig 1917. — 3. ♦ Hermann v. B.s religids-sittliches Ideal. « Von Lie. Johannes Rupp-
recht, Pfarrer in Wunsiedel, Niirnberg 1920. — 4. ^Hermann v. B., ein Seelsorger von
Gottes Gnaden.« Von Studienrat Lie. J oh. Rupprecht, Halle 1925. — 5. » Hermann B. als
Theologe* (436 S.). Von Lie. Johannes Rupprecht, Miinchen 1925. Dieses Buch enthalt
im Anhang eine Bibliographie samtlicher im Druck erschienenen Schriften B.s, auch
seiner Artikel in Zeitschriften und seiner nachgelassenen Werke. — NachlaB: B.s schrift-
licher NachlaB befindet sich in den Hand en seines Bruders, des Oberst Oskar B. in
Miinchen, Kurfurstenstrafie 18/IV, und seines Neffen, Studienrat Otto B., Augsburg,
Eserwallstrafle 17/0.
Augsburg. Johannes Rupprecht.
Bissing, MoritzFreiherrv., Generaloberst und Generalgouverneur inBelgien,
* am 30. Januar 1844 in Bellmannsdorf in Schlesien, Kreis Lauban, f am
18. April 1917 in Trois Fontaines (Gemeinde Vilvoorde) bei Briissel. — In
der durch Familienerinnerungen vorgezeichneten und von Kindheit an er-
sehnten Laufbahn als Soldat bis zu den hochsten Stellen emporgeschritten,
dabei lange Jahre in nachster Nahe des Herrscherhauses, hat B. iiber seine
militarische Wirkung hinaus seine reichen Gaben auch im innerpolitischen
Leben als Mitglied des Herrenhauses, besonders auf dem sozialen Gebiete der
Jugend- und Wohlfahrtspflege, entfalten konnen, bis ihn in hohem Alter das
Geschick zu einer staatsmannischen Aufgabe berief und ihn damit weit iiber
die Grenzen seines bisherigen Berufs- und Wirkungskreises und zugleich iiber
die seines von ihm heiB geliebten Vaterlandes hinaus zu weltgeschichtlicher
Bedeutung emporhob. Sein an Ereignissen und Taten reiches Leben zeigt
eine scharf ausgepragte Personlichkeit, deren hauptsachlichste Wesensziige
sich bereits in fruher Jugend gebildet haben.
B. entstammte einem Geschlecht des sachsischen Uradels, das reich an mili-
tarischen Erinnerungen war und seit langem verschiedentlich in preuBischen
Diensten gestanden hatte. Sein UrgroCvater Friedrich Leopold (1723 — 1790)
war Major im preuflischen Leib-Kurassierregiment gewesen, und sein Groi3-
vater Hans August hatte zur Zeit der Befreiungskriege das Landwehr-
Kavallerie-Ulanenregiment v. Bissing gefuhrt und war als Oberst verab-
schiedet worden. Die kavalleristische Neigung und Begabung hatte der Enkel
von seinen Ahnen geerbt. Dazu kamen Beziehungen der Familie zu dem
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Generalfeldmarschall Graf Neithardt v. Gneisenau, der der Vonnund seiner
Mutter Dorothea, geb. Freiin v. Gall gewesen war und auf dessen Besitzung
Erdmannsdorf in Schlesien sich seine Eltern kennengelernt hatten. Ein Lebens-
bild Gneisenaus zu verfassen, war lange Zeit Verlangen und Hoffnung B.s,
ist jedoch wegen der sich immer mehr steigernden dienstlichen Aufgaben nicht
iiber geringe Anfange hinausgekommen.
Als er als sechstes Kind seiner Eltern am 30. Januar 1844 geboren worden
war, begann seine Mutter zu krankeln und starb wenige jahre spater, am
19. Mai 1847, so daB der Knabe keine personlichen Erinnerungen an sie be-
wahrte und sie nur durch die liebreichen Erzahlungen seines Vaters Moritz
fortlebte, der preuflischer Kammerherr und Rittergutsbesitzer auf Bellmanns-
dorf war. Zwischen Vater und Sohn herrschte ein herzliches Verhaltnis, und
mit seiner jiingsten Schwester Wally, die zugleich seine Spiel- und Schul-
gefahrtin wurde, verband den Knaben eine innige Liebe. Dieses Verhaltnis
zu seinem Vater und zu seiner Schwester wurde noch enger, als sein Vater im
Jahre 1849 zum zweiten Male heiratete. Die neue Mutter, eine geborene Freiin
v. Kloch und Kornitz, die von ihrer Jugendzeit her dem Weimarer Kreise
nahestand, kam dem leidenschaftlichen und lebendigen Knaben freundlich
und liebevoll entgegen; bald jedoch nahm die Sorge um ihre eigenen Kinder sie
mehr in Anspruch, und so lief die wohl zu hoch gespannte Erwartung des
Knaben, der bisher die Mutterliebe entbehrt hatte, nach der er sich so sehnte,
auf eine Enttauschung hinaus. Als er mit neun Jahren in die Pension desDirek-
tors des Maria-Magdalenen-Gymnasiums in Breslau, Prof. Schonborn, gebracht
werden sollte, damit der schwer zu bandigende Junge der strengen und ernsten
Zucht einer f remden Hand anvertraut wiirde, rief er, obwohl ihm das Scheiden
von seinem Vater, von seiner Schwester und von seinem geliebten Heimatdorfe
fast unmoglich schien, trotzig aus: »Gott sei Dank, daI3 ich endhch diese Wei-
berherrschaft los werdeU So war der Knabe schon fruhzeitig dazu gekommen,
seine Gefuhle zu beherrschen und hinter einer festen, ja trotzigen Miene zu
verbergen. Die Leidenschaftlichkeit, die den Knaben beseelte, hat auch noch
den Greis durchlodert. Wenn der spatere Mann oftmals kantig und schartig
erschien und mitunter ein barsches Wesen zur Schau trug, so mag dies oft nur
ein Mittel gewesen sein, um die innere Running und Erregung zu verbergen.
Noch zwei weitere Charaktereigentiimlichkeiten haben ihre Wurzeln in der
Kindheit. Den ersten Unterricht erhielt B. von dem evangelischen Pf arrer Gustav
Hancke in Bellmannsdorf , der ihn spater auch fur die Ritterakademie vorberei-
tete. Dieser Ortsgeistliche hat auf den Knaben einen so nachhaltigen EinfluB
ausgeiibt, da£ die tiefe Frommigkeit, die B. bis zu seinem Tode bewahrt hat,
auf diesen ersten Seelsorger zuriickgeht. Es war eine Frommigkeit, die nichtsmit
Fanatismus zu tun hatte, die vielmehr tief genug war, um spater auch die Be-
durfnisse des katholischen Glaubens zu verstehen. In dieser Frommigkeit fand
B. aber auch wahrend seines ganzen Lebens die Kraft fur die zahlreichen Auf-
gaben, die das Leben ihm stellte, eine Frommigkeit, in der er sich auf das
innigste mit seiner zweiten Gemahlin traf .
Wie einesteils die Frommigkeit der tiefe Born fur seine Kraftentfaltung war,
so war die andere Quelle sein hoher Pflichtbegriff , der sich schliefllich zu einem
eisenharten Willen verdichtete. Mit 13 Jahren kam er 1857 auf die Ritter-
akademie in Liegnitz, wo er neben einer vorzuglichen wissenschaftlichen
Bissing 37
Ausbildung auch in alien ritterlichen Kiinsten, wie Reiten, Fechten, Turnen,
unterwiesen wurde. Drei Jahre spater wurde er an das Sterbebett des heiB-
geliebten Vaters gerufen, der am 5. Februar i860 nach einem langen Leiden
verschied. Die Mutter verkaufte das Gut Bellmannsdorf. So war der i6jahrige
vollstandig verwaist und heimatlos geworden. Er war von jetzt ab ganz auf
sich selbst gestellt, und der Ernst der Pflichterfullung, die dann zum hervor-
ragendsten Zug seines Wesens geworden ist, hat sich in diesen Jahren aus-
gebildet.
Der igjahrige trat als irmerlich gefestigter Mensch nach gut bestandenem
Examen am 1. Oktober 1863 be* der *• Eskadron des 2. Schlesischen Dragoner-
regiments Nr. 8 als Avantageur ein. Am 22. Mai 1865 wurde er Portepeefahnrich
und bezog im Oktober desselben Jahres die Kriegsschule in NeiBe, wo er nach
9 Monaten das Offiziersexamen bestand. Am 1. September 1865 zur 3- Es-
kadron in Oels versetzt, wurde er am 11. November desselben Jahres Sekonde-
leutnant mit einem Patent vom 11. Oktober 1865. ^n dieser Zeit besuchte er
als trefflicher Reiter von Oels aus oft die Giiter in Schlesien und war bei
Jagden, Ballen und Abendgesellschaften gem gesehen.
Im bald darauf folgenden Kriege gegen Osterreich lag er am 12. Juni 1866
zum ersten Male auf Vorposten vor dem Feinde. Am 27. Juni wurde er als
Ordonnanzof f izier zum General Steinmetz kommandiert. An diesem Tage erlebte
er auf der Hohe von Wiskow bei Nachod sein erstes Gefecht, und als er den
Ton der Trompete horte, der zur Attacke blies, und sein Regiment, das er
auf Befehl des Generals Steinmetz herangeholt hatte, vorstiirmen sah, da war
er, ohne seine Stellung als Ordonnanzoffizier zu beachten, mitten unter den
Kiirassieren und Dragonern gegen den Feind. Er war der einzige iiberlebende
Off izier seiner Eskadron, die nur noch 75 Mann zahlte, und mit der er selb-
standig noch einen Erkundungsritt nach Skalitz unternahm. Als er sich am
nachsten Tage bei dem als streng und unerbittlich geltenden General Steinmetz
meldete und auf dessen Frage, ob er wisse, dafi er durch sein Verhalten am
vergangenen Tage Arrest verdient hatte, bejahend antworten wollte, reichte
dieser ihm die Hand mit den Worten: »Zwei gut mitgerittene Attacken machen
groBe Vergehen gut, wieviel mehr das seinige, das ihm eigentlich SpaB gemacht
hatte. « Diese GroBherzigkeit, die er damals selbst erfuhr, hat er spater auch
geubt und als Vorgesetzter EntschluBfreudigkeit und ein richtiges selbstan-
diges Handeln stets anerkannt.
Im weiteren Verlaufe des Feldzuges von 1866 machte er die Gefechte bei
Schweinsschadel und Gradlitz sowie die Schlacht bei Koniggratz mit. Bei
Schweinsschadel fuhr ihm ein Granatstiick in den Rockarmel und zum EUbogen
wieder hinaus, ohne ihn weiter zu verletzen. An dieser Stelle des Unterarmes
setzte aber im Alter die Krankheit ein, die zu seinem Tode fuhrte.
Die nachsten zwei Jahre verlebte er in Oels, wo er besonders mit dem Fiihrer
seiner Schwadron, Rittmeister Otto Kaehler, befreundet wurde, der dann als
Generalmajor 1882 nach der Tiirkei ging und 1885 als kaiserlich ottomanischer
Generalleutnant und Generaladjutant des Sultans in Konstantinopel im Alter
von 55 Jahren starb. Kaehler hat groBen EinfluB auf B. ausgeiibt. Er war
neben dem Prinzen Friedrich Karl von PreuBen und dem General v. Schmidt
der Hauptverfechter der Bestrebungen, der Reiterwaffe trotz der durch die
gesteigerte Feuerwirkung der Infanterie und Artillerie veranderten Gefechts-
38 1917
verhaltnisse den friiher von ihr eingenommenen Rang und Platz wieder zu
verschaffen. Er hat B. wertvolle Manuskripte iiber Reiterausbildung hinter-
lassen, die jetzt im Reichsarchiv lagern. Kaehler ist es vor allem auch gewesen,
der B. veranlaBte, sich zum Examen flir die Kriegsakademie vorzubereiten.
Da diesem die Kriegswissenschaften ziemlich gelaufig waren, beschaftigte er
sich mit Mathematik und Geschichte, die er schon auf der Schule gern ge-
trieben hatte. Das Blut seiner aus Westdeutschland stammenden Mutter mag
ihn wohl hierzu besonders angetrieben haben. Dabei blieb er aber der flotte
Offizier, der auf den Gutern der Nachbarschaft stets gern gesehen war.
Durch viele und lange Ritte erhielt er nicht nur seinen Korper kraftig, son-
dern blieb auch stets in Verbindung mit den besten und angesehensten Fa-
milien Schlesiens. Als Priifungsaufgabe fur das Aufnahmeexamen der Kriegs-
akademie erhielt er das Thema : »Der Eintritt der europaischen Staaten in die
Reihe der GroBmachte und das Ausscheiden derselben mit Angabe der Griinde
fiir beides.« Im April 1868 bestand er das Examen und bezog, nachdem er
vom 23. Mai bis 15. September noch ein selbstandiges Remontekommando
nach OstpreuBen erhalten hatte, am 1. Oktober 1868 die Kriegsakademie, wo
er bis zum 15. Juli 1870 blieb. Wahrend der Herbsttibungen des I. und II. Ar-
meekorps 1869 war er als Ordonnanzoffizier dem Kronprinzen zugeteilt ge-
wesen.
Den Krieg von 1870/71 machte er als Adjutant beim Oberkommando der
3. Armee mit und zeichnete sich als besonders guter Meldeoffizier aus; er
nahm teil an den Gefechten und Schlachten von WeiBenburg, Worth, Beau-
mont, Sedan, Orleans sowie an der Belagerung von Paris. Am 27. Juni 1871
zum Regiment zuruckversetzt, ging er am 1. Oktober desselben Jahres zum
Besuche des dritten Kursus auf die Kriegsakademie, wo er bis zum 31. Juli
1872 blieb. Inzwischen war er am 14. Dezember 1871 zum Premierleutnant
befordert worden. Am 22. August 1872 verheiratete er sich in Dresden mit
Myrrha Wesendonck, der am 7. August 1852 in Zurich geborenen Tochter
des Kaufmanns Wesendonck und seiner Gemahlin Mathilde, der Verehrerin
und Freundin Richard Wagners. Die literarischen und kiinstlerischen Inter -
essen des jungen Offiziers erhielten durch diese Verbindung neue Nahrung.
Vom 1. Februar bis zum 30. September 1873 wurde er zur Dienstleistung
beim 1. Garderegiment zu FuB in Potsdam kommandiert, wo ihm am 22. April
sein Sohn Friedrich Wilhelm, der spatere Professor der Agyptologie, geboren
wurde. Am 15. Januar 1874 wurde er mit einem Patent vom 16. November
1871 in das 3. Badische Dragonerregiment Prinz Karl Nr. 22 nach Karlsruhe
versetzt und am 1. Mai desselben Jahres auf ein Jahr zur Dienstleistung
beim Groflen Generalstabe kommandiert. Seine Laufbahn entwickelte sich
nun schnell als die eines fiir die hochsten Stellen vorgesehenen Militars. Nach-
dem er einige Zeit wieder im Regiment Dienst getan hat, wird er am 1. Juni
1875 unter Beforderung zum Hauptmann und Stellung d la suite des General-
stabs der Armee in den GroBen Generalstab versetzt, vorlaufig im Neben-
etat und vom 23. Januar 1876 ab in etatmaBiger Stellung. Am 27. Juni des-
selben Jahres kommt er zum Generalstab des X. Armeekorps, wo er im
Herbst 1879 an der Ubung der Kavalleriedivision teilnimmt. Nachdem er am
18. September 1880 als Rittmeister eine Eskadron des Konigs-Husarenregi-
ments (1. Rheinisches) Nr. 7 erhalten hatte, wird er am 7. April 1883 als Haupt-
Bissing 39
mann in den GroBen Generalstab zuriickversetzt, am 2. Juni desselben Jahres
zum Major befordert und am 22. April des folgenden Jahres dem Generalstabe
des III. Armeekorps zugeteilt, wo er im Juni 1885 die Kavallerieiibungsreise
leitet.
Im Jahre 1887 tritt B., der dem Herrscherhause schon verschiedentlich
naher getreten war, in engste Verbindung zu dem spateren Kaiser Wilhelm II.,
indem er am 8. Marz unter Stellung a la suite des Generalstabs der Armee zum
personlichen Adjutanten des Prinzen Wilhelm von PreuBen ernannt wird.
Am 19. Juni 1888, drei Tage nach dem Regierungsantritt Wilhelms II., wird
er unter Befdrderung zum Oberstleutnant diensttuender Fliigeladjutant, erhalt
am 19. November desselben Jahres als Kommandeur die Leibgendarmerie
und wird am 18. Februar 1889 unter Belassung in dem Verhaltnis eines Fliigel-
adjutanten Kommandeur des Regiments der Gardedukorps und am 23. Mai
des folgenden Jahres zum Oberst befordert.
Inzwischen war seine Gemahlin am 20. Juli 1888 in Munchen verstorben.
Zwei Jahre spater, am 15. Oktober 1890, verheiratete sich B. zum zweiten
Male mit Alice Grafin von Konigsmarck, die am 24. Oktober 1867 in Kamnitz
geboren war und dem altmarkischen Uradel entstammte. Ihrer Ehe entspros-
sen drei Kinder. In seiner neuen Gemahlin f and B. nicht nur die liebende Gattin
und sorgende Mutter der Kinder, sondern seine treueste Mitarbeiterin, welche
nicht nur seine zahlreichen Briefe, Reden, Vortrage und Denkschriften nach
seinem Diktat mit der Schreibmaschine niederschrieb, sondern auch den Inhalt
mit ihm gemein3am bearbeitete, wie zahlreiche Verbesserungen von ihrer Hand
neben der ihres Mannes in den Konzepten beweisen.
Unter weiterer Belassung als Fliigeladjutant erhielt B. am 20. Mai 1893 die
4. Kavalleriebrigade und wurde am 17. Marz des folgenden Jahres zum General-
major befordert. Jetzt konnte er seine Auffassung uber die Bedeutung der
Kavallerie nachdrucklich zur Geltung bringen und ihre Weiterentwicklung ent-
scheidend beeinflussen. Im Juni 1894 leitete er die Kavallerieiibungsreise des
Gardekorps und nahm im Juni 1896 an der grofleren Kavallerieiibungsreise
unter Leitung des Inspekteurs der 2. Kavalleriedivision teil. Im Mai 1897
leitete er personlich die erste Ubungsreise der 1. Kavallerieinspektion und im
darauffolgenden Juni die zweite Ubungsreise der 1. Kavalleriedivision. Am
5. August desselben Jahres wurde er zur Fuhrung der Kavalleriedivision B
beim XI. Armeekorps kommandiert und erhielt am 1. September 1897 die
29. Division. Am 10. desselben Monats wurde er zum Generalleutnant befordert.
Nachdem er vom 12. bis 25. Oktober 1899 zum ersten Informationskursus
bei der Feldartillerieschiefischule in Jiiterbog kommandiert worden war, wurde
er am 18. Mai 1901 im Alter von 57 Jahren zum Kommandierenden General
des VII. Armeekorps in Minister i. W. ernannt und am 27. Januar 1902 zum
General der Kavallerie befordert. Uber sechs Jahre ist er Kommandierender
General des westfalischen Armeekorps gewesen.
B.s Streben ging nach selbstandiger Verwendung groBerer Kavalleriemassen,
wobei er besonderen Wert auf die Ausbildung der Kavallerie im Gefecht zu
Fufi legte. Er verfocht seine Gedanken auch schriftstellerisch und nahm ver-
schiedentlich Stellung zu den literarischen AuBerungen anderer, wobei er vor
allem die Arbeiten des Generalleutnants v. Pelet-Narbonne hoch einschatzte.
Aufklarung und Sicherung trennte er scharf als zwei verschiedene Aufgaben
40 1917
der Kavallerie, dzu deren Losung verschiedene, wenn auch sich erganzende
MaBnahmen erforderlich* seien. Besonders auf die Sicherungsfrage legte er
groBen Wert. »Die oft wiederkehrende Sehnsucht nach der schiitzenden In-
fanterie muB iiberwunden werden.* Wenn die Ansicht vorherrsche, »dieNahe
des Feindes meiden zu miissen, weil man sich schutzlos fuhlt«, dann wiirde
»auch im zukunftigen Kriege die Fuhlung am Feinde wieder verlorengehen,
seine Spuren sich verwischen, die Aufklarung unterbrochen werden*. Um eine
solche Lage der Kavallerie zu verhindern, sah B. das beste Mittel in einer
weittragenden, sicher treffenden und gerade fur den Sicherungsdienst wichtigen
SchuBwaffe. Es sind immer wieder die Lehren der Geschichte, die B. bei der
Beurteilung militarischer Handlungen oder Notwendigkeiten heranzieht. Da-
bei zeigt er oft eine iiber das rein Militarische hinausgehende umfassende histo-
rische Bildung. In den eingehenden Abhandlungen iiber die verschiedenen
Manover seines Armeekorps, die er im Druck alien seinen Off izieren zuganglich
machte, tritt deutlich sein Streben nach Objektivitat in der Kritik, sein Ringen
um Klarheit und Gerechtigkeit des Urteils hervor. Er verlangte von seinen
Offizieren, daB seine Auseinandersetzungen und Schilderungen micht als
eine zeitvertreibende Sofalektiire* angesehen werden durften, sondern »zum
eifrigen Studium, vornehmlich denjenigen, welche bereit seien, auch kritisch
seine Ansichten zu uberlegen*. Denn wenn er auch stets scharf seine wohl-
erwogene Ansicht vertrat, so war ihm doch jegliche Uberheblichkeit fremd,
und er war sich des Problematischen alles menschlichen Handelns wohl bewuBt.
»Nichts kann mir ferner liegen,« schreibt er einmal, »als zu wiinschen und zu
erwarten, daB man glaubt, ich hatte fur alle Verhaltnisse brauchbare Rezepte
geben wollen. Je mehr man sich in die Kunst der Truppenfuhrung vertieft, je
mehr man iiber die besten Mittel nachdenkt, die zu Erfolgen fuhren konnen,
um so mehr kommt man zu der Uberzeugung, daB selbst allgemein anerkannte
Grundsatze nfcht ausreichen, um die wechselnden Lagen, die zahlreichen
Zwischenfalle, welche im Verlauf der Handlungen eintreten konnen, stets
fehlerfrei zu iiberwinden. Wissen und Konnen muB sich erganzen; die Eigen-
schaften des Charakters tragen wesentlich dazu bei, in kritischen Lagen wenn
auch nicht immer das Beste, so doch Brauchbares zu leisten.« In seinen Erlassen
als Kommandeur und kommandierender General hat B. immer wieder darauf
hingewiesen, den einzelnen Mann bei aller Strenge der Disziplin zur Selb-
standigkeit zu erziehen und in ihm den Mut zu wecken, im gegebenen Falle
unter eigener Verantwortung zu handeln. Wie B. fiir jeden seiner Soldaten wie
fiir jeden ihm Untergebenen stets ein vaterliches Herz hatte, so verlangte er aber
auch vom Ersten bis zum Letzten strengste Pflichterfiillung ohne irgendwelche
Rucksicht auf Rang oder Geburt. Das Verhaltnis zu seinem Herrscher f aBte er
als Mannentreue auf, von der er in edelster Weise beseelt war; gerade diese Auf-
fassung befahigte inn, auch dort seiner Meinung freimiitigen Ausdruck zu
verleihen. Es war nur natiirlich, daB die Scharfe seiner Kritik und die Strenge
seiner Anforderungen, wenn er sie auch zuerst gegen sich selbst iibte, manchem
unbequem war. So sehr auch seine ehrliche Sachlichkeit riickhaltlos anerkannt
wurde, so blieb er doch nicht ohne personliche Gegner. Nachdem er am
ii. September 1907 noch den Schwarzen-Adler-Orden erhalten hatte, wurde
ihm bald darauf die Absicht mitgeteilt, einen Wechsel im Kommando des
VII. Armeekorps eintreten zu lassen. B. erlieB daraufhin im November an
Bissing 41
die ihm unterstellten Truppen folgenden Korpsbefehl : »Nachdem Seine Maje-
stat der Kaiser und Konig mir hat mitteilen lassen, daB Allerhochst derselbe
das VII. Armeekorps, das ich fast 7 Jahre mit besonderer Auszeichnung und
zu seiner dauerden Zufriedenheit gefiihrt hatte, deshalb neu besetzen wolle,
weil jiingere Krafte zu ihrer Verwendung im Ernstfalle sich im Frieden darauf
vorbereiten miiBten, habe ich Seiner Majestat gemeldet, daB ich am 1. Januar
1908 mein Abschiedsgesuch einreichen werde. Ich hoffe, daB ich in der Zeit,
in welcher es mir noch vergonnt ist, mein schones Armeekorps zu fiihren,
einzelne Standorte besuchen kann, urn meinen Untergebenen, die mir so sehr
ans Herz gewachsen sind, Lebewohl zu sagen.« Als dieser Korpsbefehl, der
fur den offenen und geraden Charakter B.s spricht und der in der Offent-
lichkeit groBes Aufsehen erregte, dem Kaiser bekannt wurde, lieB dieser B.
am 29. November seine MiBbilligung aussprechen, worauf B. am 8. Dezember
sein Abschiedsgesuch vorlegte, welches am 12. Dezember 1907 bewilligt wurde.
B. wurde mit der gesetzlichen Pension zur Disposition gestellt. Erst am
24. Januar 191 2 hat ihn dann der Kaiser a la suite des Regiments der Garde-
dukorps gestellt. So schmerzlich B. auch seine Entlassung und vor allem die
Auslegung seines letzten Korpsbefehls trafen, so war er doch nicht der Mann,
der sich dadurch hatte beugen lassen oder der in wohlverdienter Ruhe den
Rest seiner Lebenszeit in beschaulichem Dasein verbracht hatte.
Vom Kaiser nach seiner Verabschiedung wegen seiner reichen Erfahrung in
das Herrenhaus berufen, widmete er sich sofort mit seiner ganzen Tatkraft,
unterstutzt von seiner Gemahlin, der Wohlfahrts- und Jugendpflege. Er
nahm seinen Wohnsitz in Rettkau bei Gramschutz im Kreise Glogau und
begann planmaBig die Weiterbildung und Erziehung der schulentlassenen
landlichen Jugend in ganz Schlesien zu fordern. Er griff die Gedanken auf,
die von dem »Deutschen Verein fur landliche Wohlfahrts- und Heimat-
pflege* vertreten wurden, der 1903 als Nachfolger des seit 1896 wirkenden
» Ausschusses fiir Wohlfahrtspflege auf dem Lande« gegriindet worden war. Es
kam B. vor allem darauf an, die schulentlassene Jugend in der Zeit zwischen
der Schulzeit und dem Militardienst zu erf assen und sie in diesem fiir die weitere
Entwicklung so gefahrlichen und so einfluBreichen Alter in vaterlandischem
und konigstreuem Sinne weiterzubilden, wobei er immer wieder betonte, daB
jede Einseitigkeit in der Ausbildung vermieden, vielmehr sowohl die korper-
liche wie die geistige Weiterentwicklung beriicksichtigt werden musse. Ganz
bewuBt war seine Arbeit dabei als eine Abwehrhandlung gegeniiber den immer
weiter um sich greifenden sozialdemokratischen Gedanken gedacht. Seiner an-
spornenden Tatigkeit war es zu verdanken, daB der erwahnte Verein eine Pro-
vinzialabteilung Schlesien griindete, deren Satzungen am 12. Januar 1910 ge-
fai3t wurden und deren Vorsitzender B. wurde. Das praktische Mittel einer
Weiterbildung der Jugend sah dieser in der Fortbildungsschule und suchte des-
halb in zahlreichen Vortragen in verschiedenen Orten, in Aufsatzen sowie in Re-
den und Antragen im Herrenhause fiir die Ausbreitung dieser Schulgattung
auch auf dem Lande zu wirken. Ohne die Beratungen staatlicher Organe abzu-
warten, griff er zur Selbsthilfe, indem er zuerst in seiner Gemeinde Rettkau
eine Fortbildungsschule einrichtete und dann auch andere, gleichgesinnte Per-
sonen veranlaBte, seinem Beispiele in den anderen landlichen Gemeinden seines
Kreises zu folgen. Von Anfang an war er darauf bedacht, nicht nur einzelne
42 1917
Berufskreise zu gewinnen, sondern die Masse der Jugendlichen zu erreichen,
weshalb er zwar bereit war, mit den bestehenden Jugendvereinen zusammen-
zuarbeiten, die vorwiegend konfessionellen Charakter hatten, ihnen aber keines-
wegs das ausschlieBliche Vorrechtder Jugenderziehung einraumen wollte; denn
fur ion gait es, auch die der religiosen Einwirkung bereits entf remdete Jugend
fur eine sittliche und vaterlandische Erziehung zuruckzugewinnen. Als er im
Jahre 1909 in der Gemeinde Rettkau mit seinen Gedanken hervortrat, berief
er eine Versammlung der Gemeindemitglieder und befragte diese, ob sie ihm
und dem Lehrer Menzel die Einrichtung einer Fortbildungsschule in der Ge-
meinde anvertrauen wollten. Mit ihrer Unterstiitzung und mit Hilfe der Re-
gierungsvertreter der Provinz, des Bezirks und des Kreises konnte er am
1. Dezember 1909 seine Schule eroffnen. In der ersten Zeit hat B. den Unter-
richt groBtenteils selbst erteilt, wobei er neben geographischen Verhaltnissen
der Heimat vor allem geschichtliche Stoffe zugrunde legte. Am 9. April des
folgenden Jahres hielt er in Gramschiitz vor 70 Lehrern des Kreises Glogau,
evangelischen und katholischen, einen Vortrag iiber » die landliche Fortbildungs-
schule*, der ungeteilten Beifall fand. In der » Katholischen Schulzeitung fiir
Norddeutschland« veroffentlichte B. am 13. und 20. Oktober 1910 einen Aufsatz
iiber »Die landliche Fortbildungsschule «. Am 2. Juli 1910 war der pflichtmaBige
Besuch von landlichen Fortbildungsschulen in der Provinz Schlesien dort, wo
die Gemeinden bereit waren, solche Schulen einzurichten, durch Gesetz be-
schlossen worden, wie es bereits vorher 1904 fiir die Provinz Hessen-Nassau
und 1909 fiir die Provinz Hannover geschehen war. Als dieser Unterricht dann
auch in den iibrigen preuBischen Provinzen eingefuhrt werden sollte, hat B.
191 1, 1912 und 1913 in den Kommissionen und als Berichterstatter im Plenum
des Herrenhauses wiederholt das Wort ergriffen. Seine Arbeit ging nicht immer
ohne Widerstand vonstatten. In der umstrittenen Frage, ob die Volksschul-
lehrer oder die Geistlichen berufen seien, als Fortbildungsschullehrer zu wirken,
vertrat B., wie aus Aufsatzen von ihm im »Roten Tag* vom 30. Juli und
1. August 1911 hervorgeht, den Standpunkt, »daB die Volksschullehrer, wie
die Verhaltnisse auf dem L,and liegen, in der Regel allein befahigt und allein
verfiigbar seien, den Unterricht im Nebenamt zu ubernehmenct, und dafl »dies
auch fast ausnahmslos freudig und mit treuester Hingabe dort geschehen sei,
wo Fortbildungsschulen errichtet wurden*. Seiner ganzen, jeder Einseitigkeit
und jedem Doktrinarismus abholden Einstellung gemaB fiigte er aber hinzu,
daB jene Erfahrung nicht zu der SchluBfolgerung fuhren diirfe, »daB jeder
Volksschullehrer als solcher geistig und korperlkih, und zwar allein, zur Er-
teilung des Unterrichts brauchbar sei« ; wenn die notwendigen Vorbedingungen
fiir eine fruchtbringende Tatigkeit nicht ausreichten, so miisse fiir Ersatz ge-
sorgt werden. »Ob durch Geistliche oder durch geeignete Mitglieder anderer
Stande, dariiber entscheiden die besonderen Umstande.« In der Frage des
Religionsunterrichtes an Fortbildungsschulen war B. gegen eine zwangsweise
Einfiihrung, da gerade derjenige, der »es ernst meint mit der Religion, die
Heuchelei, welche bei ausgeiibtem Zwange unvermeidbar ist, verurteilen
muB«. Die Erhaltung des religiosen Sinnes in der Jugend lag ihm nichts-
destoweniger sehr am Herzen, und er hat in seiner gesamten Tatigkeit auf
dem Gebiete der Jugendpflege viel und eng mit Geistlichen beider Konfes-
sionen zusammengearbeitet. Die Fortbildungsschule hatte aber nach seiner
Bissing 43
Auffassung andere Aufgaben zu erfiillen und auf die Gesamtheit der Jugend-
Hchen zu wirken.
So sehr B. die landliche Fortbildungsschule als das beste Mittel der weiteren
Erziehung der landlichen Jugend ansah, so hat er doch auch den zahlreichen
anderen Bestrebungen, die von vielen verschiedenartigen Vereinen in der
Jugenderziehung verfolgt wurden, seine Aufmerksamkeit und seine Mitarbeit
gewidmet. Als der Kaiser ihn im Jahre 19 10 aufforderte, eine Organisation der
schulentlassenen Jugend nach dem Vorbild der von dem englischen General
Baden- Powell errichteten *Boy-Scouts« zu entwerfen, hat B. in einer Immediat-
eingabe im Juli 1910 ausfuhrlich dazu Stellung genommen und seine Gedanken
dem Kaiser in Gegenwart des Kriegsministers und des Kultusministers auch
personlich erlautert. Es ist der erste Vorschlag einer planmaBigen Zusammen-
fassung der Jugend gewesen, die spater unter dem Namen » Jungdeutschland«
als Griindung des Generalfeldmarschalls v. d. Goltz in das Leben trat. B. nennt
in seiner Denkschrift die Organisation der Jugend, d. h. die Zusammenfassung
aller Bestrebungen, welche zum Nutzen der Jugend und im Belang des Staates
wirken wollen, eine »nationale und sozialpolitisch notwendige Aufgabe*. Nach-
dem er die ahnlichen Bestrebungen in Italien, in Frankreich, Amerika und in
der Schweiz kurz besprochen hat, geht er auf die englische Organisation ein
und kommt dabei zu dem SchluB, daB bei aller Anerkennung der Bedeutsam-
keit der Einrichtung des Generals Baden-Powell doch dessen *Boy-ScotUs«
nicht in ihrer auBeren Form von Deutschland iibernommen werden konnten.
Denn in Deutschland gabe es bereits, was in England bisher nicht der Fall
gewesen sei, eine staatliche Fiirsorge und eine — fast zu groBe Anzahl von
Vereinen, die die Grundlage fur den Auf- und Ausbau einer Zusammenfassung
geben wurden. Eine neue Organisation wiirde die Wirksamkeit der bestehenden
nur schmalern. Auch sei die Freiwilligkeit des Beitritts nachteilig, weil dadurch
gerade diejenigen Elemente, die am notwendigsten zu erziehen seien, fortbleiben
wurden. Deshalb set es besser, die Fortbildungsschulen als Trager und die be-
reits bestehenden Vereine als Heifer der Organisation der preuBischen Jugend
zu betrachten. B. kam so zu dem Vorschlage: Einheitliche Leitung der be-
stehenden verschiedenartigen Organisationen, die bisher vorwiegend in den
Stadten wirkten, mit gemeinschaftlichem Programm, und fur das Land, wo
durchweg Neues geschaffen werden musse, Dezentralisation mit einheitlicher
Richtung der Vertrauensmanner in Orts-, Kreis- und Bezirksausschiissen unter
Beteiligung der Vertreter der Behorden. B. stellte elf Leitsatze auf, aus denen
hervorgeht, daB es ihm nicht um eine militarische Vorbildung der Jugend zu
tun war, weil dies nach seiner Auffassung gar nicht moglich sei, sondern um
eine allseitige korperliche und geistige Gesundhaltung und Tiichtigkeit, die
die beste Gewahr fiir eine spatere erfolgreiche militarische Ausbildung abgabe.
Deshalb betonte er besonders die Leibesiibungen und verstand darunter »das
volkstumliche Turnen, die Turn- und Jugendsptele, die Wandermarsche, die
Gelandetibungen, Eislauf, Skilauf, Rudern und Schwimmen«. Diese »sollen
nicht allein die korperliche Tiichtigkeit, sondern die Freude an der Natur,
die Liebe zur Heimat, die sittliche Entwicklung nach jeder Richtung hin for-
dern«. Er schlug vor, die Vorsitzenden einer Reihe von Verbanden zu einer ge-
meinsamen Besprechung einzuladen, und wies besonders auf den 1891 von
dem Abgeordneten v. Schenckendorff (s. DBJ. 1914 — 16, S. 167 ff.) gegriindeten
44 lW
»ZentralausschuB zur Forderung der Volks- und Jugendspiele* hin, auBerdem
auf die Deutsche Turnerschaft, die Ruder- und Schwimmverbande, die Zentral-
stelle fiir Volks wohlfahrt, die Jugendwehr usw. Vor allem miisse aber der
©bligatorische Fortbildungsschulunterricht eingefiihrt werden. Der Kaiser bil-
ligte im groBen und ganzen die Vorschlage B.s und beauftragte den Kultus-
minister, die weiteren Schritte zur Durchfuhrung der Organisation zu unter-
nehmen. Dieser fiirchtete jedoch einen zu starken Widerstand der einzelnen
Verbande gegen eine einheitliche Leitung; und an dieser Forderung scheiterte
B.s Organisationsplan. Wohl aber wollte der Kultusminister die in der Jugend-
pflege tatigen Vereine mit staatlichen Mitteln unterstiitzen. So war eine un-
mittelbare Folge der B.schen Denkschrift der ErlaB des Kultusministeriuins
vom 18. Januar 191 1 iiber die freiwillige Jugendpflege. Mit Hilfe der Regie-
rungsstellen sind dann eine Menge von Jugendvereinen in den einzelnen Orten
und Kreisen entstanden. Im Regierungsbezirk Liegnitz kam am 27. April 191 1
unter dem Vorsitz des Regierungsprasidenten ein AusschuB fiir jugendpflege
zustande, dem B. als Mitglied angehorte. In einer Denkschrift vom 12. Marz
wendet er sich dagegen, daB »die militarische Ausbildung der Jugend als Mittel
zum Zweck oder gar als das hauptsachlich zu erstrebende Ziel anzusehen« sei.
Er zeigt die recht erheblichen Nachteile, die aus solcher fruhzeitigen mili-
tarischen Vorbildung entstehen konnen, und schreibt unter Hinweis auf AuBe-
rungen des preuBischen Kriegsministers : » Die Armee wiinscht keinen solchen
Ersatz; sie braucht keinen mangelhaft gedrillten Ersatz, sondern geistig ge-
weckte, zur Selbstzucht und zur treuen Pflichterftillung erzogene Manner,
deren Korperkrafte gestarkt und fiir die Anforderungen des Heeresdienstes
zum Wohle des einzelnen wie zum Nutzen der Volks- und der Wehrkraft vor-
bereitet werden. « Am 1. Juli 191 1 wurde B. einstimmig in den »Zentralaus-
schuB« gewahlt und hatte damit ein weites Betatigungsfeld in ganz Deutsch-
land fiir seine Gedanken gewonnen.
Inzwischen hatte der Generalfeldmaschall v. d. Goltz den Gedanken von
Baden-Powell aufgegriffen und in einer Immediateingabe an den Kaiser vom
6. Juli 1911 den Plan des Bundes » Jungdeutschland« entwickelt. Dieser ent-
sprach in den Grundziigen den B.schen Gedankengangen. Nur lieB er einmal
die Betonung der Fortbildungsschulen auBer acht und ermoglichte anderer-
seits, daB neben den bestehenden Organisationen, die ganz wie bei B. in einer
einheitlichen Leitung zusammengefaBt werden sollten, auch selbstandige Grup-
pen des neuen Bundes entstehen konnten. Dazu kam, daB der Goltzsche
Plan ganz auf die militarischen Kreise eingestellt war. Soweit dieser Plan
von dem B.s abwich, stand er auch nicht im Einklang mit den bisherigen
MaBnahmen des Kultusministeriuins. Der Kaiser war auf die freiwilligen Jugend-
wehren nach Art der englischen Boy-Scouts zuriickgekommen und lieB am
25. September 191 1 durch den Chef des Zivilkabinetts v. Valentini bei B. an-
fragen, ob er sich noch mit dieser Frage weiter beschaftige und ob etwa schon
Versuche mit der Bildung derartiger Wehren angestellt worden seien. Es ist
bisher nicht deutlich geworden, wie es zu dieser mit der fruheren Besprechung
in Gegensatz stehenden Anfrage gekommen ist. B. war jedenfalls stark iiber-
rascht, als er erst wenige Wochen vor der konstituierenden Versammlung von
»Jungdeutschland« von den Goltzschen Planen etwas erfuhr. Er auBerte sofort
freimiitig den Regierungsstellen seine Bedenken gegeniiber einer Neugriin-
Biasing 45
dung. Als er aber von dem Kommandierenden General des V. Armeekorps
aufgefordert wurde, fur den Bereich der 9. Division im Regierungsbezirke
Liegnitz das Amt eines Vertrauensmannes zu iibernehmen, stellte er seine
Erfahrung und seine Kraft ohne jede Verargerung opferbereit zur Verfii-
gung. Die Bundesleitung, deren Vorarbeiten ohne jede Befragung oder Be-
nachrichtigung B.s vor sich gegangen waren, konnte jedoch nicht an ihm vor-
beigehen und wahlte ihn in der konstituierenden Versammlung am 13. No-
vember 191 1 zu ihrem Mitglied. B. hat dann in den folgenden Jahren in zahl-
reichen Vortragen in den verschiedensten Vereinen in Liegnitz, Bunzlau, Griin-
berg, Liiben, im Verein Deutscher Studenten in Breslau und in Halle, in der
Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer in Berlin usw. fur die Ge-
danken von »Jungdeutschland« gewirkt. Dabei hat er immer versucht, die
Masse der Jugend zu erreichen, und auch angestrebt, nach Moglichkeit iiber die
militarischen Kreise hinaus auch die anderen Stande zur Mitarbeit heranzu-
ziehen, wobei er von dem Regierungsprasidenten von Liegnitz, dem Freiherrn
v. Seherr-ThoB, unterstiitzt wurde, mit dem er auch seinen ersten Aufruf vom
21. Juni 1912 eingehend besprach. »Jugenderziehung« war ihm, wie er einmal
gesagt hat, »in besonderer Weise personliche Arbeit. Nicht als Aufsichts-
beamter, auch nicht als Gonner und Wohltater darf der Leiter unter die Jugend
treten, sondern als ihr An wait, nicht nui in ihren religiosen, sondern auch in
ihren sozialen und wirtschaftlichen N6ten.« Es kam ihm dabei auf die Aus-
bildung der ganzen Personlichkeit an. Mit Sport, Spiel und Leibesiibungen
allein kame man nicht aus; die korperliche Trainierung konne nur als ele-
mentare Vorarbeit fiir die sittHche Erziehung gelten, da, wie er in einer
Rede im Herrenhaus am 18. Marz 19 14 ausfiihrte, »in alien Lebenslagen,
auch wenn auf dem Schlachtfelde die Kugeln pfeifen, das Entscheidende
die Seelenkrafte des Menschen sind.« DaB B. bei einer solchen Auffassung
berufen war, eine vermittelnde Rolle sowohl in der Bundesleitung wie auch
zwischen dieser und den verschiedenen kirchlichen Verbanden zu spielen, ist
nur naturlich. Wahrend es ihm dabei oft gelang, Bedenken katholischer Kreise
zu zerstreuen, vor allem durch seine Verhandlungen mit dem Fiirstbischof
Kopp von Breslau (s. DBJ. 1914 — 16, S. 48 ff.), ist es auffallig, daB ihm, dem
Evangelischen, gerade die evangelische Synode und die Superintendenten oft-
mals Schwierigkeiten bereiteten, wahrend die Geistlichen in seinem Bezirke
mit ihm zusammenarbeiteten. Nach dem Tode des Generalfeldmarschalls
v. d. Goltz war B. die angewiesene Person, um dessen Nachfolge anzutreten.
Eine im Jahre 1916 von den Mitgliedern der Bundesleitung Dernburg, Do-
minicus und v. Mendelssohn ergehende Bitte lehnte er zunachst wegen starker
Arbeitsiiberlastung — B. war damals Generalgouverneur in Belgien — und
auch deshalb ab, weil noch ganz ungeklart sei, wie die Verhaltnisse sich nach
dem Kriege entwickeln wiirden. Als er dann aber einstimmig zum Vorsitzenden
gewahlt wurde, bat er am 14. Oktober 19 16 den Kaiser in einem Immediat-
gesuche, die Annahme der Wahl zu genehmigen. Dabei machte er sofort wieder
Organisationsvorschlage, um den Bund den durch den Krieg veranderten
Verhaltnissen anzupassen. Die bald einsetzende Krankheit und der darauf-
folgende Tod verhinderten eine Ausfuhrung dieser Gedanken.
Neben der Frage der Fortbildungsschule und der allgemeinen Jugendpflege
beschaftigten B. auch andere Fragen, wie die Fursorgeerziehung Minder jahriger
46 1917
und die Errichtung von Horten f iir Schulkinder, welche Fragen er im Herrenhaus
ofter behandelte, oder die Landarbeiterfrage, die er 19 14 kurz vor Aus-
bruch des Weltkrieges zusammen mit dem Landesokonomiekollegium und nicht
ohne Gegenwirkung der Schlesischen Landwirtschaftskammer in Angriff nahm.
Besonders erfolgreich war seine Mitarbeit in der Forderung der landlichen
Krankenpflege durch Helferinnen, die der leitende Arzt der Heilanstalten von
Gorbersdorf, Dr. Weicker, betrieb. Seitdem von 191 1 ab B. in Zusammenarbeit
mit Dr. Weicker und unterstiitzt von dem Geschaftsfiihrer der Provinzial-
abteilung Schlesien des Deutschen Vereins f iir landliche Wohlfahrts- und Hei-
matpflege, dem Lehrer Tiffert in Brieg, dieser Frage seine Tatkraft widmete,
ging es mit dieser sozialen Arbeit schneller vorwarts. B. hielt auch iiber diese
Seite der Wohlf ahrtspflege wiederholt Vortrage, nicht nur in Schlesien, sondern
auch in Pommern.
Auch sonst war B. unermiidlich tatig. Er verteidigte das Offizierkorps gegen
die Angriff e desObersten Gaedke, der im » Berliner Tageblatt* am 25. Marz 19 11
den Offizieren, besonders in den sogenannten adligen Regimentern, allgemein
die Sucht des Hazardspieles vorgeworfen hatte; B. antwortete ihm in der
»Kreuzzeitung« vom 18. April mit einem Artikel: »Kein Spielteufel im
Heere.« Verschiedentlich hielt er auch Ansprachen an historischen Erinnerungs-
tagen.
Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges nahm er ein neues groBes Arbeitsfeld
in Angriff, indem er im Mai 1914 im Henenhause einen Antrag auf Einfuhrung
der Sexualpadagogik einbrachte. Diesen Gedanken, die Gesunderhaltung unseres
Volkes durch sexuelle Erziehung, nicht durch sexuelle Aufklarung, zu sichern,
hat er dann auch als Generalgouverneur in Belgien weiter verfochten. Wenige
Wochen nach seiner Ernennung besprach er in den letzten Tagen des Dezember
1914 mit Vertretern der Landesversicherungsgesellschaften, vvie die schwierige
Frage des Kampfes gegen die Geschlechtskrankheiten in Feindesland zu losen
sei. Ihn leitete dabei in erster Linie die Sorge um die Erhaltung der Tiichtigkeit
und Leistungsf ahigkeit der deutschen Truppen ; zugleich aber galten seine MaB-
nahmen auch der Gesundung des belgischen Volkes. Seinen eingreifenden MaB-
nahmen war es zu verdanken, daJ3 die Zahl der Geschlechtskranken vom Januar
1915 ab sehr schnell abnahm. Doch B. blieb dabei nicht stehen. In der Er-
offnungsrede einer zur Behandlung dieser Frage nach Bnissel einberufenen
Versammlung fuhrte er am 8. Dezember 1915 aus, daB in der Auffassung
dieser Dinge ein grundsatzlicher Wandel eintreten miisse. Madchen undFrauen
fielen der Verachtung anheim, obwohl oft der Mann die Schuld trage; der
geschlechtskranke Mann dagegen werde nur »bedauert«; neben den hygieni-
schen, sanitaren, charitativen und sozialen MaBnahmen sei vor allem eine
sexuelle Erziehung des Mannes notwendig. Wenn in dieser fur die Volksge-
sundheit so wichtigen Frage eine Wandlung eingetreten ist, so hat B. das
Verdienst, in einer Zeit, wo man diese Dinge nur mit Scheu nannte, offen
die Wunde aufgedeckt und auch riickhaltlos Mittel zu ihrer Heilung ange-
geben zu haben.
Der Ausbruch des Weltkrieges berief B. als stellvertretenden Kommandie-
renden General des VII. Armeekorps nach seiner alten soldatischen Wirkungs-
statte in Miinster in Westfalen, wo er vom 2. August bis zum 27. November
blieb. An diesem Tage wurde er als Nachfolger des nach der Tiirkei versetzten
Bissing 47
Generalfeldmarschalls v. d. Goltz zum Generalgouverneur in Belgien ernannt.
Am 24. Dezember erfolgte seine Beforderung zum Generalobent. Damit trat
der Siebzigjahrige auf das Forum der Weltgeschichte. Die nicht ganz zwei-
undeinhalb Jahre, die ihm noch zu leben vergonnt waren, stellten ihn vor die
Aufgaben eines Herrschers iiber ein reich bevolkertes und von feindlichen
Heeren besetztes Land, die nicht nur militarische, sondern vor allem staats-
mannische Leistungen erforderten.
Am 8. Dezember 1914 traf B. in Briissel ein und ging sofort mit der ihm
eigenen Tatkraft an die Verwaltung des L,andes, fiir die er sich allein dem
Kaiser verantwortlich fuhlte. Diese Stellung als »selbstandiger Verwalter des
ihm vom Kaiser anvertrauten Okkupationsgebietes* hat er wiederholt betont,
vor allem gegentiber der Obersten Heeresleitung, wenn diese von ihm MaB-
nahmen verlangte, die er mit seinen Verwaltungsgrundsatzen schwer in Ein-
klang bringen konnte. Dabei vertrat er mit der alten Leidenschaftlichkeit, die
oft nicht ohne Scharfe war, seinen Standpunkt. Da die beiden Provinzen Ost-
und Westflandern nicht zum Generalgouvernement gehorten, sondern zur
Etappe der 4. Armee und zum Marinekorps, ergaben sich bei der Durch-
fuhrung seiner politischen und wirtschaftlichen MaBnahmen nicht selten
Schwierigkeiten, besonders mit dem Armeeoberkommando der 4. Armee. Bei
aller Scharfe war B. aber jederzeit bereit, in offener Aussprache strittige Fra-
gen zu klaren, und hat spater auf diese Weise mit dem Marinekorps eng zu-
sammengearbeitet. Gegeniiber dem Reichskanzler und den Reichsbehorden,
denen er personlich nicht unterstand, von denen aber wohl die Beamten seines
zivilen Stabes ernannt wurden, und welche die Richtlinien fiir die zu befolgende
Politik angaben, hat er in offener und ruckhaltloser Weise seine Meinung ver-
treten und sie manchmal vor vollendete Tatsachen gestellt. In der Flamen-
politik ist er mit dem Reichskanzler v. Bethmann Hollweg in Ubereinstim-
mung vorgegangen und hat sich dessen Ansichten angeschlossen, auch wenn
er erst anderer Meinung war. Dabei wurde von der Reichsleitung der Grund-
satz B.s, in »wohluberlegter, geduldiger, zaher und ausdauernder, vorsichtig
abwagender Kleinarbeit« vorzugehen, durchaus gutgeheiBen. B. hat die Ziigel
in Belgien fest in der Hand gehalten, was bei den vielen militarischen und
zivilen Behorden in Belgien und in Deutschland, die alle mehr oder weniger
etwas zu sagen hatten, nicht leicht war. Er wollte wirklich selbst verwalten
und nicht nur eine dekorative Spitze sein. Er hielt sich deshalb auch nicht an
den bureaukratischen Instanzenzug und lieB sich oft von nachgeordneten
Stellen unmittelbar Vortrag halten oder Bericht erstatten, ohne den Zwischen-
instanzen vorher da von Nachricht zu geben. Dieses selbstandige Eingreifen
ermoglichte es ihm, sich schnell iiber Einzelheiten zu unterrichten, und zwang
seine Untergebenen zu rastloser Tatigkeit. Gegen den Willen seines Verwal-
tungschefs und ohne die Reichsregierung zu fragen, die sich die Organisation
der Verwaltung in Belgien vorbehalten hatte, machte er die Abteilung I des
Verwaltungschefs zur selbstandigen, ihm unmittelbar unterstellten Politischen
Abteilung (13. Februar 1915) und begriindete dies mit »Abkurzung des In-
stanzenzuges*. Einen Monat spater, am 6. Marz, loste er, diesmal nach vor-
herigen Verhandlungen mit dem Reichsministerium des Innern, die Bank-
abteilung als selbstandige Behorde vom Verwaltungschef los. Der Grundsatz
seiner Verwaltung war, wie er es einmal in der Eroffnungsrede anlaBlich der
48 1917
Tagung richterlicher Militarjustizbeamter in Briissel am 29. Juni 1916 aus-
gesprochen hat, »daB das Volk, welches jetzt unter unserer Macht stent, nicht
mit HaB und Vergeltungswut behandelt wird. Denn es gehdren tatsachlich
ganz andere Faktoren dazu, ein feindliches Volk zu leiten, in Ordnung zu
halten; schlieBlich ist auch der Verwalter eines solchen Landes verpflichtet,
die Wohlfahrt wieder zu heben, das Land trotz der Not des Krieges zu starken
und, trotz der vor alien Dingen zu beachtenden militarischen Riicksichten,
wieder lebensfahig zu machen.« Er betonte, daB die volkerrechtlichen Be-
stimmungen seine »Handlungen und MaBnahmen auch in richterlicher Be-
ziehung als Grundlage voll und ganz beherrschen*, und hoffte, daB die wich-
tigen Fragen des Volkerrechts, die auf der Tagung behandelt werden sollten,
dazu beitragen mochten, »wenn auch nicht fiir den Augenblick, so doch fiir
die Zukunft wieder ein Volkerrecht zu schaffen und die Moglichkeit zu geben,
daB die jetzt feindlichen Lander, die sich bis zum WeiBbluten bekampfen, in
absehbarer Zeit wieder zur Einigkeit, zu gemeinsamen Kulturaufgaben ge-
langen*. Welcher Staatsmann oder Militar der Entente hat im Jahre 1916
solche volkerversohnenden Wiinsche ausgesprochen ! B. war sich der groBen
Schwierigkeit, ein besetztes Land zu verwalten, wohl bewuBt und immer darauf
bedacht, den richtigen Mittelweg zwischen einer zu strengen und einer zu
milden Behandlung zu finden. »Ich durfte,« schreibt er am 25. November 1916
einmal an den Chef der Obersten Heeresleitung, Generalfeldmarschall von
Hindenburg, »weder den Gefiihlen der Vergeltung nachgeben noch danach
streben, die Liebe des Volkes zu gewinnen. Mir muB es genug sein, wenn ich
mir die Achtung erworben habe.« So kam es, daB die Belgier, wenn er die
durch den Krieg notwendigerweise gebotenen MaBnahmen durchfuhrte, in
ihm ihren Bedriicker sahen, und daB andererseits manche deutsche Stellen
ihm zu groBe Nachsicht vorwarfen, wenn sie bemerkten, daB Belgien wieder
aufbluhte. Die belgischen Darstellungen aus der Kriegszeit geben das Bild
des bedeutendsten Generalgouverneurs ihres Landes in blindem HaB verzerrt
wieder, und auch nach dem Kriege hat sich in Belgien noch keine Feder ge-
funden, die auch nur den Versuch gemacht hatte, die Gestalt B.s vom Stand -
punkt seiner durch den Krieg ihm ubertragenen Stellung in gerechter Weise
zu beurteilen. Die Universitat Minister verlieh ihm am 1. Dezember 1915 die
Wiirde eines Dr. rer. pol. h. c, weil er ».durch weise, gerechte und zweckent-
sprechende Verordnungen und VerwaltungsmaBnahmen geradezu Mustergul-
tiges geschaffen« habe. In Deutschland hat man zwar erkannt, daB B. zu den
bedeutendsten Personlichkeiten des Weltkriegesgehort, aber das Fiir und Wider
um seine Taten und seine Wirkung hat noch keiner einheitlichen Auffassung
Platz gemacht. Dies wird so bleiben, solange die »belgische Frage* noch
im Mittelpunkt der innen- wie auBenpolitischen Leidenschaften stent, da die
fiir ein abschlieBendes Urteil notwendigen Quellen auch so lange der Offent-
lichkeit nicht zuganglich gemacht werden diirften. Manches laBt sich aber
mit Bestimmtheit heute schon sagen. B. hat sich scharf gegen den Vorwurf
verwahrt, als ob er Belgien auf Kosten Deutschlands zu Wohlstand verhelfen
wolle. Das deutsche Interesse hat ihm immer an erster Stelle gestanden, und
es war nur natiirlich, daB ein besetztes feindliches Land auch zu den Kosten
der Kriegfiihrung beitrug. Aber B. faBte seine Verwaltung als die » eines spar-
samen Haushalters«, um fiir die Zeit der Not Hilfe gewahren zu konnen. Der
Bissing 4g
Kaiser hatte ilnn nicht nur aufgegeben, Belgien entsprechend den volkerrecht-
lichen Vorschriften fiir die okkupierende Macht nutzbar zu machen, sondern
ausdriicklich aufgetragen, »soziale Politik zu treiben«. Dies hat er auch mit
alien Mitteln getan, deutsche soziale Einrichtungen eingefiihrt, fiir Kranke
und Arme gesorgt, vor allem aber versucht, die Produktionsfahigkeit des L,an-
des zu verstarken. Bei Handel und Industrie war dies bald erschopft, da die Roh-
stoffe fehlten und die uberseeische Einfuhr gesperrt war. Urn so mehr war er
besorgt, die Landwirtschaft zu heben, damit sie »auch bei Unterbrechung der
Zuf uhr aus tJbersee, wenn auch mit Not, die belgische Bevolkerung unter An-
wendung der weitestgehenden Sparsamkeit ernahren konnte«. Den Kohlenberg-
bau hat er in vollem Gange erhalten, und gegen die Abschiebung der Arbeits-
losen hat er sich mit seiner ganzen Zahigkeit so lange gestemmt, bis ihm die
Notwendigkeit der Zufuhrung belgischer Arbeiter fiir die deutsche Industrie als
fiir deren Fortbestand so dringend dargestellt wurde, da£ er aus deutschem
Interesse nachgab. Es zeigte sich bald, daB die MaBnahme verfehlt und auch
nicht notwendig war und daB seine Bedenken richtig gewesen waren.
Bei dieser Behandlung Belgiens leitete ihn einmal sein Pflichtgefuhl des
Herrschers iiber das ihm anvertraute Volk — ein Umstand, den anzuerkennen
bisher noch kein Belgier den Mut gefunden hat — , sodann aber, und dies in
-erster Linie, das deutsche Interesse, wie es auch nur natiirlich war. Die Schwie-
rigkeit der Verbindung dieser beiden Gesichtspunkte hat B. gelost; denn er hat
Belgien vor dem groBten Elend des Krieges bewahrt und hat andererseits in
Belgien dem Deutschen Reiche einen nie versiegenden Brunnen von Hilfs-
mitteln erhalten. Dabei erhebt sich die Frage, wie er sich das kiinftige Schicksal
Belgiens gedacht hat, eine Frage, mit der seine Flamenpolitik in engstem Zu-
sammenhang steht. B. kam mit den alten Gedankengangen von dem Rechte
des Eroberers nach Belgien, jedoch nicht in der Weise, daB das eroberte Land
unter alien Umstanden zu annektieren sei. Wohl aber war er der Meinung, daB
* Belgien in irgendeiner Form zur Machterweiterung Deutschlands benutzt«
werden miisse, wie er sich in einer Anweisung an die Zivilverwaltung vom
20. Februar 19 15 ausdriickte. Es sollten aber die Vor- und Nachteile sowie
die Moglichkeiten und Hemmnisse in eingehendem Studium genau untersucht
werden, und er gab deshalb in derselben Verfugung dem Verwaltungschef den
Auftrag, Erhebungen iiber den Zustand verschiedener wirtschaftlicher und
sozialer Einrichtungen in Belgien anzustellen, auf Grund welcher Verfugung
in rascher Folge mehr als vierzig Denkschriften hergestellt wurden. Die fla-
mische Bewegung war dem Generalgouverneur wie den meisten deutschen
Beamten etwas durchaus Neues. Die erste Anregung zu einer Flamenpolitik
kam von einigen privaten Personlichkeiten, die dann zum Teil zur Mitarbeit
nach Briissel berufen wurden. Den ersten offiziellen AnstoB gab der Reichs-
kanzler v. Bethmann Hollweg. Dieser hatte bereits am 1. September 19 14 an
den Verwaltungschef geschrieben, »die kulturelle flamische Bewegung, die ja
auch eine Bewegung zugunsten der hollandischen Sprache ist, nach Moglich-
keit sichtbar zu unterstiitzen« und »einige VerwaltungsmaBnahmen auf dem
Gebiete der Schulen in dieser Richtung zu treffen, wenn sie auch in der Kiirze
der Zeit nicht viel andern konnen«. Damals dachte man noch an eine kurze
Dauer des Krieges. Die Folge dieses Schreibens waren mehrere Besprechungen
und Verhandlungen, aber keine greifbaren WillensauBerungen. Deshalb wandte
DBJ 4
50 1917
sich Bethmann Hollweg kurz nach dem Eintreffen B.s in Briissel an diesen mit
einem ausfuhrlichen ErlaB vom 16. Dezember 1914. Dieser lautete: »Unab-
hangig von der Frage des spateren territorialen Schicksals Belgiens scheinen
mir unsere Interessen schon jetzt zu erfordern, daB das Deutsche Reich bei
einem starken Teil der belgischen Bevolkerung sich die Stellung eines natiir-
lichen Beschtitzers und zuverlassigen Freundes erwirbt und sichert. Nach Lage
der Verhaltnisse kann sich ein Gefuhl der Zusammengehorigkeit nur in den
flamischen Landesteilen heranbilden, deren tiralte Kultur und Sprache der
unserigen venvandt ist und deren berechtigte nationale Bestrebungen ixn
Kampf gegen die franzosierenden Einfliisse vor dem Kriege nur teilweise und
zogernd Anerkennung gefunden haben. Mit Dank wiirde ich es daher begruBen,
wenn Eure Exzellenz dem flamischen Problem nachhaltig und eingehend Ihr
Interesse zuwenden und daftir Sorge tragen wollten, daB alle damit in Ver-
bindung stehenden Fragen einheitlich, vielleicht von einer besonders damit zu
betrauenden Stelle, behandelt werden. Besonders wichtig erscheint, neben all-
mahlicher Fuhlungnahme mit den geistigen und wohl auch religiosen Fuhrern
der Bewegung, die weitestgehende Forderung der flamischen Sprache (unter
Verzicht darauf, in den flamischen Landesteilen der deutschen Sprache eine
iibergeordnete Rolle zuzuteilen), ferner die Ausgestaltung der Universitat in
Gent zu einer rein flamischen Lehranstalt und die Herstellung einer fiir die
militarischen Interessen annehmbaren publizistischen Verbindung zwischen
Holland und den flamischen Gebieten. Die Reichsbehorden, insbesondere das
Auswartige Amt, werden Anweisung erhalten, Euer Exzellenz Bestrebungen
in jeder Weise zu fordern. Um den in Ost- und Westflandern aus der Zuge-
horigkeit dieser Provinzen zum Operationsgebiet etwa erwachsenden Schwierig-
keiten zu begegnen, werde ich z weeks Verstandigung des Armeeoberkomman-
dos mich mit der Obersten Heeresleitung in Verbindung setzen.* Als der Ver-
waltungschef, dem B. diesen ErlaB zum Vortrag zuschrieb, zogerte, Mafi-
nahmen zu ergreifen, nahm B. die Behandlung selbst in die Hand, lieB sich von
sachverstandiger Seite auBerhalb der Verwaltung unterrichten und erlieB am
10. Januar 1915 seine Richtlinien zur Flamenpolitik. Er errichtete den Flamischen
AusschuB, dessen erste Sitzung am 16. Januar stattfand und dessen Vor-
sitzender bald der Leiter der neu errichteten Politischen Abteilung wurde. In
diesen Richtlinien gab er verschiedene Vorschriften liber Anwendung der fla-
mischen Sprache. Aber die »an sich hochbedeutenden Fragen des Ausbaues
des flamischen Schulwesens und einer flamischen Hochschule in Gent* wollte
er vorerst noch zuriickgestellt wissen. Die Verhaltnisse erschienen ihm damals
dazu noch nicht reif genug. »Die Masse des flamischen Volkes* sei »zur Zeit
durch die Ereignisse und Note des Krieges stark verstort, zum Teil noch in
MiBstimmung und Vorurteilen gegen uns befangen«, welche Stimmungen
» durch eine ausgezeichnet arbeitende geheime Verhetzung von franzosischer
Seite noch fortdauernd geschiirtd werde. Hier miisse erst durch geduldige und
zahe Kleinarbeit eine Anderung platz greifen. Dabei diirfe man aber »den
leitenden Grundgedanken der flamischen Bewegung uns Deutschen gegeniiber
nicht antasten«. Sehr klar formulierte er diesen mit den Worten: »Es sind nur
einzelne Flamen, welche direkt das Aufgehen in Deutschland wollen. Wir, die
groBe Mehrzahl der flamischen Volksgenossen, wollen Germanen mit flamisch-
niederdeutscher Kultur sein, aber nicht zu Hochdeutschen mit hochdeutscher
Bissing gT
Sprache gemacht werden. Wir wollen die volkische Selbstandigkeit der Nieder-
lande gewahrt wissen. Unsere flamische Bewegung hat als Ziel die geistige und
materielle Hebung unserer Volksgenossen durch das Mittel der heimischen
Muttersprache. Die Reichsdeutschen erkennen wir als ein uns befreundetes
Volk an, das uns stammverwandt ist, in dem wir aber keine Landesgenossen
erblicken.« So deutlich B. mit diesen Worten das Wesen der damaligen flami-
schen Bewegung umschrieb, so gab er doch den Gedanken und Wunsch nicht
preis, daB diese Gebiete fur Deutschland gewonnen werden konnten, indem
er am Schlusse seiner Richtlinien vermerkte: »Sollte die zur Zeit bestehende
Okkupation des Landes sich zu einer dauernden gestalten, so kann es meines
Erachtens keinem Zweifel unterliegen, daB durch diese Tatsache allein auf die
Dauer die im Flamentum bestehenden bedingten Sympathien eine nachhaltige
und schlieBlich auch sieghafte Starkung erfahren wiirden.* In einer Denkschrift
an den Kaiser aus dem April 1915 vertrat er noch durchaus Gedankengange,
die in den alten Gleisen verliefen, und sprach sich gegen eine Teilung Belgiens
nach Sprachgrenzen und fiir eine voile Einverleibung mit Militardiktatur und
nachfolgender Selbstverwaltung unter einem mit Vetorecht ausgestatteten
Statthalter aus. Die Politische Abteilung in Briissel, deren Mitglieder die
Trager der Flamenpolitik waren, hatte eine andere Auffassung und trat fiir
Zweiteilung des Landes ein. Obwohl diese Abteilung wie die iibrigen Zivil-
behorden dem Reichsministerium des Innern unterstellt war, brachte doch
die Zugehorigkeit ihres loiters zum Auswartigen Amt und ihr Arbeitsgebiet
es mit sich, daB sie auch in unmittelbarem Verkehr mit dem Auswartigen Amt
und damit mit dem Reichskanzler stand. In der Flamenpolitik verfolgten diese
drei gemeinsame Ziele, die von dem Gesichtspunkte ausgingen, daB die »Po-
litik in Belgien alle Eventualitaten im Auge behalten mussed und daB deshalb
»gerade die flamische Frage von dem Gesichtspunkt betrachtet werden miisse,
da£ der Ausgang des Krieges uns nicht die Moglichkeit gewahrt, nach Gut-
dunken iiber das Schicksal Belgiens zu entscheiden*. Gerade deshalb forderte
der Reichskanzler eine Beschleunigung der Losung der flamischen Fragen.
Die Politische Abteilung wurde somit der stets drangende Teil gegeniiber der
stets zogernden Zivilverwaltung. Es ist das hohe Verdienst B.s und ein deutliches
Zeichen seiner Fahigkeiten als Herrscher, daB er zwischen diesen beiden Fak-
toren stets den richtigen Mittelweg suchte und fand, daB er keineswegs starr
auf seiner Ansicht verharrte und daB er, sobald er sich von der Richtigkeit
einer anderen Auffassung iiberzeugt hatte, diese dann auch mit seiner ganzen
Tatkraft zur Durchfuhrung brachte. So hat er, wie er selbst sagt, »nur zogernd*
den Schritt zur Bildung einer flamischen Hochschule in Gent unternommen.
Aber nachdem er einmal in tJbereinstimmung und auf besonderes Andringen
des Reichskanzlers die grundlegende Verordnung fiir die Umwandlung der
Genter Universitat in eine flamische Hochschule am 15. Marz 1916 erlassen
hatte, sorgte er durch Einsetzung einer besonderen Kommission dafiir, daB
in genauester Einzelvorbereitung ein Werk aus einem GuB entstiinde. Und mit
voller Uberzeugung konnte er in seiner Ansprache bei Eroffnung dieser Uni-
versitat am 21. Oktober 1916 sagen: »Die traurigen sozialen Zustande unter
der flamischen Mehrheit des belgischen Volkes konnten ohne eine zielbewuBte
Forderung der lange vernachlassigten Rechte der Flamen nicht behoben wer-
den,* und weiter: » Keine deutsche Hochschule soil hier entstehen, aber erst
52 1917
recht keine franzosische, sondern eine im flamischen Volke wurzelnde nieder-
landische.« Schon vorher hatte B. auf Grund einer langen Denkschrift der Po-
litischen Abteilung am 27. Juni 19 16 neue Richtlinien fiir seine Flamenpolitik
herausgegeben. Eine eingehende Unterredung mit dem Reichskanzler v. Beth-
mann Hollweg in Berlin war vorausgegangen. Dabei hatte dieser den Zeitpunkt
fiir gekommen erachtet, »die Flamenbewegung auch dadurch zu fordern,
daB man eine Verwaltungstrennung vornehme und Flamen zur Mitarbeit besser
wie bisher heranzoge«. Der Reichskanzler erorterte gegeniiber B. seine Kriegs-
ziele, und diesem wurde » dadurch eine festere Grundlage fiir eine lebhaftere
Flamenpolitik gegeben«. Er sagte dem Reichskanzler zu, »auf dem bereits be-
schrittenen Wege vorwartszugehen und allmahlich MaBnahmen zu treffen,
welche seine belgische Politik fordern und der Flamenbewegung Nutzen
bringen sollen«. In den neuen Richtlinien betonte er, »daJ3 wir uns in dem
Lande, das wir angeblich mit roher Gewalt vernichten wollten, vor die Aufgabe
gestellt sehen, einem lange unterdriickten Volke zur Wiederaufrichtung und
zu hoherem Leben zu verhelfen und damit Leistungen zu vollbringen haben,
welche gerade die Entente mit England an der Spitze als ihr Kriegsziel in alle
Welt hinausschreit : ,Schutz der kleinen Nationen'. « Es sei jetzt die Zeit ge-
kommen, zu einer Verwaltungstrennung iiberzugehen. Damit kamen die von
den Flamen seit langem vorgebrachten Wiinsche der Verwirklichung nahe.
B. ging allerdings auch jetzt in der Weise seiner wohliiberlegten Kleinarbeit
vor, indem er zunachst das Kultusministerium durch die Verordnung vom
25. Oktober 19 16 in eine flamische und in eine wallonische Abteilung trennte
und fiir die iibrigen Ministerien Vorarbeiten machen lieB. Als dann zu Anfang
des Jahres 1917 die Neujahrsfriedensbotschaft des Kaisers erschien, furchteten
die Flamen, daB ihre Rechte, falls es tatsachlich zu Friedensverhandlungen
komme, weniger sicher durchgesetzt werden konnten, wenn sie keine eigene
Vertretung hatten. Deshalb stellten 46 Obmanner aller Gruppen am 7. Januar
1917 in Brussel die Forderung auf: »Die Flamen in Belgien fordern fiir Flandern
vollstandige und allseitige Selbstandigkeit und Selbstregierung und die un-
verziigliche Verwirklichung aller MaBnahmen, die dazu fiihren konnen«, und
errichteten am 4. Februar in einer Versammlung von 200 beauftragten Ver-
trauensmannern aus dem ganzen Lande den aus 50 Mitgliedern bestehenden
Rat von Flandern. Dadurch erhielt die Flamenpolitik einen Ansporn zu wei-
teren MaBnahmen, und nachdem die Reichsregierung durch den Staatssekretar
des Innern Helfferich in einer Besprechung am 17. Marz in Brussel deutlich
den Willen zu erkennen gegeben hatte, auf dem einmal eingeschlagenen Wege
weiterzuschreiten, setzte B. eine Kommission fiir die Verwaltungstrennung
des Landes ein und erlieB am 21. Marz 19 17 die grundlegende Verfiigung der
Trennung des Landes in zwei Verwaltungsgebiete. So sind alle groBen Verord-
nungen zur Neugestaltung und Neubelebung Flanderns unter der Regierung
B.s zustande gekommen. Die spatere Zeit brachte dann nur die Ausfuhrung
dieser Grundsatze. B. hat in den letzten Monaten seines Lebens mehrere Denk-
schriften an den Kaiser und an den Reichskanzler gerichtet. Darin gibt er klar
seiner Auffassung Ausdruck, daB » jede allzu vordringliche deutsche Einwirkung,
besonders alle Verdeutschungsversuche bei diesem zah an seiner Eigenart fest-
haltenden Volke das Gegenteil der beabsichtigten Annaherung bewirken wiir-
den. Dagegen bedeutet die Starkung des flamisch-niederlandischen Volkstums
Bissing co
an sich, wegen seiner sprachlichen und kulturellen Verwandtschaft mit deut-
scher Art und wegen der friiher beiderseits zu wenig erkannten Interessen-
gemeinschaft zwischen Deutschen und Flamen, auch einen Gewinn fur Deutsch-
land und eine Schwachung des Franzosentums. « Diese Denkschriften zeigen
in der grundsatzlichen Einstellung in bezug auf die flamische Sprache keine
Anderung gegeniiber der ursprunglichen Auffassung, wohl aber in der Form
der Durchfuhrung der Flamenpolitik. Von einem ungeteilten Belgien ist keine
Rede mehr. Die Forderungen der Flamen, die von der Politischen Abteilung
friihzeitig als richtig und durchfuhrbar erkannt und von der Reichsleitung
anerkannt worden waren, werden jetzt auch von dem Generalgouverneur ge-
billigt. Man kann deshalb die Denkschrift, die nach dem Tode B.s in der Zeit-
schxift »Das groBere Deutschland« von Bacmeister am 19. Mai 1917 veroffent-
Licht und als » Testament B.s« bezeichnet worden ist, nicht als sein Testament
ansprechen. Diese Denkschrift tragt die Ziige der Zeit um die Jahreswende
von 1915 zu 1916, also einer sehr friihen Zeit, wo weder die Genter Hochschule
verflamscht noch der Rat von Flandern geboren noch die Verwaltungstrennung
ausgesprochen war. Nur das eine ist richtig, daB B. bis zum SchluB an dem
Gedanken einer Oberherrschaft Deutschlands festgehalten hat. Aber die Form
dieser Oberherrschaft hat sich auch bei ihm mit dem Fortschreiten der flami-
schen Bewegung gewandelt, und je starker das Flamentum selbst wurde, um
so geringer vvurden die Moglichkeiten einer glatten Annexion. Die Mitarbeiter
B.s, vor allem die in der Politischen Abteilung, haben nicht immer den gleichen
Standpunkt wie der Generalgouverneur eingenommen. Es war einer seiner
groBen Vorziige, daB er seine Mitarbeiter arbeiten lieB, ihren Gedankengangen
sich nicht verschloB und fur die Moglichkeiten der von ihnen vertretenen
politischen Losungen, die dem veranderlichen Ablauf historischen Geschehens
unterworfen sind, einen offenen Blick hatte. Dabei half ihm auch sein hoher
Begriff der Pflichterfiillung, der ihn veranlaBte, seinen verantwortlichen Be-
amten auch die Freudigkeit und den Mut der Verantwortung zu belassen.
Dies war um so schwieriger, als sich gerade in der belgischen Frage aus den
verschiedensten Kreisen unverantwortliche Ratgeber an ihn herandrangten,
deren Stellung und Bedeutung oftmals den Anspruch begriindeten, gehort
und beachtet zu werden. Ein letztes Urteil iiber B.s Verwaltung und iiber seine
Regierungspolitik wird erst moglich sein, wenn die gesamte, sehr verwickelte
belgische Frage einmal eingehend untersucht und dargestellt werden kann.
Sein Name wird aber mit dem politischen BewuBtwerden des Flamentums fur
alle Zeiten verbunden sein.
Nachdem B. am 8. April 19 17 seine letzte Denkschrift an den Kaiser ab-
gesandt hatte, nahm seine schon lange wahrende Krankheit so rasch zu, daB
er am 14. April die Regierungsgeschafte niederlegen muBte. Mit zahester
Energie hatte er fast bis zum letzten Atemzuge trotz groBter korperlicher Be-
hinderung sein Amt erfullt. Sein Stellvertreter wurde an diesem Tage der
General der Infanterie v. Zwehl, Gouverneur von Antwerpen. Am 18. April,
8 Uhr 40 Minuten nachmittags, verschied B. in Trois Fontaines. Wie B. einmal
in einem ErlaB an seine Gouverneure gesagt hat, »daB jeder einzelne von uns,
vom einfachsten Landsturmmann bis zu mir herauf, die Verpflichtung hat,
die Ehre und den Ruf der deutschen Armee, des deutschen Namens auch den-
jenigen gegeniiber zu wahren, die unsere Feinde sind«, so hat er diesen Ehr-
54 w?
begriff bis zuletzt vor allem als Pflichterfiillung gefaBt. Auf dem Totenbett
hat er sich noch einmal emporgerichtet und in der Annahme, im Kreise seiner
Mitarbeiter zu stehen, seine letzte ergreifende Rede gehalten, die von seiner
Gemahlin dann aufgezeichnet worden ist; darin hat er in einer Art Rechen-
schaftsbericht im Angesicht des Todes u. a. die Worte gesprochen: »Ich habe
viel und lange dariiber nachgedacht, wie wir unsere Aufgabe gestalten miissen,
in welcher Weise sie ergriffen, durchdacht und angefaJ3t werden muB, urn etwas
Brauchbares, etwas Bleibendes zu schaffen, etwas zu gestalten, was nicht ein
Ideal ist, aber doch einen idealen Wert behalt. Ob es mir gelungen ist, ich weiB
es nicht, und erst die Zukunft wird es lehren. Aber wir haben es versucht, und
wir haben unsere besten Krafte daran verwendet. Die besten Manner des
Vaterlandes haben von Anf ang an, jeder an seiner Stelle, hier gearbeitet . . .
Es ist eine gewaltige Aufgabe gewesen, die an jeden einzelnen gestellt worden
ist, denn es gait, die Verhaltnisse, die sich langsam uberhaupt erst gestalteten,
erst heranreiften und noch nicht ausgereift sind, nicht allein zu beherrschen,
sondern vorauszusehen, sich tastend Schritt fiir Schritt weiter zu wagen und
doch die Gaben, die Erfahrungen jedes einzelnen dem Ganzen, dem gewaltigen
Plane so dienstbar zu machen, daB es fiir die Zukunft, welche wir heute noch
nicht iibersehen konnen, Fruchte tragen kann, selbst wenn wir nicht erleben
konnten, daB sie reifen . . . Als alter Offizier im Dienste seiner Majestat des
Konigs und als Mann, der sein deutsches Vaterland liebt, habe ich nur den
einen Begriff von Ehre, namlich den, meine Pflicht zu tun bis zum letzten Atem-
zuge. Das ist die einzige Ehre, die einen deutschen Mann erfullen darf . Ich habe
oft daran gedacht, daB ich ein alter, kranker, verbrauchter Mann bin, und ich
ware nicht an dieser Stelle geblieben, wenn ich mir nicht gesagt hatte, daB die
Arbeit, die Erfahrung, der Gedankengang dieses alten Mannes, welcher von
Anfang an hier gearbeitet hat, jetzt noch fiir die groBe Sache notwendig ge-
wesen ist; darum bin ich noch hier geblieben, darum gebe ich meine letzten
Krafte hin. Es ist nicht Eitelkeit oder Diinkel gewesen, aber der Wunsch,
meine Pflicht zu tun bis zum allerletzten, solange mir noch die Kraft blieb,
das Wort , Pflicht' zu erkennen.*
Iriteratur: Schriften B.s: Ausbildung, Fuhrung und Verwendung der Reiterei (Bei-
heft zum Militarwochenblatt 1895, He^ 2)- — Die Ubungen und Tatigkeit der Kavallerie-
Division B im Herbst 1897 (ebda. 1898, Heft 5). — Massen- oder Teilfuhrung der Kaval-
lerie, Berlin 1900. — Das Korpsmanover des VII. Armeekorps in den Tagen vom 21. bis
23. September 1903, Miinster i. W. 1903. — Das Korpsmanover des VII. Armeekorps in
den Tagen vom 21. bis 24. September 1904, Miinster i. W. 1905. — AUgemeine Bemer-
kungen zu den Manovern im Jahre 1905, Miinster i. W. 1906. — Bemerkungen iiber Aus-
bildung und Verwendung aller Waffen, iiber Leitung und Ausfuhrung der Manover, Miin-
ster i. W. 1907. — Aufierdem zahlreiche Aufsatze in Zeitungen und Zeitschriften, von
denen einige im Text genannt sind. — Der NachlaB B.s befindet sich zum Teil im Reichs-
archiv, zum Teil im Besitz seiner Gemahlin.
Potsdam. Robert Paul Ofiwald.
Brentano, Franz, Philosoph, * am 16. Januar 1838 in Marienberg bei Boppard
a. Rh., f am 17. Marz 1917 in Zurich. — B., Sohn des katholischen Schrift-
stellers Christian B., Neffe des Dichters Clemens B., Bruder des National-
okonomen Lujo B., besuchte in Aschaffenburg, wo die Familie bald nach seiner
Geburt ihren dauernden Wohnsitz nahm, das Gymnasium, studierte dann in
Bissing. Brentano 55
Miinchen, Wiirzburg, Berlin (wo ihn Trendelenburg in das aristotelische Stu-
dium einfuhrte) und Minister Philosophic Anf Grund seiner Schrift: »Von der
mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles* 1862, welche namentlich
-die Bedeutung und Entstehung der aristotelischen Kategorienlehre in neues
Licht setzte, wurde ihm von der Tubinger philosophischen Fakultat der Doktor-
titel zuerkannt. Seine durch den Geist des Elternhauses genahrte religiose Rich-
tung trieb ihn zum Studiura der katholischen Theologie. Er wurde 1864 Priester,
setzte aber seine aristotelischen Forschungen fort und habilitierte sich 1866
mit der Schrift : »Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom
vof)$ 7toirjTiK6s« (1867) in Wiirzburg fur Philosophic Diese durch sorgfaltige
Textanalyse und prazise Darstellung ausgezeichnete Schrift fiihrt zuletzt den
seit Averroes oft in pantheistischenv Sinn als ein Denken Gottes im Menschen
gedeuteten nntellectus agensn auf eine begriffsbildende Kraft der menschlichen
Seele zurtick.
B.s Sinn war aber langst nicht nur auf geschichtliche Studien, sondern auch
auf eine Erneuerung der nach Hegels Tode zusammengebrochenen Philosophic
gerichtet. Er sah in der Abkehr von der Erf ahrung die Ursache des Zusammen-
bruches, in den spekulativen Systemen selbst also bereits Irrwege, und setzte
sich das Ziel, die Philosophic durch Wiedereinfiihrung der naturwissenschaft-
lichen (induktiven) Methode, die eine seiner Habilitationsthesen als die der
Philosophic einzig angemessene bezeichnete, von Grund aus zu reformieren, ohne
dabei die Richtung auf die hochsten Fragen preiszugeben. Diese Verbindung
cines hochgespannten Idealismus mit der Wertschatzung der Tatsachen, mit
auBerster Scharfe des logischen Denkens, kristallklarem Vortrag und einer
ganz der Sache hingegebenen, durch den Charakter wie die auBere Erscheinung
faszinierenden Personlichkeit fuhrten ihm nicht nur einen weiten Horerkreis,
sondern auch begeisterte nahere Schiiler zu. So von Anfang an den Unter-
zeichneten, bald darauf Anton Marty (1876 Professor in Czernowitz, 1882 — 1914
in Prag, als Forscher besonders durch seine Untersuchungen zur Sprach-
philosophie und L,ogik hervorragend). Auch Georg v. Hertling (s. unten,
S. 416 if.), der sich neben der philosophischen bald auch der politischen Lauf-
bahn widmete, Fuhrer der Zentrumspartei und zuletzt Reichskanzler wurde,
und Hermann Schell, der spatere Fuhrer der »Modernisten« unter den katho-
lischen Theologen, waren seine Schiiler in dieser Wiirzburger Zeit.
In den Vorlesungen ging B. von der Geschichte der Philosophic zum Aufbau
einer groBangelegten Metaphysik iiber, sodann zu einer ebenso kuhnen wie
folgerichtig aus bestimmten Vordersatzen abgeleiteten Reform und Verein-
fachung der iiberlieferten Logik, endlich zu einer Psychologie im Sinne genauer
Beschreibung, Analyse und Klassifikation der psychischen Phanomenc Stu-
dien iiber A. Comte (dem auch eine offentliche Vorlesung gewidmet war) und
iiber J. St. Mill und den englischen Empirismus trugen zu dieser rein empi-
rischen Aufgabestellung bei. Die Vorlesungen dieser Wiirzburger Jahre, von
denen teilweise genaue Nachschriften vorhanden sind, zeugen von einer
cminenten wissenschaftlichen Produktionskraft.
Allmahlich geriet aber B. in wachsende, zuletzt unlosbare Schwierigkeiten
mit den Dogmen der Kirche. Als iiberdies kirchengeschichtliche Studien ihm
das Unfehlbarkeitsdogma, dessen Verkundigung unmittelbar bevorstand, als
mit den Tatsachen unvertraglich zeigten, trennte er sich 1870 innerlich von der
56 1917
Kirche. Doch legte er, hauptsachlich aus Riicksicht auf seine Mutter, erst 1873
das Priestergewand ab und erklarte dem Bischof seinen Austritt aus dem geist-
lichen Stande. Kurz zuvor hatte er auch das ihm 1872 verliehene Extraordina-
riat an der Universitat niedergelegt.
1874 erschien der 1 . Band seiner » Psychologie vom empirischen Standpunkte «.
In demselben Jahre wurde er unter dem liberalen Ministerium Stremayr als
Ordinarius der Philosophic nach Wien berufen und entfaltete nun dort eine
noch ausgedehntere Wirksamkeit. Seine Vorlesungen erstreckten sich jetzt
auch auf die fur Juristen in Osterreich obligatorische »praktische Philosophies
(Ethik und Rechtsphilosophie). Er zog wieder viele jiingere Krafte zur For-
schung heran, so A. v. Meinong, der dann in Graz selbst eine einfluBreiche
Schule begriindete, Franz Hillebrand, der sich besonders als Experimental-
psychologe im Gebiete der Raumlehre auszeichnete (1896 — 1926 Ordinarius in
Innsbruck), Twardowski (spater Professor in Lemberg), Masaryk, der 1882 an
die neubegriindete tschechische Universitat in Prag kam und nach dem Welt-
kriege Prasident der tschechoslowakischen Republik wurde, Husserl (spater
in Halle, Gottingen, Freiburg i. B.), den bekannten Fuhrer der »Phanomeno-
logen«, v. Ehrenfels (Prag), der den Anstofl zur » Gestaltpsychologie « gab,
Hofler (Prag, Wien) u. a. Er war aber auch in der Wiener Gesellschaft ein gern
gesehener Gast. Ein Zeugnis seiner geistbelebten Unterhaltung ist die unter
dem Autornamen » Aenigmatias«erschienene und mehrfach aufgelegteSammlung
seiner bei solchen Gelegenheiten aufgegebenen, ebenso scharfsinnig erdachten
wie kiinstlerisch geformten Ratsel. Auch im Schachspiel, das gleichermaBen
seiner Neigung zur Stellung und Losung von Problemen entsprach, war er
Meister. 1880 verheiratete er sich mit Ida I,ieben, einer anmutigen und kunst-
sinnigen Wienerin, muBte aber, um seine Ehe gegen alle Einwendungen zu
schiitzen, aus dem osterreichischen Untertanenverband austreten und seine
Stellung als Ordinarius mit der eines Privatdozenten vertauschen. Obgleich die
philosophische Fakultat mehrmals seine Wiederernennung beantragte, konnte
sich das Ministerium Gautsch aus Riicksicht auf die Kirche nicht zur Wieder-
anstellung entschlieBen. Da ihm 1894 auch die Gattin durch den Tod entrissen
wurde, entschlofi er sich 1895, Wien und Osterreich uberhaupt, dem er sehr
zugetan war, zu verlassen.
1896 erwarb er die italienische Staatsbiirgerschaft (Norditalien war die Ur-
heimat der Brentanos) und liefi sich in Florenz nieder. Die Sommermonate
pflegte er aber in seinem 1887 erworbenen idyllischen Anwesen zu Schonbuhl
bei Melk an der Donau zu verbringen. 1897 schloB er einen zweiten Ehebund
mit Emilie Rueprecht, die ihm nicht nur eine sorgliche Gattin, sondern auch,
seitdem ein Augenleiden ihm das Lesen und Schreibenimmer mehr erschwerte,
eine Helferin bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten wurde. In Italien, wo er
gelegentlich auch in Rom und Palermo langeren Aufenthalt nahm, trat er in
Verbindung und Korrespondenz mit vielen dortigen Gelehrten (Puglisi, Amato,
Vailati, Enriquez u. a.) ; in Schonbuhl wurde er regelmafiig von Marty und viel-
fach von anderen Schiilern und Freunden aufgesucht. Philosophische Diskus-
sionen blieben ihm I,ebensbedurfnis, und jedesmal begegneten den Besuchern
neue Erweiterungen oder Umbildungen seiner Gedankenwelt. Als Italien im
Weltkriege auf die Seite unserer Feinde trat, iibersiedelte er nach Zurich, wo er
im8o. Iyebensjahre, langst erblindet, aber bis zumEnde in voller Geistesfrische,
Brentano ^y
gestorben ist. Er hinterlieB einen Sohn aus erster Ehe, der sich der akademischen
Iyaufbahn als Physiker gewidmet hat (z. Z. Universitatsdozent in Manchester).
B. war seit 1876 korr. Mitglied der Wiener, seit 1914 auch der Berliner Aka-
demie der Wissenschaften. Seine Veroffentlichungen in der Wiener Zeit waren
zumeist Ausarbeitungen von Vortragen, zu denen er aber immer prinzipiell
wichtige Fragen wahlte. Besonders gehort dahin die Schrift : »Vom Ursprung
sittlicher Erkenntnis« (1889). Aber auch die aristotelischen Studien setzte er in
Abhandlungen fur die Wiener Akademie fort (Kontroverse mit E. Zeller iiber
den aristotelischen Gottesbegriff). Nach der Wiener Zeit erschienen noch
»Untersuchungen zur Sinnespsychologie« (1907), worin fur die Klassif ikation
und Analyse der Empfindungen, besonders der Farben- und Tonempfindungen,
neue, zum Teil allerdings nur hypothetische, Gesichtspunkte aufgestellt, aber
auch Beobachtungstatsachen, wie die Identitat der Oktaventone, in neuer
Weise gedeutet wurden; ferner eine Sonderausgabe des Kapitels »Von der
Klassif ikation der psychischen Phanomene« aus der » Psychologie « mit wesent-
lichen Erganzungen (Lehre von den Modi des Vorstellens, zu denen auch die
Zeitvorstellung gerechnet wird); endlich zwei zusammenfassende Schriften
iiber Aristoteles* Weltanschauung. Aber B. hatte trotz und teil weise wegen der
bestandigen Durchpriifung seiner Anschauungen wenig Neigung zu Publika-
tionen. Die Friichte seines Nachdenkens wurden in zahlreichen diktierten Ab-
handlungen niedergelegt.
Nach seinem Tode haben zwei Schuler Martys, Professor O. Kraus (Prag)
und Professor A. Kastil (Innsbruck), die auch noch in personlichem Umgange
B.s spatere Anschauungen kennenlernten, in sehr dankenswerter Weise mit
der Herausgabe des Nachlasses und einer neuen Ausgabe der wichtigsten
friiheren Werke (im Verlage Felix Meiner, Leipzig) begonnen und sie mit Ein-
leitungen und Anmerkungen versehen. Der NachlaB befindet sich zunachst in
ihren Handen; ebenso B.s umfangreiche Korrespondenz mit Marty und Kraus
und andere wichtige Briefsammlungen.
Durchdringender Scharfsinn, Erfassung des Prinzipiellen, Kiihnheit der
Konzeptionen, weitschauende Vergegenwartigung logischer Zusammenhange
waren hervorstechende Ziige des B.schen Denkens. Zuweilen, wie in gewissen
Punkten der sinnespsychologischen Untersuchungen und in den letzten Aristo-
telesschriften, mogen diese Vorziige zu allzu groBem Vertrauen auf deduktive
Gedankengange gefiihrt haben. Aber mehr oder minder diirfte eine solche
Geisteshaltung alien imgroBen Stile Philosophierenden eigen sein. Zu diesen
intellektuellen Ziigen gesellte sich eine nicht geringe kiinstlerische Begabung.
unbeugsame Willenskraft im Bunde mit ethischem Idealismus, der auch seine
politische Einstellung beherrschte, ein starkes Freundschaftsbedurfnis, das sein
Verhaltnis zu den Schiilern ganz im Sinne der antiken Philosophenschulen ge-
staltete, endlich eine tiefreligiose Grundstimmung, der es nicht an gewissen
mystischen Elementen fehlte, aber auch sie in enger Wechselwirkung mit
subtiler Reflexion. Wer ihn genauer kannte und vor allem seine Forschertatig-
keit miterlebte, der muBte den Eindruck einer durchaus genialen, schopferischen
Natur empfangen.
Als Hauptpunkte seiner Philosophic waren zu nennen: in der Erkenntnis-
t h e o r i e und L o g i k die Herleitung aller Begrif fe aus den Gegebenheiten der
auBeren und inneren Wahrnehmung, die Begriindung alles Wissens auf un-
58 1917
mittelbar einleuchtende Urteile, die Reduktion der allzu detaillierten Schlufi-
lehre auf wenige Grundformen, die Rechtfertigung der Indnktion durch die
apriorischen Wahrscheinlichkeitsgesetze ; in der Psychologiedie Charakteri-
sierung des Bewufitseins durch die Beziehung auf Gegenstande (» Inten-
tion«), die Klassifikation der Akte durch die Verschiedenheiten dieser Be-
ziehung, die Unterscheidung des Urteilens vom blofien Vorstellen, die Ko-
ordination von Fiihlen und Wollen, die Betonung der einheitlichen Bewufit-
seinsstruktur gegeniiber der Assoziationspsychologie ; in der Ethik dieGrund-
legung durch als richtig charakterisierte Wertungs- und Vorzugsakte und dar-
auf gegriindete unmittelbar einsichtige Werturteile ; in der Metaphysikdie
Theorie der Kontinuen und der Relationen, die Lehre vom Realen als dem
einzig moglichen Gegenstand unseres Vorstellens und Urteilens (eine einschnei-
dende Neuerung seiner spatesten Zeit, worin die alteren Schuler ihm nicht
folgten), die Lehren von dem endlichen, aber ins Unendliche, selbst in der Zahl
der Dimensionen, zu immer hoheren Stufen fortschreitenden Universum und
von der Gottheit, welche theistisch, aber mit starken Abweichungen von dem
liberlieferten christlichen Gottesbegriffe gedacht wird. Gegen die Darwinsche
Theorie hat B. in Vorlesungen immer scharfe Einwande erhoben, aber den all-
gemeinen Entwicklungsgedanken um so entschiedener festgehalten. Sowohl
im Habitus seines Denkens als auch in vielen inhaltlichen Ziigen seiner Lehre
steht er Leibniz besonders nahe (Theismus, Optimismus, Determinismus,
Rationalismus, Logikreform, Theorie der unmerklichen Teilempfindungenu. a.).
Dagegen erachtete er Kants Grundlegungen als verfehlt.
Als ein besonders wichtiger, auch geschichtlich einfluBreicher Teil seines
Systems sei hier die Urteilslehre etwas naher charakterisiert. Gegeniiber der
liberlieferten, namentlich von der englischen Assoziationspsychologie ver-
tretenen Auffassung des Urteils als einer Verbindung zweier Vorstellungen
erkennt B. darin eine vom blofien Vorstellen wesensverscbiedene Grund-
funktion. Eine vorgestellte Materie wird bejaht oder verneint, anerkannt
oder verworfen. Sie kann aus Subjekt und Pradikat oder sonstwie zusammen-
gesetzt, kann aber auch eingliedrig sein (z. B. bei Impersonalsatzen). Die sprach-
liche Formulierung (Aussage) mufi sorgfaltig vom Urteil selbst unterschieden
werden ; viele sogenannteUrteilsunterschiede sind nur Unterschiede der Aussage-
form. Es gibt auch ein sprachloses Urteilen, sowohl im hoheren (begrifflichen)
als im elementaren (anschaulichen) Denken. (Uber B.s Interpretation der Aus-
sageformen, die Ubersetzung in Existentialsatze, in der er mit einer damals
noch unverof f entlichten Auf stellung Leibnizens zusammentraf , und ihre Folgen
fur die Syllogistik s. Fr. Hillebrand, Die neuen Theorien der kategorischen
Schliisse 1891). In der Wiener Zeit hat allerdings die Urteils- und Schlufilehre
infolge der Anerkennung von » Doppelurteilen « (s. das.) und weiterhin durch
die Beziehung aller Urteile auf Reales viel von ihrer Einf achheit verloren ; aber
zu diesen Konzessionen glaubte sich eben B. durch die Tatsachen genotigt. —
Von der Urteilsmaterie, den zugrunde liegenden Vorstellungen, unterschied B.
den Urteilsinhalt, der sprachlich durch die Infinitiv- oder »Dafi«-Form ausge-
driickt werden kann, z. B. Sein oder Nichtsein Gottes. Dieser Begriff des spe-
zifischen Urteilsinhaltes, fiir den Stumpf den Terminus »Sachverhalt« ein-
fiihrte, hat bei Marty, Meinong, Husserl, aber auch aufierhalb der Schule bei
Kiilpe (Logik), Selz, Biihler u. a. weitgehende erkenntnistheoretische Ver-
Brentano
59
wendung gefunden. Gegen die Hypostasierung solcher Inhalte aber, zu der
manche moderne Richtungen hinzuneigen schienen, hat B. spater nachdriick-
lich Stellung genommen, auch darin nicht ohne Beriihning mit Leibniz. —
Das Urteilen erfolgt entweder mit Einsicht (Evidenz) oder ohne solche, wie bei
den instinktiven oder durch Gewohnheit oder blinde Gefiihlsmotive bedingten
Urteilen. Jede Wahrnehmung ist schon ein Urteil, die sinnliche Wahrnehmung
ein einsichtsloses, die der eigenen augenblicklichen BewuBtseinsakte aber
(innere Wahrnehmung) ein unmittelbar einsichtiges Urteil. Dieses, Descartes'
*Cogito, ergo sum«, bildet die Grundlage aller Erkenntnisse von Tatsachen,
auch beziiglich der AuBenwelt.
B. betont als eines der wichtigsten Strukturgesetze des Psychischen, dafi
Vorstellungen alien iibrigen Akten zugrunde liegen und in ihnen eingeschlossen
sind. Man hat dies seitens der voluntaristischen Psychologie als Intellektualis-
mus bezeichnet. Es besagt aber nicht im mindesten die Umdeutung aller
psychischen Funktionen in bloBe Vorstellungen oder Verstandestatigkeiten.
B. dachte nicht daran, die qualitative Eigenart des Fuhlens und Wollens zu
bestreiten. In jenem Strukturgesetz hat er aber zugleich einen fur das psy-
chische Leben charakteristischen Zug hervorgehoben : die einseitige Abtrenn-
barkeit der Vorstellungen. Man kann vorstellen, ohne zu urteilen oder zu
wollen, aber nicht umgekehrt, wahrend materielle Teile gegenseitig trennbar
sind.
Von wesentlicher Bedeutung fiir die Gesamtauffassung der Philosophic bei B.
und den meisten seiner Schuler ist f erner seine Lehre von dem allgemeinen Ent-
wicklungsgange der Philosophic seit dem griechischen Altertum. Dieser er-
scheint ihm als eine in alien drei Perioden analog (wenn auch mit begreiflichen
Unterschieden im einzelnen) wiederkehrende Auf einanderf olge einer auf steigen-
den und dreier absteigenden Phasen (Verflachung, Skeptizismus, Mystizismus),
die sich in einer psychologisch verstandlichen Folge ablosen. Auf den Hohe-
punkt der alten Philosophie, Aristoteles, folgen die popularen Schulsysteme der
Stoiker und Epikureer, die skeptischen Richtungen der neuen Akademie und
des Pyrrhonismus, endlich die mystisch-spekulativen der Neupythagoreer und
Neuplatoniker ; auf die Hochscholastik in Albertus Magnus und Thoma^ von
Aquino die Schulstreitigkeiten der beiden groBen Orden, der Kritizismus Ock-
hams, die Mystik des ausgehenden Mittelalters (Nikolaus v. Kues) ; auf die
Epoche von Bacon und Descartes bis Locke und Leibniz das populare Philo-
sophieren der Aufklarungszeit, der Skeptizismus Humes und der Kritizismus
Kants, endlich die spekulativ-mystischen Systeme des deutschen Idealismus.
Der Aufstieg hangt immer zusammen mit giinstigen allgemeinen Kultur-
bedingungen und ist seitens der Philosophierenden selbst bedingt durch eine
Verbindung hochgesteigerten theoretischen Interesses mit Nuchternheit,
Griindlichkeit und Strenge des Denkens. Auch ist charakteristisch das Zu-
sammenwirken mit den Einzelwissenschaften, insbesondere den Naturwissen-
schaften als Vorbildern induktiver Methodik und Schopfern des physischen
Weltbildes. DaB im Mittelalter, abgesehen von den Arabern und einzelnen
Scholastikern wie Albertus, die Naturwissenschaften darniederlagen, war
neben dem Drucke der kirchlichen Autoritat eine Hauptursache fiir den
Mangel an gleich originellen Leistungen, wie sie die beiden anderen Perioden
aufweisen.
6o 1917
Diese Auffassung des allgemeinen Entwicklungsganges der Philosophic bil-
dete schon vor der Wurzburger Zeit den Ausgangspunkt fur B.s eigene philo-
sophische Lebensarbeit. Ob man ihm in der Bewertung der einzelnen Stadien
zustimmt, hangt natiirlich von dem eigenen Standpunkt ab; auch kann man
objektiv das geschichtliche Material nach vielen verschiedenenGesichtspunkten
anordnen. Aber daB hier lehrreiche und fruchtbare Analogien vorliegen, wird
sich nicht leugnen lassen.
Nachdem nun iiber 60 Jahre seit dem Beginne von B.s Auftreten ver-
flossen sind, laBt sich wohl auch seine eigene Stellung in der Philosophie-
geschichte einigermaBen bestimmen. Von besonderem Einflusse war er auf die
Psychologic Im Gegensatze zu Wundts, gleichzeitig mit der »Psychologie vom
empirischen Standpunkte« erschienener, » Physiologischen Psychologie« hielt
er vor dem Eintritt in die physiologischen Erklarungen, die zunachst immer
hypothetisch sein miissen, eine genaue Zergliederung des psychischen Tat-
bestandes auf Grund verscharfter Selbstbeobachtung (er nannte sie deskriptive
Psychologie oder Psychognosie) fiir notwendig ; und zu dieser lieferte er muster-
gultige, sei es auch nicht iiberall endgiiltige, Grundlegungen durch die Unter-
scheidung zwischen den Akten und den Gegenstanden des BewuBtseins (Akt-
oder Funktionspsychologie), durch seine klassifikatorischen Untersuchungen
und durch die Aufzeigung der spezifischen Strukturverhaltnisse zwischen und
innerhalb der einzelnen psychischen Zustande (Strukturpsychologie nach
Diltheys Bezeichnung). Nur Lotze war ihm unter den Neueren hierin voraus-
gegangen. Das spater von der Kiilpeschen Schule gegeniiber dem Sensualismus
betonte unanschauliche, begriffliche und symbolische Denken (Denkpsycho-
logie) bildete von Anfang an einen wesentlichen Bestandteil seiner Lehren. In
seiner Schule haben besonders Marty, Meinong und Husserl, auch Twardowski
solche Untersuchungen weitergefuhrt. Die im engeren Sinn experimentelle
Methode, wie sie durch E. H. Weber, Fechner, Helmholtz und Hering in die
Sinnespsychologie eingefuhrt worden war, wuBte er gleichfalls vom Beginne
seiner psychologischen Forschungen an vollauf zu schatzen. Die Beweiskraft
seiner eigenen ausgedehnten Experimente zur Begriindung einer Farbentheorie
ist wohl manchem Zweifel ausgesetzt. Aber seine Kritik der dem Fechnerschen
Gesetze zugrundeliegenden Voraussetzungen, sein Nativismus in der Raum-
lehre und anderes sind durchgedrungen. In seiner Schule haben Hillebrand und
der Unterzeichnete die experimentelle Methode gepflegt.
Aber nicht nur der Psychologie, auch alien iibrigen philosophischen Diszi-
plinen hat B. kraftvolle neue Impulse gegeben. Es ist nicht richtig, daB er sie
ausschlieBlich auf Psychologie hatte griinden wollen (Psychologismus) . Viel-
mehr suchte er die letzten Kriterien fiir Wahrheit und Falschheit in einleuch-
tenden Urteilen, die keine psychologische Begriindung zulassen, die fiir das
ethisch Gute in » als richtig charakterisierten « Gemiitstatigkeiten, deren Rich-
tigkeit gleichfalls keine psychologische Erklarung zulaBt. In der Erkenntnis-
theorie hielt er gegeniiber dem extremen Empirismus daran fest, daB neben
den unmittelbar gewissen Tatsachen des eigenen BewuBtseins apriorische
Grundsatze die Voraussetzungen aller Erfahrung bilden, ohne jedoch deren
synthetische Natur im Sinne Kants gelten zu lassen. In diesem Gebiete, der
Auseinandersetzung zwischen Empirismus und Rationalismus, ist zwar noch
lange keine definitive Einigung zu erwarten und sind auch innerhalb der
Brentano. Dyckerhoff 6 1
B.schen Schule Abweichungen, beispielsweise beziiglich der mathematischen
Axiome und der obenerwahnten elementarlogischen Fragen, hervorgetreten.
Aber die intensive Beschaftigung mit erkenntnistheoretischen Problemen ist
alien seinen Schiilern gemeinsam. Dasselbe gilt von der Ethik, in deren Auf-
fassung als allgemeinster Wertlehre in der Schule kaum Unterschiede bestehen,
wahrend im einzelnen Kraus und der Unterzeichnete sich enger als Meinong
und Ehrenfels an B. anschliefien. Fur die Rechtsphilosophie hat besonders
Kraus B.s psychologische und ethische Grundlegungen verwertet. In der
Asthetik steht Utitz (Theorie der Funktionslust) unter dem Einflusse B.scher
Psychologic Zur Geschichte der Philosophic haben zahlreiche Schiiler und
Enkelschiiler B.s, wie Arleth, A. v. Berger, Hugo Bergmann, v. Hertling,
Kastil, Kraus, v. Meinong, Schell, Stumpf u. a. Beitrage geleistet. So vielseitig
aber auch die von B. ausgegangenen Anregungen und die bevorzugten Arbeits-
felder seiner Schiiler sind : als Zentrum und letztes Ziel des Philosophierens gilt
sicher alien wie B. selbst weder Psychologie noch Erkenntnistheorie noch
Ethik, sondern eine neue, auf die Gesamtheit dieser Forschungen zu begriin-
dende Metaphysik. Am weitesten hat bisher er selbst sich in dieses zeitweilig
verrufene, heut aber wieder vielfach anerkannte Gebiet vorgewagt.
Vielleicht hat niemals auCer im 16. Jahrhundert eine solche Menge wider-
streitender philosophischer Richtungen gleichzeitig bestanden wie heute.
Inner halb dieses gahrenden Chaos hat B. als Denker strengster Observanz
bahnbrechend gewirkt, als Lehrer das Streben nach scharfer Begriffsbildung
und methodischem Aufbau der Untersuchungen den Schiilern zur obersten
Regel gemacht. DaB die Philosophic den AnschluB an die Naturwissenschaften
und konkreten Geisteswissenschaften wiedergewonnen hat, ist nicht zum
wenigsten seinem Einflusse zu danken. Sehr zu wiinschen ware aber eine Ge-
samtdarstellung seines Gedankensys terns einschlieBlich der Umwandlungen, in
der alles Wesentliche, unbeschadet der Genauigkeit, in einer leichter zu gang-
lichen Form wiedergegeben ware.
Literatu r: Naheres zur Biographie und Charakteristik B.s findet man in folgenden
Darstellungen : » Franz B.« von O. Kraus, mit Beitragen von C. Stumpf und E. Husserl;
Miinchen bei O. Beck, 1919 (mit zwei Bildnissen) ; Lebenslaufe aus Franken, Bd. II, 1922,
Art. » Franz B.« von C. Stumpf, Neue osterreichische Biographic, Bd. Ill, Art. »Franz B.«
von O. Kraus, 1926. In diesem Artikel zugleich ein vollstandiges Verzciclmis der zu B.s Leb-
zeiten erschienenen Schriften und Hinweise auf weitere biographische Darstellungen und
Quellen. Verzeichnisse der Schriften auch in dem vorher erwahnten Krausschen Buche
und in der Neuausgabe der » Psychologies, S. XCIV.
Berlin-Lichterfelde. Carl Stumpf.
Dyckerhoff, Rudolf, Professor, Dr.-Ing. e.h., Portlandzementfabrikant, * am
25. Marz 1842 in Mannheim, f am 23. Februar 19 17 in Amoneburg bei Biebrich
am Rhein. — Nach dem Besuch der Realschule seiner Vaterstadt bezog er die
Technische Hochschule in Karlsruhe und die Universitat Heidelberg, um
Chemie und Physik zu studieren. Im Jahre 1864 trat er in die von seinem Vater
gegriindete Portlandzementfabrik in Amoneburg bei Biebrich ein, um die
Leitung des Betriebes zu iibernehmen. Es darf nicht iiberraschen, da(3 der
junge Chemiker gleich den Betrieb ubernahm. War es doch zu einer Zeit, als
die ersten Portlandzementfabriken in Deutschland eingerichtet wurden, und
Erfahrungen, die noch nicht vorhanden waren, gesammelt werden muBten.
62 1917
Fur diese Aufgabe war der junge, aufstrebende, wissenschaftlich geschulte
Rudolf D. sehr geeignet. Seine Entwicklung geht parallel mit der Entwicklung
der deutschen Portlandzementindustrie, die seit der Begriindung der ersten
groBeren Zementfabrik in Ziillichow bei Stettin im Jahre 1850 nur langsam
voranschritt. Der englische Zement beherrschte damals den deutschen Markt,
und es gait, das deutsche Fabrikat in einer ganz besonderen Gute herzustellen,
wenn es das beliebte auslandische Erzeugnis ersetzen sollte.
Rudolf D. fiihrte dank umfassender wissenschaftlicher Kleinarbeit Ver-
besserungen in der Zementherstellung ein, und es gelang ihm bald, das Vor-
urteil der Uberlegenheit des auslandischen Zementes zu zerstreuen. Er war
von der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Durchdringung der Zement-
fabrikation erfiillt, und in diesem Sinne arbeitete er ein Leben lang mit groBem
Erfolge. Uberzeugt, da6 die Gute des in der eigenen Fabrik hergestellten Port-
landzementes nur verbessert werden konnte durch einwandfreie Nachweise
seiner Eigenschaften, arbeitete D. an der Verbesserung der Priifungsmethoden
des Portlandzementes und wirkte so zugleich im allgemeinen Interesse. Im
Jahre 1876 erschien seine erste grundlegende Arbeit iiber die Priifung des Port-
landzementes in der Zeitschrift der »Ton-, Zement- und Kalk-Industrie«. Im
Jahre 1877 folgte die Veroffentlichung iiber Priifungsmethoden von Portland-
zement (» Deutsche Bauzeitung« Nr. 38). Diese Arbeiten bildeten die Grund-
lage fiir die Beratungen der Kommission, die zu der Einfuhrung der einheit-
lichen Priifung von Portlandzement in der Mitte der siebziger Jahre aus Fach-
leuten der Zement- und Bauindustrie und der Behorden eingesetzt wurde. Die
Ergebnisse der Kommissionsarbeit waren in den ersten Normen fiir die ein-
heitliche Lieferung und Priifung von Portlandzement niedergelegt, die inner-
halb und auBerhalb des Deutschen Reiches bei der Priifung der Eigenschaften
von Portlandzement allgemeine Anerkennung gefunden haben. Eine wert voile
Arbeit ist die Abhandlung Rudolf D.s fiir das Deutsche Museum fiir Meister-
werke der Naturwissenschaft und Technik in Miinchen iiber die Entwicklung
des Priifungsverfahrens fiir Portlandzement insbesonders in Deutschland, die
in der » Deutschen Bauzeitung* 1906 Nr. 9 veroffentlicht wurde.
Im Jahre 1865 entstanden die ersten Zusammenschliisse in der Kalk- und
Zementindustrie, und im Jahre 1877 wurde der Verein deutscher Portland-
zementfabrikanten unter Mitwirkung von Rudolf D. gegriindet, der wie kein
anderer von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Wissenschaft und
Praxis durchdrungen war. In diesem Sinne wirkte der Verein vorbildlich dank
dem Einflusse Rudolf D.s und der Gleichgesinnten. Nach der Griindung des
Vereins Deutscher Portlandzementfabrikanten, der in diesem Jahre (1927) sein
50jahriges Bestehen feierte, trat Rudolf D. sehr bald durch Verof fen tlichungen
und Vortrage auf Grund seiner Arbeiten im Laboratorium hervor, die zum
groBen Teil in den Protokollen des Vereins niedergelegt sind. Unter den Ar-
beiten sind f olgende besonders zu nennen : » Der EinfluB einer Kalkbeimengung
zu Zement«, 1879; »Herstellung von Beton aus Portlandzement «, 1880; »t)ber
die Beimengung von Hochofenschlacke zu Portlandzement «, 1883 — 1885 ; »t)ber
die Wirkung der Magnesia im gebrannten Zement «, 1888. Im Jahre 1893 ff.
wurden die Arbeiten » Uber die Einwirkung von Meerwasser auf Zement und
auf hydraulische Bindemittel« veroffentlicht.
Rudolf D. hat sich rasch Anerkennung und einen guten Namen in der Fach-
Dyckerhoff. Flex 63
welt des In- und Auslandes erworben. Neben Delbriick gehorte er seit der
Griindung des Vereins Deutscher Portlandzementfabrikanten als 2. Vorsitzen-
der durch mehr als zwei Jahrzehnte dem Vorstand an. Die meisten Kom-
missionen des Vereins zahlten ihn zu ihrem Mitglied. Im internationalen Ver-
band fiir Materialpriifung der Technik war er Mitglied der Meerwasserkommis-
sion.
Im Jahre 1905 wurde Rudolf D. auf Grund seiner hervorragenden und grund-
legenden Verdienste um die Entwicklung des Portlandzementes von der Tech-
nischen Hochschule Dresden zum Dr.-Ing. e. h. ernannt, und im Jahre 1912
erhielt er von der hessischen Regierung den Titel » Professor «. Rudolf D. genoB
groBes Ansehen in wissenschaftlichen Kreisen und innerhalb der Zement-
industrie. Er besaB ernstes Streben, hohes Verantwortungsgefiihl und ist in
hervorragender Weise an der machtvollen Entwicklung der deutschen Port-
landzement-Industrie beteiligt. Er war ein Forscher, der bei seinen Arbeiten im
Laboratorium die Zusammenhange mit der Praxis stets beachtete, und es ist
ihm zu danken, wenn sich der »Dyckerhoff-Zement« bis zum heutigen Tage das
Vertrauen der Ingenieure und der Zement verarbeitenden Industrien erworben
hat. Als Mensch war er einfach, von lauterem Charakter, liebenswiirdig und
bescheiden.
Karlsruhe i. B. Emil Probst.
Flex, Walter, Dr. phil., Dichter, * am 6. Juni 1887 in Eisenach, gef alien am
16. Oktober 1917 in den Kampfen auf der Insel Oesel. — Walter F. gilt vielen
als der Dichter des Weltkrieges — und sicherlich hat er am reinsten und
packendsten dem Geiste der Kriegsfreiwilligen, dem bejahenden Opfergeist der
deutschen Jugend Ausdruck gegeben. Wer sich den Menschen F. nach Bildern,
mehr nach seinen Werken und den biographischen Nachrichten, die iiber ihn
verbreitet sind, vorstellen will, hat wohl unwillkurlich das Bild kraftvoller
Frische, tiefer Innerlichkeit, besonderer Reinheit. Aus seinem »Wanderer
zwischen beiden Welten«, seinem verbreitetsten Werk, erwachst dieses Bild,
und es steigt auch aus seinen Kriegsgedichten auf, die den so gliicklich ge-
wahlten Titel » Sonne und Schild« tragen. Ist's nicht, als ob der junge Dichter
damit selbst die Sinnbilder seines Schaffens bezeichnete? Zur Sonne, zum
Lichte strebte er in all seinen Gedanken und Taten ; und dabei war er doch ganz
erdnahe, war Schild des Vaterlandes, war innerlich ganz bereit, sich zu opfern.
Sein Wesen erklart sich klarer als das vieler anderer Dichter aus Herkunft
und Umgebung. Walter F. war der zweite von den vier Sohnen des Gymnasial-
oberlehrers Dr. Rudolf F. (f 1918) und seiner Ehefrau Margarete, geb. Pollack.
Sein Geburts- und Heimatsort war Eisenach. Seiner Stammesart nach war er
aber Schlesier, denn die Vorfahren des Vaters waren Bauern und Handwerker
in Konigshain bei Gorlitz, die Mutter stammte aus Rawitsch. Eine reiche
Jugend hatte der Dichter. Vielgestaltig waren die Bildungsmachte, die auf ihn
einwirkten. Ihn umfing die liebliche Thiiringer Landschaft, und in frohem
Wanderleben wurde die Freude an der Schonheit des Waldes, der Wiesen, der
einfachen und ewigen Pracht deutschen L,andes in ihm wach. Taglich griiBte
ihn die Wartburg, und die Kulturepochen der deutschen Geistesgeschichte ge-
wannen I^eben fiir ihn auf historischem Boden.
64 J9i7
Der stete und unmerklich wirkende EinfluB der Umwelt wurde durch die
Eltern geklart und gestarkt. Der Vater war im besten Sinne der Typ des geistig
regen Vorkriegsdeutschen, des Akademikers, der in dem erstarkenden, reichen
Deutschland mit Stolz und Begeisterung an alien of fentlichen Fragen teilnahm :
er war Bismarckverehrer, sprachlich und historisch interessiert, warb durch
Gelegenheitsgedichte und Festspiele fur seine Gedanken. Idealismus und Sich-
einsetzen fiir seine Uberzeugung — das war selbstverstandlich im F.schen
Hause. Der Oberlehrer Dr. F. war noch einer von denen, die es fiir nationale
Pflicht hielten, in Vereinen und Ausschiissen mitzuarbeiten. Bald gait es ein
Denkmal zustande zu bringen, bald in den Wahlkampfen fiir die national-
liberale Partei zu werben. Staat und Geschichte wurden durch das unermiid-
liche Wirken des Vaters sehr lebendige Machte fiir den Knaben. Der Wille zu
dichterischem Schaffen und zur Beherrschung der Sprache wurde in nicht ge-
wohnlichem MaBe in ihm geweckt.
Doch mehr bedeutete ihm die Mutter. So selten bei F. Liebesszenen, Liebes-
gedichte im iiblichen Sinne sind, so haufig sind innige, tief empfundene Worte
des Dankes und der Verehrung fiir seine Mutter. »Wenn er von der Mutter
erzahlte, lag es wie Weihestimmung iiber ihm; ich habe niemals eine so reine,
zarte Ehrfurcht vor dem Miitterlichen erlebt wie bei Walter F.«, so wird noch
der DreiBigjahrige geschildert. — Eine tief innerliche, phantasiebegabte Frau
war sie, von echtem religiosen Empfinden — eine Frau, die Wahrtraume hatte,
die soziale und weltanschauliche Fragen durchdachte, die vor allem durch ein
natiirliches Erzahltalent ihre Kinder anregte. Die Mutter und deren unver-
heiratete Schwester hiiteten und pflegten auch die fruherwachten dichterischen
Neigungen des Knaben und Junglings.
Der begabte, allgemein beliebte Junge verlebte eine gliickliche Schulzeit auf
dem Karl-Friedrich-Gymnasium zu Eisenach, an dem er Ostern 1906 das
Abiturientenexamen bestand. Hatte er weniger Selbstkritik gehabt, so hatte
es ihm gefahrlich werden konnen, daB er schon als Gymnasiast mit lyrischen
Gedichten und dramatischen Versuchen reiche Anerkennung fand. L,auten Er-
folg brachte ihm eine dramatische Skizze: »Die Bauernfiihrer«, die 1905 von
einem Gymnasiastenverein unter Mitwirkung des jungen Dichters aufgefiihrt
wurde. Andere Dramenentwiirfe entstanden in der Primanerzeit. Der Acht-
zehnjahrige wurde bereits »literarisch« bekannt. Schon als Student konnte er
in der »DeutschenRomanzeitung« zahlreiche Gedichte und Novellen verof fent-
lichen.
Eine reiche Jugend war es, durch die Walter F. heranreifte. Er nahm das
Beste aus ihr ins Leben mit : nicht Verwohnung und Eitelkeit, sondern Lebens-
freude und Natursinn, tatigen Idealismus und den Willen zu dichterischem
Schaffen.
Die gliickliche Jugend fand ihre Fortsetzung in einer noch gliicklicheren
Studentenzeit. Ostern 1906 ging er als Student der deutschen Literatur und
Geschichte nach Erlangen, zwei Jahre spater nach StraBburg. Zunachst schob
er alle Studiensorgen beiseite und genoB die unvergangliche Poesie deutschen
Studentenlebens, erfuhr an sich die frohliche und doch strenge Schulung des
Waffenstudenten turns. F. besaB eine iiberschaumende Jugendkraft, eine fast
leidenschaftliche Liebe zur Frohlichkeit. Und diese Anlagen tobte er in diesen
vier Erlanger Semestern in vollem MaBe aus. Die sittliche Starke seiner Person-
Flex
65
lichkeit blieb unangetastet. Nie vernahm einer aus seinem Munde ein zwei-
<ieutiges Wort. So bedeuteten die vier Semester, die er bei der Burschenschaft
Bubenruthia-Erlangen zubrachte, fur seinen Werdegang unendlich viel. Es ist
bezeichnend fiir F., daB er, der mit Schmissen bedeckte Couleurstudent, spater
der Verkunder des Wandervogelideals wurde. Ihm blieb das geniiBliche, ge-
dankenlos hintorkelnde Sauf- und Raufstudententum fern. Und weil er in der
Burschenschaft die doppelte Entwicklungsmoglichkeit zu reinem Idealismus
und zu couleurstudentischer Straff heit fand, darum fiihlte er sich jenem Kreis
stets innig verbunden.
In StraBburg wandte er sich mit frischem Eifer geistigem Schaffen zu. Das
Studium wurde gefordert, im philosophischen Seminar war F. bald ein ge-
schatztes Mitglied. Er bewies in diesen Jahren die groBe Schwungkraft des
geistigen Schaffens, die er bis zuletzt an sich hatte, derart, daB er auch im Felde
unter den widrigsten auBeren Verhaltnissen oft wie unter hoherer Eingebung
seine Dichtwerke niederschrieb. Bei aller notwendigen Examenarbeit verfaBte
er in der StraBburger Zeit eine groBe Zahl von Novellen, die er in der » Roman-
zeitung« veroffentlichte. Er liebte die historische Novelle und miihte sich um
die Gestaltung vor allem » religios-psychologischer Probleme, in eine starke,
reiche Handlung inkarniert, in einem dieser Handlung adaquaten sinnlich wir-
kenden Sprachstil, der . . . jeden Satz mit dem eigentiimlichen Zeitgeist durch-
trankt«. Conrad Ferdinand Meyer war ihm Vorbild. — GewiB, diese literarische
Arbeit war Gelegenheitsproduktion, war oft leicht hingeworfen. Aber er kam
vorwarts, erkannte immer klarer Weg und Ziel seines Schaffens.
Er straubte sich entschieden gegen den vom Vater gewiinschten »gesicherten
Lebensberuf « als Lehrer. Ihm geniigte es, daB er 1910 in Erlangen mit einer
Arbeit »t)ber die Entwicklung des tragischen Problems in den deutschen
Demetriusdramen von Schiller bis auf die Gegenwart« den Doktortitel erwarb.
— Andererseits hatte er ernste Bedenken, ob er sich wohl als Schriftsteller
werde durchsetzen konnen. Ein Drama » Demetrius « war in der StraBburger
Zeit vollendet worden und wurde 1909 im Eisenacher Stadttheater aufgefiihrt.
Die Novelle »Der Schwarmgeistd, — ein Gedichtband »Im Wechsel« erschienen
im Buchhandel und fanden auch Anerkennung, aber doch nicht derart, daB er
•darauf sein auBeres Leben griinden konnte.
So suchte er Zeit zur Entwicklung und zum Schaffen, ohne dem Vater weiter
auf der Tasche zu liegen. Er wurde Hauslehrer in adligen Hausern: zunachst
Erzieher des jungen Graf en v. Bismarck in Varzin, mit dem er auch spater
freundschaftlich verbunden blieb. Dann berief ihn die Fiirstin Bismarck nach
Friedrichsruh. Dort unterrichtete er Gottfried und Wilhelm v. Bismarck und
half bei der Ordnung des Familienarchivs. — Von dort ging er als Hauslehrer
zu dem Freiherrn v. Leesen nach Retschke in der Provinz Posen, wo ihm warme,
herzliche Teilnahme fiir sein dichterisches Schaffen entgegengebracht wurde.
Von 1910 bis 1914 wahrte diese Tatigkeit, und er fand dadurch die ersehnte
MuBe und reiche stoffliche Anregung fiir manches Werk. Erzahlende und dra-
matische Dichtungen entstanden in rascher Folge. Die Beschaftigung mit der
Geschichte des Hauses Bismarck regte ihn zu dem Novellenband »Zwolf Bis-
marcks« und zu der Tragodie » Klaus v. Bismarck « (Erstauffiihrung 1913 in
Koburg) an. Er griff auch auf Stoffe der friihen deutschen Geschichte zuriick
wie in seinem » deutschen Konigsdrama IyOthar«.
dbj 5
66 * 1917
Es lohnt, dieses Vorkriegswerk des Dichters naher zu betrachten. Alle diese
Dichtungen bekunden es, daB F. nicht erst durch den Krieg die bestimmende
Richtung seines Wesens erhielt. — Seine Dichtung stand im Gegensatz zu alien
asthetisierenden, experimentierenden, oft international gerichteten Kunst-
richtungen der Vorkriegszeit. Dem Begriff »Vaterland« suchte er neuen Inhalt
zu geben, die Zerrissenheit und soziale Not der Zeit beschaftigte ihn immer ein-
dringlicher. Die Iyiebe fur groBe Personlichkeiten, fiir Manner, die sich selbst
treu bleiben wie die Bismarcks, deren trotzige Fiihrerkraft ihn begeisterte,.
klingt aus den Werken jener Jahre heraus. So wird der verschiedenartige Stoff^
dessen Gestaltung der junge Dichter von allem Rohen und HaBlichen fernhalt,
zum Trager eines menschlich und kunstlerisch hohen Willens. Immer bewuBter,
immer klarer findet er schon in diesen Jaliren die Formulierung seiner kiinst-
lerischen Absichten. Im Begleitwort zu »Lothar« legt er seine tragische Theorie
dar, indem er die Gedanken seiner Dissertation ausfiihrt. Seine Theorie hat
deutliche Beziehungen zu Hebbel. Bezeichnend fiir F. ist aber, daJ3 ihm das
Wesen des Tragischen vor allem darin zu liegen scheint, daB ein GroBer den
Zusammenhang mit seinem Volk verliert. Das kann geschehen, indem er durch
eigene Schuld sich dieser Verbindung beraubt, oder indem sie ihm zerschnitten
wird. Der Dichter sagt selbst: »tragisch endet, wer sich selbst entwurzelt, vom
Du gelost wird oder sich von ihm lost, wer das Ziel auch des Einzelnen ver-
kennt, die Gesellschaft. « Das Bezeichnende an dieser Theorie ist die Selbst-
verstandlichkeit, mit der F. voraussetzt, daB der einzelne seine hochsten Auf-
gaben, den eigentlichen Sinn seines Lebens, nur erfiillen kann in der tiefsten
Verbundenheit mit seinem Volk. — Das Vaterland war ihm, wie er ebenso klar
ausfiihrt, nie etwas anderes als die Gesamtheit aller Volksgenossen. So wurde
ihm der Gedanke der sozialen Versohnung, mit dem er sich immer wieder be-
schaftigte, zum Problem, um dessen Losung er rang. Kurz vor dem Kriege
plante er einen Roman, der die Welt des deutschen Arbeiters darstellen sollte.
Walter F. war wahrlich auf den Krieg vorbereitet. Ihm war es langst be-
wuBte Erkenntnis, daB der einzelne nichts, daB das Volk alles bedeutete. In
einer Zeit satter Zufriedenheit sah er die Not der Armen, Bedriickten — be-
geisterte sich in seinen Werken fiir das Beispiel des Fiihrers, der Personlichkeit.
Und bei all dieser freien, stolzen Entwicklung hatte er sich ein kindliches, reines
Herz bewahrt, das empfanglich blieb fiir die Schonheit der Natur, fiir echtes
Menschentum, wo immer es ihm entgegentrat.
Da kam der Krieg! — Fiir F. bedeutete der Ruf zur Verteidigung des Vater-
landes den ersehnten Zwang, das zu verwirklichen und vorzuleben, was er ge-
lehrt hatte: den unbeugsamen Idealismus. Allzusehr wirkt heute die nieder-
ziehende, triibe Erinnerung an die letzten Kriegsjahre in uns nach. Da sollten
wir uns recht oft an den August 1914 erinnern, den F. »eine Flutmarke Gottes*
nannte, »die die Nachgeborenen des eigenen und der fremden Volker iiber sich
sehen werden an den Ufern, an denen sie vorwartsschreiten«. F. blieb dem
August 1914 treu bis zuletzt. Im Oktober 1917, in einem seiner letzten Briefe,
schrieb er: »Ich bin heute innerUch so kriegsfreiwillig wie am ersten Tag. Ich
bin's und war es nicht, wie viele meinen, aus nationalem, sondern aus sittlichem
Fanatismus. Was ich von der Ewigkeit des deutschen Volkes und von der welt-
erlosenden Sendung des Deutschtums geschrieben habe, hat nichts mit natio-
nalem Egoismus zu tun, sondern ist ein sittlicher Glaube, der sich selbst in der
Flex 67
Niederlage oder . . . im Heldentode eines Volkes verwirklichen kann.« So ging
Walter F. in unerschuttertem Idealismus, in festem Glauben an sein Volk seinen
Weg bis zuletzt.
Der Siebenundzwanzigjahrige, der bisher wegen einer Sehnenschwache der
rechten Hand nicht gedient hatte, trat als Kriegsfreiwilliger bei dem Inf .-Reg.50
in Rawitsch ein. Bald kam er ins Feld und nahm am Stellungskrieg in den Ar-
gonnen teil. Von den Strapazen des Winterfeldzuges, den er als Musketier mit-
machte, blieb ihm nichts erspart. Mit Eifer nahm er an alien, auch an den
niedrigsten Arbeiten teil. Kriegsgedichte und das Buchlein » Vom groBen Abend-
mahl« machten seinen Namen bekannt. Im Vorfriihling des Jahres 1915 wurde
er mit mehreren Kameraden nach dem Warthelager bei Posen kommandiert,
wo er zum Offizier ausgebildet wurde. Er trat als Leutnant in das Inf .-Reg. 138
ein, nahm an der Eroberung Wilnas teil und machte die Kampfe bei Postawy
und am Narotschsee mit.
Hart packte ihn der Ernst des Krieges. Sein geliebter j lingerer Bruder war
gleich zu Beginn des Krieges gefallen. Im August 1915 verlor er den Freund,
den Wandervogel Ernst Wurche, den er aus dem Kreise der Kameraden zu
reinster geistiger Gemeinschaft gewann. 1916 erschien das Buch, das vor alien
anderen seinen Namen weitertragen und verklaren wird: »Der Wanderer
zwischen beiden Welten«, das Buch, das nichts ist als ein wirkliches Kriegs-
erlebnis, das schlicht und innig von seiner Freundschaft mit Ernst Wurche er-
zahlt. Aber was F. da erstehen lieB, war das Bild der neuen Jugend, das Wider-
hall findet iiberall da, wo die Sehnsucht lebt nach Erlosung aus dem Schmutz
der Zeit, aus Geld- und Sinnengier. Der singende Wandervogel — der Theologe,
der das Neue Testament, Nietzsches Zarathustra und Goethe mit gleichef Liebe
bei sich fiihrt, der deutsche Jiingling, der im Geistigen sich ebenso rein badet
wie in Strom, Sonne und Wolke, wurde das Ideal einer neuen Jugend. »Rein
bleiben und reif werden «, das ist die Forderung, die aus diesem Buchlein in viele,
viele Herzen dringt.
Zuletzt war Walter F. von dem Plane erfiillt, die Geschichte eines Kriegs-
freiwilligen zu schaffen, das Buch seines eigenen Ich zu schreiben. Nur zwei
Kapitel sind von diesem Werk »Wolf Eschenlohr« vollendet. Auf hoherer Stufe
sollte diese Dichtung darstellen, was F. von der Menschheit forderte: ein neues
Verhaltnis der deutschenMenschen zueinander durch Versohnung der Schichten,
ein neues Verhaltnis aber auch zum t)berirdischen. Die harte Wirklichkeit mit
ihren unerbittlichen Pflichten lieB nicht zu, daJ3 dieses Werk ausreifte. F. war
Feldsoldat und wollte nichts anderes sein. Aber er empfand mehr als ein an-
derer die Qual, nicht gestalten zu konnen, was in ihm zur Niederschrift drangte.
»Ich beklage mich gewiB nicht, « schreibt er einmal im Marz 1917 aus dem
Felde, »und eine Anfrage, ob ich ins Presseamt eintreten wolle, habe ich kiirz-
lich abgelehnt, weil ich fiihlte, daB ich in die Front gehore. « Aber er fahrt auch
traurig fort: »Ein paar ruhige Wochen, und der Wolf Eschenlohr ware ge-
schrieben. a
Sein Wunsch, an den Kampfen im Westen teilzunehmen, blieb unerfullt.
Statt dessen wurde er Anfang Juli 1917 nach Berlin berufen, um in einer volks-
tumlichen Abhandlung (Der GroBe Krieg in Einzeldarstellungen) im Auftrage
des GroBen Generalstabes die russische Fruhjahrsoffensive 1916 darzustellen.
Die wenigen Wochen scharfster Arbeit gaben ihm dennoch MuBe, ein Kapitel
68 1917
des »Eschenlohr« niederzuschreiben. Anfang August war er wieder bei seinem
Regiment. Er machte den Ubergang iiber die Diina und die Eroberung von
Riga mit. Wie froh war er, wieder dabei sein zu diirfen! Voller Kampffreude
nahm er an dem Unternehmen gegen Oesel teil. Als er beim Vormarsch zu
Pferde gegen die Russen anstiirmte, traf ihn am 15. Oktober die todliche Kugel
aus einer Russenschar, die gleich darauf sich gefangen geben muBte. Innere
Organe im Unterleib waren zerrissen, und eine Operation war aussichtslos. Der
todlich Verwundete f ragte vor allem nach dem Stand des Gefechts, diktierte eine
beruhigende Karte an die Eltern und sandte seinem Regiment GriiBe. Am
Nachmittag des 16. Oktober 1917 starb Walter F. Auf dem Dorffriedhof von
Peude auf Oesel liegt er bestattet.
In seiner Kartentasche fanden sich, von dem GeschoB durchldchert, die
Blatter des zweiten Kapitels des »Eschenlohr«. Aus den Entwtirfen, die mit
dieser Niederschrift zusammen gefunden wurden, geht hervor, wie sieghaft und
kraftvoll der Dichter in diesem seinem letzten Werk um die ewigen Fragen der
Menschheit rang. Der Tod traf ihn als einen Geweihten. Er hatte uberwunden
und iiber Verzagtheit gesiegt. Hoch iiber irdische Schwachheit erhebt er sich,
wenn er die Uberzeugung ausspricht, daB wir von Gott keine Durchbrechung
der Kausalitatsgesetze erwarten und erbitten diirfen. »Nicht um die Pfennige
in Gottes Hand sollen wir beten, sondern um die Hand selbst, und die gottliche
Giite auch da noch verehren, wo das zerstorende Schicksal unser irdisches
Dasein zermalmt.«
So wurde Walter F. das hohe Gliick zuteil, mit seinem Tode seine Worte zu
besiegeln, so wurde dem deutschen Volke ein Fiihrer entrissen, den es heute
mehr als je brauchte.
Es ist miiBig, kritisch festzustellen, daB manches in den Werken des Dich-
ters, der als DreiBigjahriger aufhoren muBte zu schaffen, noch gedanklich kon-
struiert, zu grell, zu wenig abgerundet ist. Die deutsche Jugend hat seine Dich-
tung angenommen als ein heiliges Vermachtnis. Der Mensch Walter F. und sein
Werk sind eins. Durch seine Lieder und durch sein Leben wird er weiterwirken
als der deutsche Kriegsfreiwillige, der die heilige Flamme der Augusttage des
Jahres 1914 als unantastbares Heiligtum rein durch die Bluttage getragen hat,
der sittliche Forderungen nicht nur aufstellte, sondern sie auch erfiillte.
In den Notizen zu »Wolf Eschenlohr« findet sich das Wort: »Die Sieger
werden unter den Toten sein!« Ein solcher Sieger war Walter Flex!
Iviteratur: Gesammelte Werke von Walter F., 2 Bande, Miinchen (1926). Nicht in
dieser Ausgabe enthalten: »Der Schwarcngeist«, Erzahlung; oZwolf Bismarcks«,-Novellen,
beide Berlin; »Sonne und Schild«, Gedichte, Braunschweig; » Klaus von Bismarck*, Er-
zahlung, Stuttgart; »Die Bauernfiihrer«, drainatische Skizze, Berlin; »Die evangelische
P^rauenre volte in L,6wenberg«, ein lustiges Spiel, Eisenach. — Brief e von Walter Flex,
herausgegeben von Eggers-Windegg, Miinchen 1927. — Fur biographische Angaben und
Grundsatzliches zur Dichtung und Weltanschauung: Einleitung von Dr. Konrad Flex.
Gesammelte Werke Bd. 1. — Personlichkeit und Werk wurden in mehreren Aufsatzen
in den » Burschenschaf tlichen Blattern«, Heft 7, S. H. 1926, 40. Jahrg. dargestellt, und
zwar von: Hans Herding, Frau Fine Hiils, Dr. Schunk, Dr. Menn. — Der gesamte Nach-
laB befindet sich in den Handen des Bruders Dr. Konrad Flex (Anschrift durch Becksche
Verlagsbuchhandlung Miinchen) .
Danzig-Langfuhr, Walter Millack.
Flex. Freeh 69
Freeh, Fritz, Geh. Bergrat, ord. Professor der Geologie und Palaontologie an
der Friedrich-Wilhelms-Universitat und Technischen Hochschule Breslau, * am
16. Marz 1861 in Berlin, f am 28. November 1917 in Aleppo. — Das Werk:
Das Kennen der Dinge und das Wissen um die Dinge sind zwei Ziele der Natur-
forschung. Fur das erste sind die Dinge nur ein Objekt der Beschreibung, fur
das zweite sind sie mehr — ein Symbol, ein Ausdruck der iiberpersonlichen
Wirklichkeit. Das Kennen der Dinge ist zwar die erste unbedingte Voraus-
setzung der Forschung, aber, letzten Endes, nur ein Ergebnis von FleiB und
Gedachtnis, nur das handwerksmaBige Material, aus dem der Meister seinen
Dom errichtet. Das Wissen um die Dinge aber ist eine Gottesgabe und ein Aus-
druck der Naturverbundenheit ; es ist eine hohere Stufe, auf der die Natur-
wissenschaft zur Weltanschauung wird. Wer den Seherblick hat, zu erkennen
*wie alles sich zum Ganzen webt«, der wird den Meistern zugerechnet.
Freilich, wie jedes Bauwerk vom anderen verschieden ist, so wird auch jedes
Weltbild seine individuellen Ziige tragen. Diese mogen uns zum Teil fremd, ja
sogar falsch erscheinen, da ja kein irdischer Blick die ganze Wirklichkeit um-
fassen kann; aber dankbar nennen wir die Namen derer, die uns wenigstens
einen Teil der verborgenen GesetzmaBigkeit offenbaren durften.
Fritz F. gehorte zweifellos zu diesen Naturen grofien Formats, welche durch
amfassende Kenntnis zu einem Wissen vorgedrungen waren, welches die Dinge
nicht nur klassifiziert, sondern in ihrer gegenseitigen Bezogenheit erkennt und
zum Baue eines Weltbildes verwendet. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht sein
Werdegang: er wurzelte in der exakten palaontologisch-stratigraphischen
Schule Beyrichs und wuchs in einer Zeit auf, die — damals mit vollem Recht —
in der Vermehrung der empirischen Kenntnisse das Hauptziel der Wissenschaft
sah. Aber schon an seinen ersten Arbeiten merkt man, daB er in dem von ihm
beschriebenen Fossilien mehr sieht, als bloBe Objekte der Rubrizierung, daB
sie ihm Probleme bedeuten, die iiber eine bloBe Photographie der Wirklichkeit
hinausgehen. Zwei Problemgruppen birgt das Steingeriist der Fossilien: die
biologischen Fragen, d. h. die Zoologie der Vorzeit und der entwicklungs-
geschichtliche Zusammenhang von einst und jetzt, und die geologischen Fragen
— die Geschichte der Erde und die GesetzmaBigkeit ihres Werdens, aus dem
L,eben der Vergangenheit rekonstruiert. Beide Wege hat F. beschritten, viel-
f ach als Neuerer und Bahnbrecher und die palaontologische Basis seines Lebens-
werkes leuchtet wie ein roter Faden durch alle seine, spater so mannigfaltigen,
Arbeiten hindurch.
Auffallend klar ist die Entwicklung und Erweiterung seines Arbeitsgebietes.
Von den palaonzoischen (devonischen) Korallen Deutschlands ging er aus und
ist dann zu der Untersuchung anderer Korallenfaunen geschritten. (*) Diese
Arbeiten bestimmten schon die beiden wichtigsten Problemstellungen seines
Wirkens : Biologie und Entwicklungsgeschichte fossil wichtiger Tierstamme an
entscheidenden Stellen ihres Werdens, insbesondere an der Grenze der Alt-
und Neuzeit der Erde, und die Geschichte der Erde selbst in diesen Zeiten. Das
Palaozoikum, seine Tiergemeinschaften, seine Geographie, sind die Fragen,
denen nun viele Jahre seine bedeutsamsten Arbeiten gelten. Fast stets geht
dabei die Untersuchung von gewissen, sorgfaltig aufgesammelten Tiergruppen
aus, und die Kenntnis des Lebens wird zur Kenntnis der Umwelt erweitert. (a)
Dabei zieht die Untersuchung immer weitere Kreise. Vom Devon Deutschlands
70 1917
geht er zum Palaozoikum Siidfrankreichs iiber, dann zu den Karnischen Alpen,
die fiir lange sein Arbeitsgebiet bleiben, schliefilich zu den eigenartigen permo-
karbonischen Faunen Armeniens. (3)
Eine glanzende Zusammenfassung fand diese Arbeitsperiode in der Lethaea
geognostica (1897 — 1902), einem von Roemer begonnenen (1880), von F. fiir das
Palaozoikum abgeschlossenem Werke, an dessen anderen Teilen (Trias, Quar-
ter) er auch mitgearbeitet hat. Das Buch war wohl zuerst als Handbuch der
Stratigraphie gedacht, aber F. hat ihm erst den Odem eingeblasen, indem er es
zu einer einzig dastehenden Synthese unserer Kenntnisse von der Lebewelt und
Geographie der Altzeit der Erde erweiterte. Fiir die biologischen Resultate
seiner Arbeiten fehlt eine ahnliche Zusammenfassung; aber solche sind fast in
alien seinen Spezialarbeiten enthalten, und daneben veroffentlichte er kleinere
Aufsatze, welche einzelne palaobiologische Probleme in oft iiberraschender
Weise klaren. (4) Diese Klarung, stets origineller Art, ergibt sich meist von selbst
aus der Betrachtungsmethode, den Stempel des »gesunden Menschenverstandesd
tragend — ein Lob, welches man durchaus nicht alien wissenschaftlichen
Spekulationen zollen kann!
Wenn auch die Methode der F.schen Arbeit eigentlich bis zuletzt die gleiche
blieb — sein 191 1 erschienenes Werk iiber China in Richthofens fiinfbandiger
Monographic mit wertvollen Beitragen zur alten Lebewelt Ostasiens ist ein
Beweis dafiir — , so lafit sich doch allmahlich eine Verschiebung des Schwer-
punktes der Forschung erkennen. Diese kann man indessen leicht logisch be-
gninden. Das Studium der Faunen mufite zu der Frage nach den Ursachen ihrer
Wandlung f iihren ; von hier richtet sich der Blick auf die Zeiten dieser Wand-
lung — die Revolutionen der Erde oder die Perioden der Gebirgsbildung.
Schon die erwahnte Lethaea bringt wertvolle Beitrage dazu. Mehr auBerlich
wurde diese Umstellung durch die Arbeit in den Ostalpen unterstiitzt, denen
F. auch als begeisterter Alpinist ein besonderes Interesse entgegenbrachte. Da-
mit wurde seine Tatigkeit durch einen ganz neuen Gedankenkomplex be-
reichert. Neben den Karnischen Alpen, deren alte Gebirgsbildung zu einem
Vergleich mit Mitteleuropa herausforderte, muBte ihn hier die junge Gebirgs-
bildung des alpinen Hauptzuges fesseln. (5) Als Basis diente ihm auch hier wieder
das palaontologische Studium der in den Ostalpen so eindrucksvoll entwickelten
Triasformation, zu der ihn ja schon seine Korallenstudien gefuhrt hatten. Auch
eine synthetische Zusammenfassung iiber den Bau der Alpen hat er gegeben,
und ich mochte betonen, daB diese, trotz unserer heute ungeheuer vermehrten
Kenntnisse, sich durch ihre ruhig abwagende Kritik vorteilhaft von einigen
Auswiichsen moderner Phantasie unterscheidet. F. war eben, schon dank seiner
exakten palaontologischen Schulung, niemals »reiner Tektoniker«, sondern
suchte stets in der historischen Rekonstruktion einen Anker, den eine rein
mechanische Betrachtung nie geben kann.
Vom palaontologisch-stratigraphischen Fragenkomplex ausgehend, gelangte
F. zu den Alpen ; von hier fuhrte ihn die junge Tektonik und das Studium der
Trias weiter nach Stidosten — nach dem Balkan, nach Griechenland und Klein -
asien. Auch hier blieb seine Basis faunistisch-stratigraphisch, wenn er auch
sein Hauptaugenmerk auf die Klarung des Gebirgsbaus, insbesondere der euro-
paisch-asiatischen Beziehungen richtete. (6) Diesen weitausgreifenden Arbeiten
seiner letzten Lebensjahre war ein AbschluB nicht mehr beschieden!
Freeh 7 1
Wenn die allgemeine Linie: von der Fauna zur Schichtenfolge, von dieser
zum Gebirgsbau — eigentlich in alien Arbeiten F.s klar hervortritt, so darf doch
nicht iibersehen werden, daB ein anderes »historisches« Problem ihm minde-
stens ebenso nahe am Herzen lag — die Palaogeographie und insbesondere das
Klima der Vorzeit. Auch hier, wo er zum Teil bahnbrechend wirkte, schafften
Spezialstudien im jiingeren Palaozoikum (Karbon, Perm) die Basis. Charakte-
ristisch fiir seinen weitblickenden Geist ist der groBziigige Versuch, zwischen
Stratigraphie, Gebirgsbau und Klima eine Briicke zu schlagen, und zwar auf
der Grundlage der von ihm geologisch ausgebauten Kohlensauretheorie von
Svante Arrhenius. Vermehrte Vulkanausbriiche steigern den Kohlensaure-
gehalt der Luft; die Kohlensaure absorbiert die Sonnenstrahlen ; dadurch
wachst die mittlere Temperatur und wird ein iippiger Pflanzenwuchs be-
giinstigt. Dieser wieder bindet, neben einigen Gesteinen des Meeres, den Uber-
schuB an Kohlensaure und die Temperaturen sinken wieder, letzten Endes bis
zu einer Eiszeit, wenn nicht neue vulkanische Tatigkeit den ProzeB neu ent-
facht. So baut F. einen groBziigigen Rhythmus des Erdgeschehens auf, der in
dem inneren Kraftehaushalt der Erde wurzelt, und alles — Klima, Leben,
geographische Gestaltung — reguliert.
Diese geniale Theorie ist, trotz manchen Widerspruches, kaum restlos zu
widerlegen und hat jedenfalls ungemein befruchtend auf die Forschung ge-
wirkt, wenn man auch in bezug auf einige Einzelheiten Vorbehalte machen
muB. (7)
Mit den aufgezeichneten Arbeiten hangt auch eine andere Forschungsrich-
tung eng zusammen, die er besonders in den letzten Jahren seines Lebens ein-
geschlagen hat — die Wirtschaftsgeologie. Auch hier wurde der AnstoB durch
das Studium des Jungpalaozoikums gegeben, welches ihn auf den wichtigsten
Bodenschatz dieser Zeit — die Kohle — hinwies. Auch die Heimatkunde
Schlesiens fuhrte ihn zu dem gleichen Problem, dessen Studium in einer In-
ventarisierung der deutschen Steinkohlenfelder einen Niederschlag fand ; aber
schon in dem erwahnten Chinawerk wird das wirtschaftsgeologische Motiv
kraftig angeschlagen.(8) Nach Ausbruch des Krieges war auch der auBere AnstoB
gegeben, um diese Arbeitsrichtung weiter auszubauen, und es entstanden eine
Fiille von Arbeiten, welche teils allgemein die wirtschaftliche Bedeutung der
wichtigsten Bodenschatze erlautern, teils die einzelnen Kriegsschauplatze, be-
sonders den F. so vertrauten Siidosten, vom Standpunkt ihrer Bedeutung fiir
die deutsche Rohstoffversorgung behandeln. Im Dienste seines heiBgeliebten
Vaterlandes geschaffen, von reifem Wissen und klarem Allgemeinblick ge-
tragen, bergen diese Arbeiten manchen wertvollen Gedanken; es ist eine iiber-
personliche Tragik, daB sie durch den ungliicklichen Ausgang des Krieges nicht
die Auswirkung erhalten durften, die ihnen zugedacht war!
Ich habe im Vorhergehenden versucht, die Leitlinien aufzuzeigen, welche F.s
Lebenswerk bestimmen. DaB durch diese Hauptarbeiten auch zahlreiche Er-
kenntnisse gewonnen wurden, die auf andere Gebiete der Geologie ubergreifen,
sei nur kurz erwahnt. Die Heimatkunde Schlesiens, schlesische Bodenschatze
und Mineralquellen, die Gestaltung der Alpen, Erdbebenkunde und Geologie
der Eiszeit sind einige der Gebiete, auf denen F. auch Wertvolles geleistet hat.
Auch hier zeigte sich seine Fahigkeit, hinter dem auBeren Erscheinungsbilde
die Grundprobleme und tieferen Zusammenhange zu sehen. (9)
72 1917
AuBerordentlich verdienstvoll ist ferner F.s organisatorische Tatigkeit ge-
wesen, als deren Frucht vor allem der von ihm ins Leben gerufene Fossilium
Catalogus zu nennen ist, ein Verzeichnis aller bekannten Fossilien ; die Arbeit
wurde natiirlich unter viele internationale Mitarbeiter verteilt ; F. hat indessen
neben der ungeheuren Organisationsarbeit auch eigene Beitrage dazu geliefert.
Hier sei auch seiner Tatigkeit als Herausgeber des Neuen Jahrbuchs fur
Mineralogie, Geologic und Palaontologie gedacht (1912 — 1917), an dessen Ent-
wicklung er auch durch zahlreiche Referate auf den verschiedensten Gebieten
tatig mitwirkte.
Nicht unerwahnt soil schlieBlich bleiben, daJ3 F. die Fahigkeit hatte, die Er-
gebnisse seiner und fremder Arbeit in gemeinverstandlichen Schriften auch
einem groBeren Laienpublikum zu erlautern. Fur die Verbreitung des allge-
meinen Interesses an unserer Wissenschaft hat er viel gewirkt. Zeugnis davon
geben sechs Bandchen » Aus der Vorzeit der Erde« (191 1 — 1917), welche durch
ihre klare und originelle Fassung einen weiten Leserkreis gefunden haben, da-
neben zahlreiche Aufsatze iiber allgemeinere Fragen der Geologie in den Natur-
wissenschaften, der Umschau, der Zeitschrift des Deutsch-osterreichischen
Alpenvereins und anderen Zeitschriften.
Das Iyeben : Ich habe absichtlich die Schilderung von F.s Lebenswerk
an den Anfang gestellt, weil hier, wie selten sonst, Werk und Mensch or-
ganisch verbunden sind, und dieser zum Teil nur aus dem Werk verstandlich
wird.
Schon in fruher Jugend zeigte F., der Sohn eines hohen preuBischen Justiz-
beamten, eine ausgesprochene Liebe zu den beschreibenden Naturwissenschaften
und sammelte schon als Gymnasiast zoologische und palaontologische Objekte.
Nach Beendigung des Berliner Wilhelms-Gymnasiums (1880) studierte er in
Berlin, wo Beyrich und Dames seine Lehrer waren und auf die Entwicklung
seiner spezifisch palaontologisch-stratigraphischen Einstellung entscheidend
eingewirkt haben. Neben diesen beiden hat dann vor allem Ferdinand v. Richt-
hofen, der ihm auBerlich und innerlich ahnlich war, einen groBen EinfluB auf
ihn ausgeiibt. Richthofen verdankt er wohl, in einem gewissen Gegensatz zu der
Berliner Geologenschule, die Scharfung des Blickes fur groBe Zusammenhange
und allgemeine Problemstellungen. 1885 promovierte F. mit der genannten
Arbeit iiber oberdevonische Korallen; 1886 unternahm er seine erste groBere
Reise nach Siidfrankreich zur Erweiterung seiner palaozoischen Basis; 1887
habilitierteersich in Halle mit einer Arbeit iiber das Devon vonHaiger (Nassau).
1891 erfolgte seine erste Reise nach Nordamerika, die fiir seine innere Ent-
wicklung sehr wdchtig war. 1893 erhielt er den Ruf als auBerordentlicher Pro-
fessor nach Breslau. Der Lehrstuhl des 1891 verstorbenen F. Romer wurde da-
mals geteilt, aber F. iibernahm das eigentliche Erbe des um das Palaozoikum
Deutschlands hochverdienten Forschers, dessen berufenster Nachf olger er schon
durch die Fortsetzung seines Lebenswerkes — der Lethaea paldozoica, war. In
diese Zeit fallen vor allem seine Studien in den Karnischen Alpen.
1894 vermahlte er sich mit Vera Klopsch, der Tochter eines bekannten Bres-
lauer Chirurgen ; es muB an dieser Stelle der verstandnisvollen, zum Teil aktiven
Mitarbeit gedacht werden, mit der seine Gattin 23 Jahre sein Iyebenswerk be-
gleitete, insbesondere auch als treue und aufopfernde Weggenossin auf seinen
Reisen.
Freeh 73
1897 wurde F. zum ordentlichen Professor in Breslau ernannt und iibernahm
dann auch die Professur fur Geologie an der neugegriindeten Technischen
Hochschule daselbst. In demselben Jahre erfolgte die fur seine spatere Tatigkeit
so bestimmende Reise nach Hocharmenien, welche an den internationalen
KongreB in RuBland anschloB.
Seine alpine Tatigkeit hat alle diese Jahre angedauert. 1906 besuchte er den
internationalen GeologenkongreB in Mexiko. 1907 erfolgte die erste Reise nach
dem Balkan (Bosnien und Dalmatien), die fur die Arbeiten seiner letzten
Lebensperiode bestimmend war. Es folgte dann 1908 eine Reise nach Nord-
albanien, Montenegro, den Ionischen Inseln und Kykladen, 1909 eine Reise
nach Anatolien, 1911 Forschungen in Attika und langs der Trace der Bagdad-
bahn von Konstantinopel zum Euphrat. 1913 besuchte er den Geologenkon-
greB in Kanada.
Seine groBen Verdienste um die Palaontologie wurden durch Ernennung zum
Prasidenten der internationalen Kommission fiir die » Paldontologia universalis «.
und durch die Wahl zum Vizeprasidenten der Palaontologischen Gesellschaft
gewiirdigt (1912). 1913 wurden ihm derTitel Geheimer Bergrat und der Rote-
Adler-Orden verliehen.
Nach Ausbruch des Krieges war es sein heiBester Wunsch, Gaben und Er-
fahrung in den ausschlieBlichen Dienst des Vaterlandes zu stellen; auf seine
Tatigkeit in dieser Richtung wurde ja schon oben hinge wiesen. Im August 1917
folgte er dann freudig der Ernennung zum leitenden Geologen beim Armee-
kommando der syrischen Front. Hier entriB ihn schon nach zwei Monaten ein
todlicher Malariaanfall der ihn so besonders begluckenden vereinten Tatigkeit
fiir Vaterland und Wissenschaft.
Die unbedingte GroBziigigkeit, welche alle seine wissenschaftlichen Arbeiten
auszeichnet, war ihm auch als Mensch eigen. Die gerade in Angrifl genommenen
Probleme erfiillten ihn vollkommen, und da der Glaube an die tJberzeugungs-
kraft seiner Ideen und das Temperament nicht fehlten, so hatte er sich auch
manchen Feind gemacht und manche Polemik auszufechten. Die innere Treue
gegen seine Wissenschaft und seine Freunde hat er dabei nie verleugnet, und
eine groBe Herzensgiite leuchtet vor allem aus dem Verhaltnis zu seinen Schu-
lern, fiir die er sich wissenschaftlich und menschlich voll einsetzte.
So erkennen wir noch heute, nach 10 Jahren, den Menschen und das Werk
als Einheit, — auBerlich mannigfaltig und auf die verschiedensten Gebiete
iibergreifend, innerlich logisch aufgebaut und in sich so geschlossen, wie das
in dem zersplitterten Wollen und Schaffen unserer Zeit kaum mehr erreichbar
ist. Die letzte Synthese, zu der er wohl befahigt war, hat sein friiher Tod ihm
und uns versagt ; der ausgestreute Samen wird aber noch lange weiter keimen !
I/iteratur: (l) Die Korallenfauna des Oberdevon in Deutschland. Zeitschr. d. Deutschen
Geol. Ges. 1885; Die Cyathophylliden und Zaphrentiden des deutschen Mitteldevons,
eingeleitet durch einen Versuch der Gliederung derselben, Palaont. Abhandl. 3, 1886;
ttber unterdevonische Korallen der Karnischen Alpen, Zeitschr. d. Deutschen Geol.
Ges. 1895; Die Korallenfauna der Trias, Palaontographica 1890, 37, und 1896, 43;
Palaozoische Korallen aus China, wissenschaftliche Ergebnisse der Reise des Grafen
Szecheny in Ostasien 1899. — (2) Die devonischen Aviculiden Deutschlands, Abh. PreuC.
Geol. Landesanstalt 1891 ; t)ber devonische Ammoneen, Beitr. z. Geol. u. Pal. Osterreich-
Ungarns und des Orients, 1902, 14; Neue Cephalopoden aus den Buchensteiner, Wengener
und Raibler Schichten des siidlichen Bakony, Result, d. wiss. Erforschung d. Balaton-
74 l^l7
sees, i, 1903 — 1904 usw. Hier ist auch die w.ertvolle Studie iiber Graptolithen in der
Lethaea pal&ozoica zu nennen. — (*) Die palaozoischen Bildungen von Cabrieres, Zeitschr.
d. Deutschen Geol. Ges. 1887, 89; ttber das Devon der Ostalpen I — III, daselbst 1888,
1 891, 1894; Devon und Carbonfaunen aus Zentralasien, Abh. d. Wiener Akad. 1899;
t)ber das Palaozoikum in Hocharmenien und Persien, Beitr. z. Geol. u. Pal. Osterreich-
Ungarns und des Orients, 1900, 12. — (4) t)ber das Kalkgeriist der Tetrakorallen.
Zeitschr. d. Deutschen Geol. Ges. 1885; Explosive Entwicklung der oberdevonischen
Ammoneen, daselbst, 1904; t)ber die Griinde des Aussterbens der vorzeitlichen Tierwelt,
Arch, f . Rassen- und Ges.-Biologie, 1906; Loses und geschlossenes Gehause der tetra-
branchiaten Cephalopoden, Centr. f. Miner., Geol. u. Palaont. 191 5. — (5) Die Tribulaun-
gruppe am Brenner, Richthofen-Festschrift, 1893 '> Die Karnischen Alpen, Abh. d. Naturf .-
Ges. Halle, 18, 1894; Geologie der Radstatter Tauern, geol. u. pal. Abhandl. 1901; Ge-
birgsbau der Tiroler Zentralalpen, Wiss. Erg.-Hefte d. D. u. Osterr. Alpenvereins, 1905;
t)ber den Gebirgsbau der Alpen, Peterm. Mitt. 1908. — (6) Die Hallstatter Kalke bei Epi-
dauros und ihre Cephalopoden, Neues Jahrbuch f. Min. usw. 1907; Neue Triasfunde auf
Hydra und in der Argolis, daselbst, Beil.-Bd. XXV, 1908; Sur la repartition du Trias
& faci&s ocianique en Grice, Compte rendus ac. d. Sciences, Paris, 1906; letztere beiden mit
Renz; Geol. Forschungsreisen in Nordalbanien, nebst vergleichenden Studien iiber den
Gebirgsbau Griechenlands, Mitt. d. k. k. Geogr. Ges. Wien 1909; t)ber den Gebirgsbau des
Tauros in seiner Bedeutung fur die Beziehungen der europaischen und asiatischen Gebirge,
Sitz.-Ber. d. Berliner Akad. 1912; Geologie Kleinasiens im Bereiche der Bagdadbahn,
Zeitschr. d. Deutschen Geol. Ges. 19 16. — (7) Studien iiber das Klima der geol. Vergangen-
heit, Zeitschr. d. Berliner Ges. f. Erdkunde, 1902, 1906; t)ber Klimaanderungen in der
geolog. Vergangenheit.Congr. internat. geol. Mexiko, 1909. — (8) In welcher Teufe liegen die
Floze der inneren niederschlesisch-bohmischen Steinkohlenmulde ? Zeitschr. f . Berg-,
Hiitten- und Salinenwesen 1909; Deutschlands Steinkohlenf elder und Steinkohlenvorrate,
Stuttgart 1 91 2; Die Kohlenvorrate der Welt, Finanz- und volkswirtschaftliche Zeitfragen,
H. 43, 191 7; daneben zahlreiche kleinere Aufsatze. — Uber den Bau der schlesischen Ge-
birge, Geogr. Zeitschrift, 1902; Schlesiens Heilquellen in ihrer Beziehung zum Bau der
Gebirge, Berlin 1 9 1 2 ; Schlesiens Landeskunde Bd. I, 191 3 ; L,awinen und Gletscher in ihren
gegenseitigen Beziehungen, Zeitschr. d. Deutsch-Osterr. Alpenvereins 1908; Erdbeben und
Gebirgsbau, Peterm. Mitt. 1907; t)ber die Machtigkeit des europaischen Inlandeises und
das Klima der Interglazialzeiten. Congr. intern, geol. Stockholm 1912; t)ber die geolog.-
technische Beschaffenheit und die Erdbebengefahr des Bagdadbahngebietes bis zum
Euphrat, Neues Jahrb. f. Min. usw. I, 191 3. Diese kleine Auswahl soil nur die Grund-
richtung der iibrigen Arbeitsgebiete aufzeigen.
Quellen: Zu der vorhergehenden Schilderung habe ich vor allem zwei Nachrufe be-
nutzt: J. Pompeckj, Fritz F., Neues Jahrbuch f. Mineral., Geol. und Palaont., 1919,
S. I — XXXVIII, mit Bildnis und Schriftenverzeichnis, und W. Volz, Fritz F., Jahres-
bericht der Schles. Gesellsch. f. vaterland. Kultur, 1918, S. 1 — 10. Besonders die erste
dieser gedankenreichen Arbeiten bildet eine fast erschopfende Darstellung, wie sie hier
auf beschranktem Raum nicht gegeben werden konnte. Ich mochte indessen hervorheben,
daC diese formvollendete Schilderung mir oft als Anregung gedient hat, wenn auch
natiirlich durch das Studium von F.s Schriften dieser mir seit Jahren ein vertrautes und
verehrtes Vorbild war. Fur manche personliche Angaben bin ich schliefilich Frau Vera
v. Miaskowski, verwitwete Frau Geheimrat Freeh, zu grofiem Danke verpflichtet. Ein
ausf iihrliches Schriftenverzeichnis konnte ich hier nicht aufnehmen und habe nur das mir
besonders wesentlich Erscheinende genannt; ich verweise fur das "Obrige auf die erwahnte
Arbeit von Pompeckj.
Breslau. Serge v. Bubnoff.
Friedrich, Johann, Kirchenhistoriker, Geschichtschreiber des vatikanischen
Konzils, * 5. Mai 1836 zu Poxdorf bei Forchheim in Oberfranken, f 19- August
1917 zu Munchen. — Als Sohn eines I,ehrers in bescheidenen Verhaltnissen
aufgewachsen, legte er seine humanistischen Studien als Zogling des Auf-
sessianischen Seminars zu Bamberg zuriick, worauf er am dortigen, mit tiich-
tigen Lehrkraften besetzten Lyzeum den philosophisch-theologischen Fachern
Freeh. Friedrich 75
oblag (1854 — 1858). Mit gediegenen Kenntnissen ausgeriistet, verlieB er, von
Erzbischof Deinlein 1859 zum Priester geweiht, das Klerikalseminar und fand
seine erste Anstellung als Kaplan in Markt Scheinfeld in Mittelfranken, wo
$j Jahre zuvor auch Dollinger kurze Zeit in der Seelsorge tatig gewesen war.
Friedrich fuhlte sich durch die praktische Wirksamkeit nicht befriedigt. Er
sehnte sich nach seinen geliebten Biichern und Studien zuriick und richtete
daher an seinen Erzbischof das Gesuch, behufs weiterer Ausbildung die Uni-
versitat Miinchen beziehen zu diirfen. Es sah wie ein Zufall aus und war doch
sichtlich hohere Fiigung, dai3 eben damals auch Dollinger den Oberhirten,
seinen ehemaligen Studiengenossen, um einen jungen Geistlichen bat, welcher
ihm bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten an die Hand gehen konnte. So kam
F. nach Miinchen und in den Bannkreis des Mannes, der das Schicksal seines
Lebens ward. Selten ging ein Schiller so ganz und mit solcher Hingebung in
seinem Lehrer auf , wie F. in Dollinger. Er wohnte nicht nur seinen Vorlesungen
an, sondern genoB auch, von ihm in seine Hausgemeinschaft aufgenommen,
das seltene Gliick, in stetem Verkehr und Gedankenaustausch mit dem groBen
Gelehrten, von ihm mannigfach angeregt und geistig befruchtet, sein Gesichts-
feld standig erweitern, sein Wissen ausbreiten und vertiefen zu diirfen.
Dollinger hatte, als F. Ende 1859 zu ihm zog, den Zenit seines Ruhmes in
.streng kirchlichen Augen bereits uberschritten. Diistere Wolken am Gelehrten-
himmel verkiindeten ein nahes schweres Gewitter. Zwei theologische Rich-
tungen gab es im katholischen Lager, welche die Geister schieden : die deutsche
historische und die romisch-jesuitische, neuscholastische. Noch in der ersten
Halfte des 18. Jahrhunderts beherrschte die scholastische Wissenschaft auch
in Deutschland alle geistlichen Schulen, siechte aber bereits unaufhaltsamem
Zerfalle entgegen. Da wirkte das lebendige Beispiel emsiger kirchengeschicht-
licher und patristischer Studien, wie sie von den franzosischen Benediktinern
^o erfolgreich betrieben wurden, erfrischend und neubelebend auf ihre Ordens-
genossen in Deutschland und besonders in Osterreich. Ein osterreichischer
Benediktiner, Stephan Rautenstrauch, Abt von Braunau (| 1785), war es, der
das theologische Studien wesen, das noch immer schwer unter den Nachwehen
des DreiBigjahrigen Krieges litt, neu organisierte, indem er ohne Beeintrachti-
gung der kirchlichen Dogmatik an Stelle der abgelebten Scholastik nach prote-
stantischem Vorbilde die kirchengeschichtlichen, bibelwissenschaftlichen und
patristischen Studien in den Vordergrund des theologischen Unterrichts riickte
und den Lehrplan entwarf, welcher fortan nicht bloB in den osterreichischen,
sondern auch in den deutschen katholisch-theologischen Schulen die Herrschaft
behauptete. Die gewaltige Reaktion, welche nach dem Zusammenbruche der
Franzosischen Revolution iiberall einsetzte, und der blendende Zauber, mit
welchem die Romantik die seligen Zeiten des mittelalterlichen Papsttums ver-
klarte, brachte es nun aber mit sich, daB sich im SchoBe des Katholizismus eine
Stromung breit machte, welche in der entschlossenen Riickkehr zur Papst-
herrschaft und zur Scholastik das Heil der Kirche und der burgerlichen Gesell-
schaft erblickte. Die Sonne des hi. Ignatius von Loyola, von Clemens XIV.
aufgehoben, von Pius VII. zu neuem Leben erweckt, waren die Bannertrager
der neuen Richtung, und ihre Schiiler, welche sie im sogenannten Collegium
Germanicum zu Rom mit ihrem Geiste erfiillten, wirkten, unter dem Einflusse
des immer mehr erstarkenden Ultramontanismus auf bischofliche Stiihle und
76 19*7
theologische Katheder erhoben, mit Feuereifer in ihrem Sinne. Des festen Ruck-
haltes in Rom versichert und gleich ihren Meistern gewohnt, kirchliche Recht-
glaubigkeit mit der von ihnen vertretenen Scholastik in eins zu setzen, iiber-
trugen sie ihren ungeziigelten HaB gegen Protestantismus nnd Auf klarung auf
die nach ihrer Anschauung aus demselben Geiste geborene und daher im
hochsten Grade anriichige deutsche Schule. Angriffslustig und siegesgewiB er-
offneten sie den Sturm zunachst auf philosophischem Boden und ruhten nicht,
bis die Fiihrer der aufbluhenden deutschen Philosophic, Manner wie Hermes,
Giinther, Frohschammer, Oischinger, dem romischen Index verfallen waren.
Und schon griff der Kampf auch ins theologische Bereich iiber. Schon war der
edle Hirscher, seit 1857 in Freiburg, von Rom verurteilt, schon sah sich der
Tubinger Dogmatiker Kuhn vom selben Lose bedroht. Der Bamberger Dom-
dekan Gengler, F.s Lehrer, von Konig Max II. zum Erzbischof von Bamberg
erkoren (1858), wagte die Ernennung nicht anzunehmen, aus Furcht, daJ3 er,
in Rom langst verdachtigt, die papstliche Bestatigung doch nicht erhalten
wtirde. Schon wurden die katholischen Fakultaten und die Universitatsbildung
der Geistlichen fiir bedenklich erklart und die Griindung einer »freien« katho-
lischen Universitat gefordert. Schon verkiindeten der Mainzer »Katholik«, die
Zeitschrift der Neuscholastiker, die Theologie der Orden (Jesuiten) und der
Germaniker sei auch die Theologie Roms und der ganzen katholischen Welt.
Schon erklarte er of fen, es gebe im Katholizismus zwei Richtungen, welche
nicht friedlich nebeneinander bestehen konnen, sondern sich gegenseitig auf-
heben. Schon war also der deutschen Schule der Vernichtungskrieg unverblumt
angekiindigt. Nur einer stand in Deutschland noch unbesiegt — Dollinger, das
gefeierte Haupt der Miinchener historischen Schule. Aber es ging das gefltigelte
Wort, das Dogma musse die Geschichte besiegen, und so muBte friiher oder
spater auch er fallen. Einen Sturm der Entriistung erregten im ultramontanen
Lager schon die Odeonsvortrage (1861) iiber den nahen Sturz des Kirchen-
staates, zumal da deutsche, belgische, englische und hollandische Bischofe den
Kirchenstaat soeben noch als einen wesentlichen Bestandteil der Kirche be-
zeichnet hatten. Aufs heftigste prallten die Gegensatze anlaBlich der Miinchener
Gelehrtenversammlung (September 1863) zusammen, auf welcher Dollinger
einen nach Form wie Inhalt ausgezeichneten Vortrag iiber » Vergangenheit und
Gegen wart der katholischen Theologie « hielt.
F. hatte wie an den Odeonsvortragen, so an der Gelehrtenversammlung und
den damit zusammenhangenden Beratungen lebhaften Anteil genommen, und
so war es unausbleiblich, daJ3 er, als getreuer Schiiler seines Meisters bekannt,
die unversohnliche Gegnerschaft, welche sich dieser seitens der Neuschola-
stiker zugezogen hatte, auch am eigenen Leibe zu spuren bekam. Schon als er
seine erste Schrift, mit welcher er sich den theologischen Doktorgrad erwarb,
iiber »Joh. Wessel. Ein Bild aus der Kirchengeschichte des 15. Jahrhunderts«
(Regensburg 1862) herausgab, sah er sich gezwungen, geharnischte Verwahrung
gegen einen neuscholastischen Kritiker einzulegen, welcher die Arbeit, noch
ehe sie gedruckt war, aus dem Pulte des Verlegers an sich zu bringen gewuBt
hatte und sich nun voller Entriistung iiber das vom Verf asser entworf ene diistere
Bild kirchhchen Verderbens der Vorreformationszeit aussprach. Als nun F.
nach seiner, auf Grand einer neuen Schrift iiber »Die Lehre des Joh. HuB und
ihre Bedeutung fiir die neuere Zeit« (Regensburg 1862) erfolgten Habilitation
Friedrich
77
(1862) zum auBerordentlichen Professor der Kirchengeschichte ernannt werden
sollte, trug der Erzbischof von Miinchen Bedenken, seine Zustimmung zu geben,
da sein » Wessel« AnstoB bei ihm erregt habe, und erst als sich der junge Gelehrte
auf das giinstige Urteil des Erzbischofs Deinlein von Bamberg und des Bischofs
Dinkel von Augsburg berufen konnte, erlitt seine Anstellung (1865) keinen Auf-
schub mehr. In der Tat war sie vollauf verdient. F. entfaltete eine ungemein
riihrige literarische Tatigkeit. Er hatte den groBen Plan einer » Kirchen-
geschichte Deutschlands« gefaBt, von welcher jedoch nur der erste Band und
die erste Halfte des zweiten erscheinen konnte (1867 — 1869), worauf das Werk
wegen aUgemeiner Teilnahmslosigkeit eingestellt werden muBte. Von ganz an-
deren Fragen waren damals die Gemiiter bewegt. Pius IX. hatte 1864 den
Syllabus verkiindet und darin die Kulturideale der modernen Gesellschaft ver-
dammt — ein Vorgehen, welches der Mainzer Neuscholastiker Heinrich als
»die groBte Tat des Jahrhunderts und vielleicht vieler Jahrhunderte« pries.
Im Jahre 1867 aber hatte der Papst ein allgemeines Konzil angesagt, und es
hieB, es solle bei dieser Gelegenheit die papstliche Unfehlbarkeit, vielleicht sogar
per acclamalionem, zum Dogma erhoben werden. Unter solchen Umstanden
war eine griindliche Beschaftigung mit der Geschichte der friiheren Konzilien,
besonders des letzten, des tridentinischen, aufs dringlichste geboten. F. widmete
sich ihr sofort mit Feuereifer und begab sich auf Doilingers Rat nach Trient,
um hier an Ort und Stelle auch Quellenstudien zu obliegen. Es war die Stunde,
die iiber sein ferneres Leben entschied, als er einen Brief Doilingers vom
25. September 1869 mit der iiberraschenden Mitteilung erhielt, KardinalHohen-
lohe habe um einen deutschen Theologen geschrieben, der wahrend des Konzils
bei ihm in Rom wohnen und ihm mit Ratschlagen beistehen konne. Er, Dol-
linger, habe ihn als den rechten Mann vorgeschlagen, F. moge sich die prachtige
Gelegenheit nicht entgehen lassen, »hinter den Kulissen stehend ein groBes,
weltgeschichtliches Drama (hoffentlich weder Komodie noch Trauerspiel) auf-
gefiihrt zu sehen«.
Im November 1869 reiste er nach Rom ab. Dollinger hatte sich in ihm nicht
getauscht — er war der rechte Mann, der es mit seiner Aufgabe ernst nahm
und fur ihre Lbsung durch seine Studien iiber das Trienter Konzil wohl aus-
geriistet war. Mit klarem Blicke betrachtete er Personen und Verhaltnisse, mit
sicherem, unbeirrbarem Urteile durchschaute er die voile Tragweite der den
Bischofen von der Kurie vorgelegten Entwiirfe und Formeln. Von Anfang an
erkannte er, wie ihm der preuBische Gesandte v. Arnim spater ausdriicklich
bezeugte, daB angesichts der geschlossenen, von ein em Willen zielbewuBt ge-
leiteten, zahlenmaBig weit uberlegenen Mehrheit, und der unsicher hin und
her schwankenden, in sich vielfach gespaltenen und uneinigen Minderheit der
Sieg des Papalsystems unabwendbar sein werde. Angelegentlich bemuhte er
sich, den meist nur mangelhaft vorbereiteten, erst durch ihre nunmehrigen Er-
fahrungen und Wahrnehmungen aus ihrer friiheren Vertrauensseligkeit auf-
geriittelten Bischofen der Minoritat mit Gutachten und Aufschliissen beizu-
springen. Unablassig stand er auf seinem Posten, mahnend, warnend, studie-
rend, priifend, beobachtend. In den Aufzeichnungen seines nachher durch den
Druck veroffentlichten Tagebuches sowie in den ausfiihrlichen Briefen an
Dollinger, die er noch kurz vor seinem Tode ebenfalls im Wortlaute mitteilte,
schilderte er die verschiedenartigen Gestalten, welche auf der buntbewegten
78 1917
Schaubuhne des Konzils auftraten, die mannigfachen Vorgange und Ereignisse,
die sich vor seinen Augen abspielten. Damals erreichte in ihm ein geistiger
Kampf sein Ende, der sein ganzes Wesen erschiitterte. Er erkannte die unsicht-
bare Hand, welche ihn nach Rom gefuhrt hatte, und je tiefer die Einblicke
waren, welche er Tag fur Tag aus nachster Nahe in das Konzilsgetriebe tun
durfte, desto mehr fuhlte er sich von ihm abgestoBen. »Was war Rom,« rief er
in seinem Tagebuch (2. Aufl., S. 196) aus, »einst fiir mich! Wie betete ich ge-
wissermaBen alles an, was von da kam! Jetzt sehe ich, daB nicht bloB die
grauenhaf teste Ignoranz, sondern noch weit mehr Hochmut, Luge und Siinde
hier herrschen. Nach zwei Hinsichten hat mein Leben seine Aufgabe jetzt be-
zeichnet erhalten: es ist von jetzt an dem Kampf e gegen die Kurie, nicht aber
(gegen den) Primat, sowie gegen die Jesuiten gerichtet. Gehe ich dabei zugrunde,
so glaube ich, daB es der Herr so gewollt hat. « Er rechnete seinen romischen
Aufenthalt zu den triibsten Tagen seines L,ebens und war entschlossen, dieses
Konzil niemals als okumenisches anzuerkennen.
Mitte Mai 1870 in die Heimat zuriickgekehrt, hatte er nur zu bald Gelegen-
heit, seinen EntschluB in die Tat umzusetzen. Am 18. Juli erfolgte die Dogma-
tisierung des Universalprimats und der personlichen Unfehlbarkeit des Papstes,
welcher sich die Konzilsminderheit nachtraglich ausnahmslos unterwarf . Da
wie Dollinger auch F. die Annahme dieser ihrer Uberzeugung gemaB neuen, in
Schrift und apostolischer Uberlieferung nicht begriindeten, von einer moralisch
unfreien, dem starksten Drucke durch die Kurie unterworfenen Versammlung
beschlossenen, fiir Kirche wie Staat gleich verhangnisvollen Glaubenssatze ver-
weigerten, so wurde Dollinger am 17., F. am 18. April 1871 vom Erzbischofe
Gregor v. Scherr von Miinchen exkommuniziert. Die groBe Frage war nun:
was sollte weiter geschehen? Dollinger und F. waren anfangs gesonnen, den
Kirchenbann iiber sich ergehen zu lassen, ohne an eine kirchliche Organisation
ihrer Gesinnungsgenossen zu denken. Bald aber drangte die Macht der Verhalt-
nisse in andere Bahnen. Da die »Altkatholiken« — die Bezeichnung geht allem
Anscheine nach auf den Abt Haneberg von S. Bonifaz in Miinchen, spateren
Bischof von Speier, zuriick — durch die romischen Kirchenbehorden von den
Sakramenten, namentlich von der damals auch zur staatlichen Giiltigkeit einer
EheschlieBung erforderlichen pfarrlichen Assistenz, sowie vom kirchlichen Be-
grabnisse ausgeschlossen waren, so sahen sie sich in die Zwangslage versetzt,
eine regelmaBige altkatholische Seelsorge in die Wege zu leiten. Dollinger wollte
davon anfangs nichts wissen; eindringlich widerriet er, » Altar gegen Altar zu
stellen.« F., der in manchen Dingen scharfer sah, vertrat in dieser praktisch so
wichtigen Angelegenheit den entgegengesetzten Standpunkt, welchem sich auf
die Dauer auch Dollinger nicht zu verschlieBen vermochte. Mit vorbildlicher
Hilfsbereitschaft und Opferwilligkeit leistete F., solange die Gemeindebildung
mit eigenen Geistlichen noch nicht durchgefiihrt war, in Miinchen selbst wie
auswarts, wo ein Kranker nach geistlichem Troste, ein Sterbender nach den
Sakramenten verlangte, den ersehnten Beistand. Als es gait, an der Universitat
Bern eine altkatholische Fakultat einzurichten, entsprach er auf Dollingers
Wunsch der an ihn ergangenen Einladung und hielt wahrend der beiden ersten
Semester (1874/75) kirchengeschichtliche Vorlesungen, welche er mit einer be-
deutsamen Rede iiber den » Kampf gegen die deutschen Theologen und theo-
logischen Fakultaten in den letzten zwanzig Jahren« eroffnete. Auf verschie-
Friedrich
79
denen Kongressen, wie in zahlreichen Versaminlungen trat er als Redner auf .
Mit unerschrockenem Bekennermute und riicksichtsloser Entschiedenheit ver-
teidigte er die altkatholische Sache auch in wuchtigen Broschiiren, und hielt
mit nnbeugsamer Festigkeit den leidenschaftlichen Angriffen der Gegner stand,
welche ihn, der freilich auch selbst eine schneidige Klinge schlug, mit einer Flut
gehassiger Schmahungen und Beschimpfungen iiberhauften, gegen welche er
gelegentlich auch gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen muBte.
Und doch hinderte ihn alles dies nicht, das groBe Werk seines Lebens zu voll-
enden, zu dem er wie sonst niemand berufen war, die »Geschichte des vatika-
nischen Konzils « in 3 bzw. 4 Banden, von welchen der erste (1877) die Vor-
geschichte bis zur Eroffnung des Konzils, der zweite (1883) die unmittelbaren
Vorbereitungen, der dritte, um seines groBen Umfanges willen in zwei Halften
geteilt, den Verlauf des Konzils bis zum entscheidenden 18. Juli behandelte
(1887). Das Werk wird nie veralten und fur alle Zeiten ebenso wie das Tagebuch
und die Berichte, welche der Verfasser wahrend seines romischen Aufenthaltes
an Dollinger gelangen lieB, eine Hauptquelle der Geschichte des vatikanischen
Konzils bilden. Seine Glaubwiirdigkeit und Zuverlassigkeit besteht, bei
manchen Irrtumern und Fehlern in Einzelheiten und Kleinigkeiten, die
strengste kritische Prufung. Selbst ein bald darauf von jesuitischer Seite auf
Grund der samtlichen vatikanischen Aktenstiicke verfaBtes Gegenwerk ver-
mochte es nicht zu iiberholen oder auch nur in seinen Hauptergebnissen zu er-
schuttern. Die Palme gebuhrt unter den drei Banden unstreitig dem ersten.
Mit musterhafter Griindlichkeit legt er die Machte und Triebkrafte bloB, welche
zur Verkiindigung der Unfehlbarkeit fiihrten, und bietet eine unerschopfliche
Fundgrube kostbarsten, zum Teile sehr entlegenen Stoffes zur Geschichte des
Ultramontanismus im 19. Jahrhunderte. Die gebiihrende Anerkennung blieb
denn nicht aus. W. v. Giesebrecht befurwortete 1880 F.s Wahl zum ordent-
lichen Mitgliede der Miinchener Akademie, und wenn dieser auch 1882 auf
Drangen der ultramontanen Kammermehrheit gegen seinen Willen aus der
theologischen Fakultat ausgeschieden und in die philosophische versetzt wurde,
so konnte er doch seine Vorlesungen ungestort wieder aufnehmen und seine
wirtschaftliche Zukunft fur gesichert halten. Der schwerste Schlag traf ihn,
als am 10. Januar 1890 Meister Dollinger aus dem Leben schied. Am 13. Januar
segnete er ihn, der Gebannte den Gebannten, zur ewigen Ruhe ein und widmete
ihm am offenen Grabe, aufs tiefste ergriffen, tief ergreifende Abschiedsworte.
Dem Wunsche des Entschlafenen gemaB besorgte er 1892 die neue Auflage der
1869 in der ganzen gebildeten Welt als formliches kirchenpolitisches Ereignis
gewiirdigten Schrift »Der Papst und das Konzil von Janus «, deren machtiger
Eindruck durch den ihr vom Wtirzburger Professor und spateren Kardinal
Hergenrother entgegengesetzten »Antijanus« nicht mehr hatte verwischt wer-
den konnen. Die Schrift, von F. mit sorgfaltigen Quellenbelegen versehen und
dadurch in ihrem wissenschaftlichen Werte noch gehoben, erschien nunmehr
unter dem Titel »Das Papsttum von J. v. Dollinger*, wodurch zugleich die
bisher noch immer ungeklarte Frage der Urheberschaft des Janus aufgehellt
wurde. F. war es auch, der zuverlassigen AufschluB uber den wahren Verfasser
der wahrend des Konzils in der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« veroffent-
lichten und ob der Verlassigkeit ihrer Mitteilungen, ihrer ungewohnlichen Ge-
lehrsamkeit und geistvollen Sprache iiberall, besonders auch in Rom selbst von
8o 1917
den Konzilsvatern gierig verschlungenen »R6mischen Briefe« erteilen konnte,
die Ende 1870 in Buchfonn unter dem Namen »Quirinus« erschienen waren.
Ihr Verfasser war wiederum Dollinger, der sich hierbei nicht nur der schon er-
wahnten Briefe F.s, sondern auch der ihm zur Verfugung gestellten amtlichen
Berichte des bayerischen Gesandten Tauffkirchen und seines Attaches, Grafen
Arco, ganz besonders aber der aufierst aufschluflreichen Zuschriften seines
Freundes und Schulers, des I/>rds Acton, bedienen konnte, der die engsten Be-
ziehungen zu den fuhrenden Bischofen der Minderheit unterhielt, zu Darboy
von Paris, Dupanloup von Orleans und Strofimayer von Diakovar. Mit ihren
lebendigen Stimmungsbildern und ihren aus genauester Kenntnis der Personen
und Verhaltnisse geschopften Angaben zahlen die »R6mischen Briefe « zu den
zuverlassigsten und wichtigsten Quellen der Konzilsgeschichte, die von keinem
Forscher ungestraft beiseite geschoben werden konnen und auch von F. fleiBig
zu Rate gezogen wurden, als er seine Konzilsgeschichte verfaBte. Das monu-
mentum aere perennius setzte F. seinem Lehrer in der dreibandigen Biographie
»Ignaz von Dollinger «. Sein Leben auf Grund seines schriftlichen Nachlasses
(Miinchen 1899 — 1901), in der er mit pietatvollem Griffel ein lebenswarmes
Bild des grofien Theologen zeichnete und dabei ein Jahrhundert katholischer
Gelehrtengeschichte an unseren Augen voriiberziehen laBt. Waren damit nun
auch seine groBeren Werke geschlossen, so legte er die unermiidliche Feder doch
noch lange nicht aus der Hand. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, teils in
den Abhandlungen der Munchener Akademie, teils als selbstandige Schriften
erschienen, legten von der ungeschmalerten Geistesfrische des nun auch selbst
schon ins Greisenalter getretenen Gelehrten riihmliches Zeugnis ab. Und frisch
und riistig blieb auch der Korper. Ungebeugt und ungebrochen durch die Last
der Jahre oder die rauhen Sturme, die iiber ihn hinweg gebraust waren und so
manchen anderen entwurzelt hatten, stand er trotzig und zah, wie die knorrigen
Eichen seiner frankischen Heimat, das ausdrucksvolle Haupt, aus dem die
blauen giitigen Augen so schalkhaft leuchteten, aber zuweilen auch zornige
Blitze spriihten, von ehrwtirdigen weiBen Locken umwallt. Der altkathohschen
Sache blieb er bis zum Tode unerschutterlich treu. RegelmaBig nahm er an den
Veranstaltungen und gottesdienstlichen Feiern der Gemeinde seines Munchener
Wohnsitzes teil, wenn er auch in den letzten Jahren keine kirchlichen Ver-
richtungen mehr vornahm. Unstreitig war er ein groBer Gelehrter. Aber er war
viel mehr. Er war, was so selten ist, von der FuBsohle bis zum Scheitel jeder
Zoll ein ganzer Mann. Was er am Grabe Dollingers diesem nachruhmte, das
gait ebenso von ihm selbst: »Sein ganzes Leben war ein ununterbrochener,
seinem Herrn gewidmeter Dienst.«
Literatur: H. Prutz, Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1918,
S. 69 ff. — O. K., Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1906, Nr. 104. — F. Hacker, J. F. als
Fiihrer der altkatholischen Bewegung, Internationale Kirchliche Zeitschrift 1918, S.252ff.
— Friedr. Nippold, Ein Jahr aus dem Leben von Prof. F., Der romfreie Katholik, 191 3,
Nr. 32, S. 250 f. — J. F., Rdmische Briefe iiber das Konzil (1869/70), Revue Internationale
de Thiologie XI (1903), 621 ff. — Derselbe, Meine Briefe an Dollinger aus dem Konzils-
jahre 1869/70, Internationale Kirchliche Zeitschrift VI (1916), 27 ff., 174 ff., 300 ff., 401 ff.
— Th. Granderath, S. J., Geschichte des Vatikanischen Konzils, herausgegeben von
K. Kirch, S. J., 3 Bande 1903 — 1906. — K. Mirbt, Die Geschichtschreibung des Vatika-
nischen Konzils, Hist. Zeitschr. CI (1908), 529 ff. — .Derselbe, Vatikanisches Konzil, Real-
Enzyklop. f. protest. Theologie XX 3, 445. — E. A. Roloff, Die »R6mischen Briefe vom
Friedrich. Fxoriep 8l
KonziU, Zeitschr. f . Kirchengeschichte XXXV (1914), 204 ff. — Jahrbiich der Ludwig-
Maximilians-Universitat Miinchen fur die Jahre 1914 — 1919(1927) S. 46 — 52 (Hermann
Grauert [f]: J. F.).
Miinchen. Joseph Schnitzer.
Froriep, August, Professor der Anatomie zu Tiibingen, * am 10. September
1849 in Weimar, f am 11. Oktober 1917 zu Tubingen. — F. entstammte einer
alten Weimarer Familie, war Sohn und Enkel eines Arztes und wandte sich, der
Familientradition folgend, dem Studium der Medizin zu, zunachst in Gottingen
(1868 — 1870), spater in Tubingen (von 1870 an), wo sein Groflvater Ludwig
Friedrich F. ehemals Professor der Anatomie gewesen war. Sein erster Aufent-
halt in Tubingen war jedoch nur von kurzer Dauer, da der Krieg ausbrach, den
F. als Freiwilliger mitmachte. Erst im Herbst 1871 kam F. nach Tubingen
zuriick, betrieb hier klinische Studien und arbeitete bei Hoppe-Seyler, ging
spater nach Leipzig und beendete dort seine Studien. Ostern 1875 trat der
junge F. an der anatomischen Anstalt zu Leipzig bei Braune als Assistent ein
und kam dadurch auch in nahere Beriihrung mit His, dem damaligen Leiter
der Anstalt. Im gleichen Jahre verheiratete er sich zum ersten Male mit Elise
Lenoir, einer Genferin, die ihm jedoch schon 1887 durch den Tod entrissen
wurde.
Es ist ganz zweifellos, dafl die Arbeitszeit an der anatomischen Anstalt zu
Leipzig in gewissem Sinne fur F. entscheidend war, denn seine embryologischen
Neigungen, denen er sein ganzes Leben iiber treu blieb, leiten sich jedenfalls
auf die von His empfangenen Anregungen zuriick, wahrend seine topogra-
phischen Studien in Braune ihre letzte Wurzel haben. In Leipzig kam er auch
in Beriihrung mit der dortigen Kunstschule, an welcher er mehrere Monate
lang den Lehrer der Anatomie zu vertreten hatte, und von diesem Ursprunge
her entwickelte sich seine Vorliebe f iir plastische Anatomie und seine » Anatomie
fur Kiinstler<(, die im Jahre 1880 zum ersten Male erschien.
Als 1878 Dursy, der erste Prosektor und a.o. Professor der Anatomie zu
Tubingen, starb, bewarb sich F. bei Henke, dem Vorstande der Anstalt, um
dessen Nachfolge und erhielt die Stelle freundlichst zugesichert. So las er also
im Wintersemester 1878/79 sein erstes Kolleg an der Universitat und hatte vor
alien Dingen auch viel mit den Praparieriibungen zu tun. Da er jedoch auch den
Unterricht in der mikroskopischen Anatomie hatte iibernehmen miissen, so
ging er im Friihjahre 1879 auf drei Monate nach Paris zu Ranvier, welcher da-
mals einen wohlbegriindeten Ruf in der Histologic, besonders als Techniker,
besaB, um sich dort in diesem Fache nach den Regeln der Kunst ausbilden zu
lassen. Dieser EntschluB ist darum bemerkenswert, weil damals eigentlich
Kolliker in Wiirzburg im Bereiche der Histologic der anerkannte Herrscher war,
wenigstens was Deutschland anlangt. F. ist die Liicken seiner franzosischen
Ausbildung in diesem Fache Zeit seines Lebens nicht los geworden. So kam es,
dafl die mikroskopische Anatomie f iir ihn immer ein Nebenfach blieb ; er hatte
zwar auch fur dieses Gebiet ein erhebliches Interesse, fand aber keine Gelegen-
heit mehr, sich nach dieser Richtung hin fortzubilden. Was die weiteren Lebens-
daten anlangt, so wurde F. 1884 a.o. Professor und ubernahm 1895 an Stelle
Henkes das Ordinariat fur Anatomie. Im Jahre 1890 ging er mit Marie Freiin
v. Hermann eine zweite Ehe ein, die erst durch den Tod F.s geldst wurde.
dbj «
82 1917
Die Beschaftigung mit der schon erwahnten Kunstleranatomie fallt in die
Jahre 1878 — 1880; sie erschien im Todesjahre F.s zum 5. Male, ein schlichtes
Werk mit klaren, kraftigen Abbildungen, welches dem Kiinstler das brauchbare
Handwerkszeug tibermittelt. Hierzu ist zu erwahnen, daB F. zweifellos der
Anlage nach kiinstlerische Interessen besaB, auch im Unterrichte die plastischen
Werke der Antike gerne projizierte, urn an diesen die wesentlichen Tatsachen
der plastischen Anatomie zu erlautern.
F.s Hauptgebiet jedoch war die Embryologie und dies entsprach dem Zuge
der Zeit. Seitdem im Jahre 1859 die »Entstehung der Arten« von Darwin er-
schienen war, waren zahlreiche Forscher bemiiht gewesen, die Grundbegriffe
der Deszendenzlehre auf die Morphologie anzuwenden und die Lehre Darwins
auf ihren Nutzungswert zu priifen. Die einschlagigen Arbeiten bewegen sich
naturgemaB auf den Gebieten der vergleichenden Anatomie und Embryologie
und eben hieran wollte der junge F. teilnehmen. Er wandte sich der Wirbel-
theorie des Kopfes zu, welche seinerzeit von Goethe und Oken begriindet wor-
den war und die nunmehr in abgeanderter Form wieder auftauchte. An die
Stelle der Wirbel traten die Metameren oder Folgestiicke, welche entwicke-
lungsgeschichtlich durch die Erscheinung der Ursegmente oder Urwirbel cha-
rakterisiert sind. F. wies nach, daB nur in dem hinter der Ohrgegend gelegenen
Abschnitte des Kopfes Urwirbel nachweisbar sind und daB somit nur dieser Teil
als ein modifizierter Teil des Rumpfes angesehen werden kann. Diese Arbeiten
zur Morphologie des Kopfes ziehen sich durch das ganze Leben F.s hindurch ;
die letzte Veroffentlichung erschien in seinem Todesjahr (1917).
F. hat, von den genannten Arbeiten ausgehend, auch andere Gebiete der
Anatomie des Kopfes eingehend bearbeitet. Vor alien Dingen war er ein vor-
trefflicher Kraniologe und hat zu Tubingen eine reiche anthropologische
Schadelsammlung angelegt. Hierher gehoren auch seine Veroffentlichungen
iiber die Schadel verschiedener historischer Personlichkeiten (Hugo v. Mohl,
Schiller, Fraulein v. Gochhausen). In den beiden letztgenannten Fallen handelt
es sich um die Identifizierung des Schadels nach dem vorhandenen Bildnis-
material, Untersuchungen, die jedesmal auBerst schwierig sind, aber gelegent-
lich auch durch die Umstande erforderlich werden. So hatte schon His seinerzeit
den Schadel Joh. Seb. Bachs auf Ansuchen des Rates der Stadt Leipzig iden-
tifiziert. Nachdem nun Welcker die Echtheit des in der Weimarer Fiirstengruft
aufbewahrten Schiller-Schadels angezweifelt hatte, suchte F. an der Hand des
Bildnismaterials den Schadel unter vielen neu zu bestimmen. Es ist bekannt,
daB er in der Tat einen anderen Schadel als den echten bezeichnete; da diese
Untersuchung mit dem Aufgebote aller technischen Hilfsmittel durchgefuhrt
worden war, muB man sich mit dem Resultate geniigen lassen ; es ist kaum an-
zunehmen, daB das gesamte Material noch einmal durchgearbeitet werden wird.
Weiterhin hat F. seine Untersuchungen am Kopfe auch auf die Lage des
Gehirns zum Schadel ausgedehnt. Es gelang ihm, ein topographisches Werk
ersten Ranges zustande zu bringen, welches auf diesem Gebiete als klassisch
bezeichnet werden muB, und die solide Grundlage fur die operativen MaBnahmen
am GroBhirn geworden ist.
Im ganzen gewinnt man von den Arbeiten F.s (umfassend 52 Nummern) den
Eindruck, daB er ein auBerordentlich peinlicher und gewissenhafter Forscher
gewesen ist, der sich nirgend genug tun konnte. Jederzeit wurden alle nur er-
Froriep. Gillhausen 83
denklichen Hilfsmittel ausgenutzt, urn das Resultat sicherzustellen. Auch als
Chef des Institutes hat er sich sehr erhebliche Verdienste erworben, denn die
anatomische Anstalt zu Tubingen in ihrer jetzigen verbesserten Gestalt ist sein
Werk. Auch hat er die Sammlungen reichlich vermehrt und den Unterricht in
vorbildlicher Weise gepflegt.
Literatur: M. Heidenhain, August v. F. Anatom. Anzeiger, Bd. 50, 191 7, mit Bildnis.
Tubingen. Martin Heidenhain.
Gillhausen, Gisbert, Geh. Baurat und Dr.-Ing. e. h., * am 28. Juli 1856 zu
Sterkrade bei Oberhausen, | am 16. Marz 1917 in Essen. — Gisbert G. war
der Sohn eines Hiittenbeamten der Gutehoffnungshiitte, die damals noch
unter der Firma Gewerkschaft Jacobi, Haniel & Huyssen bekannt war, und
so wurde er schon durch Geburt und Umgebung in die technische Laufbahn
gewiesen, fiir die er eine fruhe und entschiedene Begabung mitbrachte. Unter
acht Geschwistern in engen Verhaltnissen aufwachsend und durch den friihen
Tod des Vaters vor die Notwendigkeit raschen Vorwartskommens gestellt,
vertauschte der Knabe schon mit 16 Jahren das Gymnasium zu Wesel mit
dem Polytechnikum zu Aachen, wo ihn sein Fleifl und seine friih hervor-
tretende mathematische Begabung in dem gewahlten Fache des Maschinen-
baus rasch forderten. — Schon nach vierjahrigem Studium, noch nicht ganz
zwanzigjahrig, trat G. als Ingenieur in die Gutehoffnungshiitte ein, wo er
an groBeren Eisenbauten, u. a. an den Briicken fiir die Gotthardbahn und
an der Koblenzer Rheinbrticke, sein konstruktives Talent weiter ausbildete.
Einige Jahre spater finden wir ihn schon in selbstandig verantwortlicher
Stellung als Oberingenieur bei den Rheinischen Stahlwerken, und hier, wo
er nach seinen eigenen Worten die schonsten Jahre seines Lebens verlebte
und zur Familiengriindung schritt, eroffnete sich auch seiner seltenen Arbeits-
kraft und Energie ein breites dankbares Feld. Die deutsche Industrie trat
damals, am Beginn der achtziger Jahre, mit dem nach schweren Kampfen
errungenen Zolltarif nach langem Darniederliegen wieder in eine hoffnungs-
vollere Tatigkeitsperiode ein. Gleichzeitig eroffnete sich durch den vor kurzem
erschlossenen ThomasprozeC gerade fiir die deutschen Hiitten eine Moglichkeit
kraftigen Auf schwunges : die gewaltigen Eisensteinschatze des jiingst er-
worbenen Lothringens konnten durch das neue Verfahren erschlossen und ein
wertvolles Erzeugnis billig dem Weltmarkte zugefiihrt werden. An diesem
grofien Umschwunge als einer der ersten mitgearbeitet zu haben, hat G. immer
als eins der gliicklichsten Ereignisse seiner technischen I,aufbahn bezeichnet.
Die Rheinischen Stahlwerke begannen mit der Einfuhrung des Thomasver-
fahrens unmittelbar nach G.s Eintritt, er nahm an alien einschlagigen Arbeiten
starksten Anteil, entwarf einen groBen Teil der erforderlichen Hiittenanlagen,
Walzwerke und bereicherte zugleich seine eigenen Erfahrungen, die er dann im
Dienste der Firma Krupp auf der breitesten Grundlage verwerten konnte.
Im JahreiSgo, zehn Jahre nach G.s Eintritt bei den Rheinischen Stahlwerken,
erfolgte sein Ubertritt zu Krupp. Man berief ihn als Loiter des Technischen
Bureaus, in welchem samtliche, den weiten Umkreis der Kruppschen Werke
betreffenden Neuanlagen entworfen und ausgefiihrt werden, und an welcher
Stelle nach einer natiirlichen Pause des Stillstandes in den letzten L,ebensjahren
84 lw
und nach dem Abscheiden des groBen Alfred Krupp ein neuer, wissenschaftlich
durchgebildeter Betrieb wiinschenswert erschien. G. brachte fur eine Erneue-
rungsarbeit dieser Art alle Eigenschaften in reichem MaBe mit, ein griindliches
akademisches Wissen, reiche Erfahrung trotz seiner Jugend und eine unver-
siegbare, vor keiner Schwierigkeit zuriickschreckende Energie des Wollens und
der Tat. Sein Tatendrang, mit einer klaren Erkenntnis des Notwendigen und
einem eisernen FleiB vereinigt, war nach dem Zeugnis seiner damaligen Mit-
arbeiter und spateren Nachfolger derart ungestiim und unaufhaltsam, daB der
Fernerstehende ihm schwer zu folgen vennochte. Sein gliickliches Geschick
wollte es, daB er in dem Sonne und Nachfolger Alfred Krupps einen Chef und
Auftraggeber fand, der, bei bemerkenswerter eigener Einsicht in die technischen
Zusammenhange, frei von Kleinlichkeit und Eifersucht war und groBe Talente
hochherzig zu unterstiitzen verstand. Friedrich Alfred Krupp brachte den weit
ausgreifenden Planen G.s voiles Vertrauen entgegen, und aus diesem Zusam-
menwirken entstand zunachst jenes groBdurchdachte Werk neuzeitlicher In-
genieurkunst, die Friedrich- Alfred-Hiitte am Niederrhein, das zur Zeit seiner
Entstehung bis weit tiber die Grenzen Deutschlands als eins der leistungs-
fahigsten und besteingerichteten Hiittenwerke Europas anerkannt wurde. Die
groBen Fragen des Transportes, der Warmeausnutzung, des Ineinandergreifens
aller Arbeiten vom Schmelzen der Erze bis zum Fertigwalzen der Schiene sind
in Rheinhausen fruhzeitig mit einer amerikanischen Verhaltnissen zu ver-
gleichenden GroBziigigkeit gelost worden. Nach dem Zusammenbruche der
alten Grundlagen der Kruppschen GuBstahlfabrik infolge des verlorenen
Krieges und des Machtf riedens der Feinde ist dieses groBe Hiittenwerk der feste
Grundpfeiler bei der Wiedererneuerung des Gesamtunternehmens ge worden.
Mit der Kiihnheit, die ihn bei dem Entwurf groBer Plane auszeichnete, hat G.
in Rheinhausen auch die damals neue Frage der Gasverwertung in GroB-
maschinen, die zu den Grundztigen der modernen Hiittentechnik gehort, mit
einem Schlage gelost zu einer Zeit, als die GroBgasmaschine noch eine viel-
umstrittene, keineswegs geloste Aufgabe war. Er besaB das groBe MaB von
Verantwortungsgefiihl, das die Folgen eines neuen, ktihnen Schrittes wohl zu
berechnen, aber auch auf sich zu nehmen versteht.
G.s ganze Vielseitigkeit zeigte sich in den nachsten Jahren beim Neubau der
Germaniawerft in Kiel, die Krupp um die Jahrhundertwende seinen alteren
Betrieben angliederte. Die Germaniawerft ist ja, abgesehen von ihren sonstigen
Kriegsschiffbauten, die Wiege des deutschen Unterseebootes geworden, und
auch auf diesem Felde war es G. beschieden, tatkraftig einzugreifen, indem er
fruhzeitig die Bedeutung des Dieselmotors erkannte und die Unterstiitzung
dieser groBen Erfindung durch die Firma Krupp nachdrucklich beeinfluBte.
Was in der Maschinenfabrik Augsburg - Niirnberg Buz (s. unten S. 225 ff.)
leistete, das war in Essen G., und die U-Boots-Dieselmaschine, die das deutsche
Unterseeboot in erster Linie zu glanzenden Leistungen wahrend des Krieges
befahigt hat, hatte ohne die Tatkraft dieser beiden Manner schwerlich ihre
Tasche Vollendung erfahren. Es ist wenig bekannt, daB die erste Anregung zur
Verwendung des Dieselmotors als Schiffsmaschine schon im Jahre 1897 von G.
ausging.
Nach dem beendigten Ausbau der Germaniawerft kehrte G., seit 1899 ins
Direktorium der Firma Krupp berufen, etwa mit dem Jahre 1900 mitdoppeltem
Gillhausen 85
Eifer zu der Vollendung seiner liebsten Schopfung, des Hiittenwerks in Rhein-
hausen, zuriick. Aber auch als diese Aufgabe voll gelost war und Krupp damit
zeitweilig iiber das groBte und modernste Stahlwerk Europas gebot, kannte G.
kein Ausruhen. Schon seit Jahren drangte die Modernisierung und Zusammen-
fassung der in 50 Jahren langsam entwickelten Kruppschen Kanonenwerk-
statten als wichtigste, aber auch schwerste Aufgabe der Essener Betriebe. Auch
diese Arbeit, die sich im wesentlichen als die Uberfuhrung der Kruppschen
Werke in den neuzeitlichen GroBbetrieb bezeichnen laBt, fiel schlieBlich G. zu.
Sie nahm eine Reihe von Jahren in Anspruch und bezeichnet im groBen und
ganzen den AbschluB seiner umfassenden Tatigkeit fiir Krupp, ein Jahr vor
dem Ausbruche des Weltkrieges schied er aus der Firma aus. Er stellte sein
Wissen und seine Erfahrungen fortan durch gelegentliche Arbeiten fiir eine
Reihe der groBten Werke nicht nur in den Dienst der gesamten deutschen
Industrie, sondern ubte auch tiefgehenden EinfluB aus in den groBen wirtschaft-
lichen Verbanden des Rheinlandes und in der Verwaltung der machtig auf-
strebenden GroBstadt Essen. Hier behielt er auch nach dem Ausscheiden aus
der Firma Krupp seinen Wohnsitz und brachte damit seine Zugehorigkeit zum
Mittelpunkte der technisch gesteigerten deutschen Wirtschaft bewuBt zum
Ausdruck.
Zu Beginn des Jahres 1917 wurde G. von dem Leiter, Generalleutnant
Groener, zur Mitarbeit im deutschen Kriegsamt berufen, aber ein tragisches
Geschick riB ihm diese ersehnte Gelegenheit, dem Vaterlande mit seinen reichen
Gaben dienen zu konnen, aus der Hand. Eine kurze tiickische Krankheit, die
er sich auf einer mit seiner neuen Berufung im Zusammenhang stehenden
Reise zuzog, raffte den anscheinend kraftigen Mann in wenigen Tagen hin. Er
starb am 16. Marz 1917 im Alter von noch nicht 61 Jahren. An seiner Bahre
wurde das nachfolgende, seine Bedeutung kennzeichnende Wort gesprochen:
»Jedes U-Boot, das die Germaniawerft verlaBt, jedes Geschiitz, das von den
Essener Werken zur Front rollt, geben Zeugnis von seinem Wirken. a Die Firma
Krupp ehrte das Andenken eines ihrer groBten Ingenieure durch den im Jahre
192 1 vollendeten groBen Erzdampfer , Gillhausen*.
Die besten Eigenschaften Gisbert G.s hat einer seiner Freunde, der ver-
storbene Dr.-Ing. Hartwig, der seinerzeit Assistent G.s gewesen war, mit kurzen
Worten zusammengef aBt : »Er besaB in seltenem MaBe jene Gaben, die den
rechten Ingenieur ausmachen : technisches Wissen in engster Fuhlung mit den
Forderungen der Praxis, eisernen Willen, der sich riicksichtlsos durchzusetzen
wuBte, wenn es Wichtiges zu er reichen gait, zahe Ausdauer, unermiidlichen
FleiB, gewissenhafte Pflichttreue, treffsicheres Urteil, stark entwickelten Ord-
nungssinn, kaufmannisches Empfinden und rasches Erfassen des springenden
Punktes; in alien Fragen das Herz auf dem rechten Fleck, war er zuverlassig
in Gesinnung und gerecht im Tun, streng gegen sich selbst und gegen seine
Untergebenen, aber zugleich ein wohlwollender Berater und ein gerechter Vor-
gesetzter. Den Ingenieurstand suchte G. mit alien ihm zur Verfiigung stehenden
Mitteln hochzuhalten ; jungeren strebsamen Ingenieuren half er nicht nur gern
vorwarts, sondern hatte auch, wo es notig war, eine mildtatige Hand fiir sie,
wie er iiberhaupt seinen Opfersinn in zahlreichen Fallen, insbesondere wahrend
des Krieges, gern bekundete.«
Kosel (Kreis Eckernforde). Wilhelm Berdrow.
86 19*7
Hocheder, Karl, Architekt und o. Professor der Baukunst, * 7. Marz 1854 zu
Weiherhammer (Oberpfalz), f 21. Januar 1917 in Miinchen. — H. entstammt
einer bayerischen Beamtenf amilie ; der Vater, Adolf H. , war zur Zeit der Geburt
seines Sohnes Karl Bergmeister in Weiherhammer, spater Generaldirektor der
bayerischen Verkehrsanstalten. H. selbst war sich des ganz innigen Verwachsen-
seins mit dem altbayerischen Boden immer bewuflt ; nicht ohne Stolz erzahlte
er, daB »die Wiege seiner Ahnen kaum vier Stunden weit von Salzburg weg in
jenem bekannten Pfarrdorf Anger stand, das Kdnig Ludwig I. als das schonste
Dorf seines Landes gepriesen hat«. Das ist in der Tat eine gesegnete Gegend,
aus der ein rechtes Geschlecht heranwachsen konnte, nahe der klassischen
Landschaft Salzburgs und gegenuber dem romantischen Untersberg.
Die Schulen wurden in Miinchen besucht; erst das humanistische Gymna-
sium, dann das Realgymnasium. Auf der Technischen Hochschule traf H. zu-
nachst als Lehrer Gottgetreu und Geul, zu denen er kein naheres Verhaltnis
f inden konnte ; einfluBreicher war der Unterricht Neureuthers gegen Ende des
vierjahrigen Studiums, das 1878 durch die Prufung abgeschlossen worden ist.
Nachdem die praktische Ausbildung bei der Eisenbahnsektion L,andshut, bei
der Generaldirektion der Verkehrsanstalten in Miinchen und beim Landbau-
amt daselbst erledigt war, unterzog sich H. der praktischen Staatspriifung im
Jahr 1881, fand darauf Verwendung, aber kein Geniigen beim Iyandbauamt in
Amberg und stellte sich dem nur wenige Jahre alteren, als Nachfolger Neu-
reuthers berufenen neuen Professor der Baukunst Friedrich Thiersch (s. DBJ.
1921, S. 252 — 257) als Assistent zur Verfugung. Das war nun allerdings ein
frohliches Schaffen, anders als in den verstaubten Stuben der Bauamter. Neben,
nicht unter der glanzenden Person Fr. Thierschs zu arbeiten, war fur den
auflerlich weit weniger glanzenden H. sicher eine Freude, vielleicht auch manch-
mal ein Anlafi zur Ubung des ihm durchaus gelauf igen Ein- und Unterordnens ;
kunstlerisch genommen konnte es aber kaum groBere Gegensatze geben:
Thierschs Klassizitat und H.s warmbliitige, suchende Romantik. Ich erinnere
mich heute noch mit Vergniigen, welches kopfschiittelnde Staunen bei uns
Studierenden und beim Chef ein unter H.s besonderer Aufsicht entstehender,
ganz und gar verschnorkelter Deutsch-Renaissance-Entwurf hervorgerufen hat.
So blieb H. auf seiner Bahn, trotzdem er vier Jahre bei Thiersch assistierte;
menschlich aber traten sich die beiden nahe und wurden spater als Kollegen
gute Freunde.
Sollte der AnschluB im Staatsdienst nicht verpaBt werden, so muBte H.
dahin zuriickkehren. Als Bauamtassessor zog er 1885 noch einmal nach dem
schonen Stadtchen Amberg, ein Jahr spater wurde er an das Landbauamt
Miinchen versetzt. Allein die Aufgaben, die H. fur sich wiinschte, waren hier
kaum zu f inden ; viel eher mochte dies bei der Stadt sein ; er siedelte als Bau-
amtmann an das Stadtbauamt Miinchen iiber. Und nun begann eine Tatigkeit,
die ebenso fruchtbar wie segensreich fur Miinchen geworden ist, eine Tatigkeit,
die eine Zeitlang das Munchener Stadtbauamt zum Gegenstand der Bewunde-
rung und Nachahmung f iir ganz Deutschland machte — dies letzte sehr zum
MiBbehagen H.s. Denn seine Arbeit ruhte breit und fest im heimatlichen Boden ;
ihm muBte der nachgemachte »Miinchner Barock« in Mittel- oder Norddeutsch-
land ein Greuel sein.
Die Zustande am Stadtbauamt waren nach einer langen Epoche stark per-
ttocheder 87
sonlicher Leitung unter Zenetti reif zur Erneuerung. Zenettis Nachfolger,
W. Rettig, bedeutete eine kometenhaft schnell voriiberziehende Epoche ; erst
die tJbernahme der Oberleitung durch Adolf Schwiening brachte Ruhe und
GleichmaB in das Amt. Es ist Schwienings groBes Verdienst, daB er, eigener
Bautatigkeit ganz entsagend, H. voile freie Bahn gewahrte, ihm und seinem
ebenbiirtigen, bald nachher eintretenden Kollegen Hans Grassel.
Die Bauaufgaben, die nun in rascher Folge von H. zu bewaltigen waren,
betrafen zunachst Schulen, von denen die ersten noch gebunden und unfrei
Zeugnis davon ablegten, daB Uberkommenes zu verarbeiten war. Bald aber
brach die frohliche bayerische Art durch; heller Putz, rote schone silhouet-
tierende Dacher, freie schwingende Ornamentik und lichte Raume zeichnen
u. a. die Schulen an der ColumbusstraBe und die an der StielerstraBe aus. 189 1
ubernahm H. auBerdienstlich den Neubau der Kranken- und Pflegeanstalt des
bayerischen Frauenvereins vom Roten Kreuz in der Vorstadt Neuhausen. Das
war wieder gluckliche Uberwindung der Schwere und Tnibseligkeit — fast
heiter, soweit ein Krankenhaus heiter sein darf . Ahnlicher Aufgabe gait drei
Jahre spater H.s Arbeit an dem stadt. Armenversorgungsheim an der Martin-
straBe. Auch da kein finsterer Versorgungsbau, sondern ein biirgerlich statt-
liches, breit und behaglich daliegendes Haus. Industriebauten faBte nun aller-
dings H. nicht in moderner »Neuer Sachlichkeit« auf, sondern er suchte iiber
das Harte, damals wenigstens als hart Empfundene mit einer Anleihe bei der
burgerlich-klosterlichen Architektur hinwegzukommen ; sogar der hohe Kamin
des Elektrizitatswerkes an der StaubstraBe muBte eine dekorative Verkleidung
erfahren. Aber wer wiinschte statt des kostlichen kleinen Turbinenhauses in
den Maximiliansanlagen, das mit seiner griinen Haube an einen SchloBpavillon
recht lebhaft erinnert, ein Bauwerk in neuer Sachlichkeit zu sehen ? Diese Art
hat dann H. zu einer Hochstleistung gesteigert in seinem Volksbad, das nach
dem Stifter das Mullersche heiBt. Dieser verlangte um jeden Preis italienische
Renaissance; H. aber wollte nicht und setzte sich mit manchen Unan-
nehmlichkeiten durch. Er wollte auch nicht an eine akademisch zusamraen-
fassende Kastenarchitektur ; er verlangte die Vielheit der Bauteile, die zwei
Schwimmhallen, die Wannenbader und alles andere klar und deutlich auszu-
driicken, und das Hochreservoir war ihm gerade recht, einen Turm daraus zu
machen. Durch dieses Volksbad ist H. volkstumlich geworden, fast so sehr wie
Gabriel Seidl, dem er freundschaftlich bewundernd zugetan war.
Neben diesen groBen Arbeiten lief en, wie das in einem viel beschaftigten
Bauamt zu erwarten ist, eine Reihe minder wichtiger her: der Pfarrhof der
Giesinger Kirche — fast iibermaBig bewegt, das Feuerhaus an der Kirchen-
straBe u. a. m. Die Bauausfiihrung des Volksbades iiberdauerte die amtliche
Tatigkeit bei der Stadt ; einige wichtige Entwiirfe muBte er seinem Nachf olger
Rehlen iibergeben.
Denn nun trat eine neue entscheidende Wendung im Leben H.s ein, er wurde
1898 auf den Lehrstuhl Professor Geuls gerufen mit dem L,ehrauf trag : Ge-
baudekunde. Zunachst war das nach den fruchtbaren 9 Jahren des stadtischen
Dienstes ein Entsagen, denn die Aufgaben pflegen den Hochschulprofessoren
nicht in Menge in den SchoB zu fallen ; aber H. f and viel Gentigen in der Lehr-
tatigkeit, da ihm neben dem unermiidlichen kunstlerischen Tatendrang eine
starke Neigung zur Theorie innewohnte. Er war nun aufgenommen in einen
88 1917
Kreis von Mannern, mit denen ihn bald gleiches Streben nnd Freundschaft
verband. Die Beziehungen zu Friedrich Thiersch sind schon erwahnt. Dessen
Bruder August, Jakob Biihlmann und Heinrich v. Schmidt, bald darauf auch
Paul Pfann waren die bedeutenden Glieder dieses harmonischen Kreises. Die
Vorlesungen iiber Gebaudekunde, ein schwieriges und recht undankbares
Thema, arbeitete H. mit der groBten Gewissenhaftigkeit fast wortlich aus, in
jedem Jahr abandernd, Veraltetes streichend und Neues hinzuf ugend. Aber die
»t)bungen« waren ihm weitaus wichtiger. Er verlegte sich mit Feuereifer auf
die Korrektur, so griindlich, daB bald lauter Hocheder auf den ReiBbrettern
zu finden waren. Diese stark subjektive Art seiner Lehre hatte naturlich ihre
Vorteile und ihre Nachteile. Die Vorteile waren sehr augenfallig und nach-
haltig, denn neben dem vorbildlichen EinfluB seiner Bauten war es dieser kon-
sequent gleichgerichtete Unterricht, dessen Wirkung auf die jiingere Genera-
tion, und nicht nur die geringer begabte, die Architektur in Bayern fiir zwei
Jahrzehnte und mehr festlegte. Mehr noch fast als die Kunst Seidls hat H.s Art
auf die allgemeine Bautatigkeit Miinchens und von hier aus weithinaus einge-
wirkt, bis sie das Schicksal traf, das die Nachahmung notwendig macht: diese
wurde leer und verwassert und hat als solche der Meinung uber die eigene Ar-
beit H.s selbst fiir einige Zeit geschadet.
1900 war das Miillersche Volksbad fertig geworden. Nach der durch den
Ubertritt in das akademische Leben veranlaBten Pause entstand 1904 die schone
kleine Kirche der Protestanten in Pasing, dann kamen Wohnhauser fiir Kol-
legen und fiir sich selbst, das SchloB Hirschberg am Haarsee, eine Villa in
Levico, das Rathaus in Bozen, das eine eigenartige Mischung aus siidtiroler
Stimmung und der reichstromenden Phantasie H.s zeigt. Beziehungen, die H.
als der erfahrene Baderbaumeister zunachst als Gutachter angekniipft hatte,
brachten ihm einige Auftrage in der Feme: 1904 — 1906 baute er eine Bad- und
Kuranstalt in Hermannstadt in Siebenbiirgen ; spater hat er ein Thermalbad
fiir Banki bei Sofia entworfen. Dazwischen, im Jahr 1903, war eine starke Ver-
suchung, von Miinchen fortzugehen, an ihn herangetreten. Die reiche Stadt
Frankfurt a. Main bot ihm die Stelle des Stadtbaurates an. Eine ungleich be-
deutendere Tatigkeit hatte ihn verlocken konnen, aber die Heimat hielt ihn
fest, und nun besann sich der Staat darauf, daB der Hochschullehrer H. ein
um so besserer Lehrer sein konnte, wenn der Architekt H. eine groBe Aufgabe
zu bewaltigen hatte. Nach einer nicht ganz ernst zu nehmenden Konkurrenz
erhielt H. den Auftrag, ein Geschaftshaus fiir das bayerische Verkehrsministe-
rium zu bauen. Das Geschaftshaus sollte aber, so war es die Absicht der gesetz-
gebenden Korperschaften, »einen iiber die Befriedigung des nackten Raum-
bediirfnisses hinausgehenden reprasentativen Ausdruck haben, als Sitz der
obersten Verwaltungsstelle des gesamten bayerischen Verkehrswesens«. Dies
war nun freilich nach dem Herzen H.s, anders hatte es den Mann mit der un-
erschopflichen Phantasie, den Vorkampfer groBer stadtebaulicher Auffassungen
kaum gereizt. Der Platz liegt nordlich an den Hauptbahnhof angelehnt nicht
weit vom Empfangsgebaude. Der groBere Teil wird durch die ArnulfstraBe
abgetrennt, nur ein schmaler Streifen bleibt langs des Bahnhofes liegen. Diese
ArnulfstraBe einfach an einem Baukorper voriiberzufuhren, lag nicht im Sinn
Hs. ; er hatte zu viel iiber Platzwirkungen, iiber dasWesen des architektonischen
Raumes nachgedacht; er brauchte einen umschlossenen Raum, und die Arnulf-
Hocheder 89
straBe wurde gleichsam angehalten in ihrem Lauf, sie wird uberbaut mit aus-
reichend groBen Torbogen und so das » Forum « des Verkehrspalastes gebildet,
das erst im Jahr 1926 durch H.s Sohn, den Regierungsbaurat Karl H. gegen
die Bahnhofseite nach dem Plan des Vaters geschlossen worden ist. Sieben
Jahre hat H. dieser gewaltigen Arbeit gewidmet. Die stadtebauliche Seite der
Aufgabe beschaftigte ihn wohl am meisten ; aber die Sorge um das Innere war
nicht gering. Die vielen, teils in gleichmaBigen GroBen wiederkehrenden, teils
sich schwer verbindenden ungleichen Raumerfordernisse mit der gewiinschten
Monumentalitat zu umkleiden, war eine harte Aufgabe fur den GrundriB-
entwerfer. Nicht iiberall ist die Verarbeitung bis zur vollen Klarheit und t)ber-
sichtlichkeit gelungen. Der Bauteil, der der reinen Reprasentation dient, der
Kuppelraum, ist nicht mit der iiberzeugenden Sicherheit eingefugt, daB man
die Notwendigkeit ohne weiteres anerkennen miiBte. Das sind aber Bedenken,
die im Vergleich zum Ganzen nicht stark in die Wagschale fallen. Niemand, der
im Munchener Bahnhof einfahrt, wird sich dem zwingenden Eindruck dieser
phantastischen Baugruppe entziehen konnen, und niemand, der den jetzt gliick-
lich geschlossenen Platz betritt, wird sich durch Einzelbedenken von der Freude
liber diese groBe in ihrer Zeit einzig dastehende Raumgestaltung ablenken
lassen.
Die Schilderung der Werke H.s sei mit diesem, seinem groflten und wich-
tigsten abgeschlossen. Aber eben dieses Verkehrsministerium bietet die er-
wiinschte Gelegenheit, H.s Art noch klarer zu stellen. Vielfach wurde diese
Arbeit angegriffen; die Verteidigung hat H. selbst zum Teil ubernommen, und
seinen Gedanken zu folgen, ist wohl das beste Mittel, ihm als Kiinstler naher
zu kommen. Unfreundliche Beurteiler fanden die Anwendung des Barocks an
einem modernen Bau falsch und tadelten den Mangel an Charakteristik.
Freundliche Beurteiler priesen H. als den »letzten Barockmeister«. Er selbst
war mit beidem nicht einverstanden ; er f uhlte sich als ein Moderner ; er nahm
fiir sich in Anspruch, daB diese Form eine ihm iiberlieferte Sprache sei, in der
er doch ziemlich viel auszudriicken habe. Die Gleichsetzung der Stilform mit
der Sprache hatte er, wie viele anderen Gedankenwege, von Adolf Hildebrand
(s. DBJ. 1921, S. I42ff.) ubernommen. Weit von sich weist er eine Gleich-
stellung mit den Stilarchitekten der letztvergangenen Epoche, denen die Stil-
form nicht Mittel des Ausdrucks, sondern Endziel iiberhaupt war. Der Aner-
kennung, die im »letzten Barockmeister« liegen sollte, miBtraute er mit Recht,
denn sie schmeckte stark nach einer Entschuldigung. Entschuldigung aber
konnte er gut entbehren, ein Mann, der so sehr im Zug seiner Zeit schritt, selbst
die Entwicklung vorwarts trieb und auf solche Erfolge weisen konnte.
Wie klar er seine Stellung zur Zeit und zu seiner Umgebung sah, sollen einige
Satze aus einer Rede bezeugen, die er 191 1 hielt: »Ich habe das Gliick, oder
wenn Sie wollen, das Ungliick, daB man von meinen Bauten aussagt, sie hatten
alle etwas Katholisches an sich. Ich weiB nicht, was daran schuld ist, etwa daB
uns Bayern katholisches Wesen und Barock unzertrennlich verbundene Be-
griffe sind. Unsere Kloster und Fiirstensitze gehoren fast ausschlieBlich dem
Barockstil an. Oder sind Eindriicke meiner fnihesten Jugend, die ich in dem
schonen Salzburg zu verbringen das Gliick hatte, so machtig gewesen, daB sie
fiir das spatere Berufsleben noch nachhielten ? Oder liegt mir das katholische
Barock im Blute ? Kurz so manchen projektierten und verwirklichten Bauten
go 1917
meiner Hand hangt der Titel eines Klosters an. Wenn ich dem auch nicht eine
l^esondere Bedeutung beimesse, so habe ich dabei doch wenigstens die Beruhi-
gung, daB ich in meiner gewohnten Ausdrucksweise durch all die Jahre hin-
durch recht konsequent geblieben bin.*
Derart betrachtete er mit kritischem Blick sich, seine Kunst und die Kunst
tiberhaupt. Von Zeit zu Zeit fielen Friichte ab vom Baume seiner Erkenntnis.
Vortrage oder Schrif ten etwa mit dem Titel : » Konvexe und konkave Formen
in der Baukunst«; »Baukunst und Bildwirkung*; der Vortrag iiber das Ver-
kehrsministerium, dem die obigen Satze entnommen sind (191 1); »Die Fort-
schritte der Technik« (1916). Stark beeinfluBt von dem Hildebrandschen
♦ Problem der Form* behandelt H. mit Vorliebe das Raumliche im Gegensatz
zum Korperlichen. Wie Hildebrand geht er von physiologischen Dingen aus,
um seine Vorliebe fur das Konkave zu begriinden. Unter »amphitheatralischem
Aufbau« versteht er die der Hohlkugelform sich annaherade Anordnung der
Baumassen, von der er im Gegensatz zu der harten Wirkung des Konvexen die
besten Wirkungen erwartet. Seine Theorie ist der Praxis entwachsen und hat
als solche zum mindesten den Wert der begriindeten Empiric Freilich sind
diese Dinge auch nicht befreit vom Wechsel, zum mindesten nicht vom Wechsel
der ihnen zufallenden Aufmerksamkeit.
Mitten aus einer noch regen praktischen und geistigen Tatigkeit, umdiistert
allerdings von Sorgen um das Schicksal der Sonne im Krieg, starb H. am 21. Ja-
nuar 1917 plotzlich am Herzschlag. Er hinterlieB seine Freunde in tiefer Trauer.
Sie schatzten nicht nur den ausgezeichneten Kunstler in ihm, ebensosehr den
vortrefflichen Menschen. Bescheiden und fast angstlich sich zuriickhaltend,
lebte er in erster Linie seiner Kunst in nie ermudender Arbeit. Fast weichen
Gemtits und doch hartnackig, wenn es gait, wie etwa bei der Stilf rage des Volks-
bades, seiner Uberzeugung zum Recht zu helfen, war H. kein Mann der per-
sonlichen Wirkung im offentlichen Leben. Die Wirkung, die er ausiibte, ge-
schah durch seine Stetigkeit und durch seine Kunst.
Miinchen. Theodor Fischer.
Jacob!, Hugo, Kommerzienrat, Dr.-Ing., e. h., * am 28. Oktober 1834 auf
St. Antonyhiitte bei Sterkrade, f am 17. Oktober 1917 in Diisseldorf. — In
Hugo J. finden wir die Anlagen und Gaben einer Reihe von Ahnen wieder,
sein geistiges und moralisches Gut, seine ganze Wesensart darf man wohl
als eine Mitgift seiner Vorfahren ansehen. Er war der Sprofi einer Familie,
die seit Generationen im Hiittenfach gearbeitet und darin AuBergewohnliches
geleistet hatte und die auch ethisch hochstehend war. Hugos UrgroCvater
Johann Heinrich J., aus Eisleben stammend, der Erbauer der Sayner Hiitte
bei Koblenz, der auch die Saarbriicker Steinkohlenbergwerke einrichtete bzw.
»sie in bessere Verfassung brachte«, genoB als Hiittenmann und Bergwerks-
sachverstandiger einen groBen, weit iiber seinen eigentlichen Wirkungskreis
hinausgehendes Ansehen und wurde vielerorts als Gutachter herangezogen.
So auch Ende des 18. Jahrhunderts von der furstlichen Hofkammer des Hoch-
stiftes Essen fur den im dortigen Gebiet vorkommenden Eisenstein. Man
plante fur seine Verarbeitung die Errichtung einer Hiitte. J.s giinstig lautendes
Gutachten lieB den Plan zur Ausfiihrung kommen und fuhrte zur Griindung
Hocheder. Jacobi 01
der Eisenhiitte Neuessen, eines Werkes, das einen Teil der heutigen Gute-
hoffnungshiitte bildet und in dem seine Kinder und Kindeskinder ihre Lebens-
arbeit finden sollten. Sein Sohn, Gottlob Julius J. wurde der Erbauer und Leiter
dieser Hiitte ; er kann als der Mitbegriinder und Durchkampfer unserer Eisen-
industrie betrachtet werden (W. Grevel, Die Anfange der GuBstahlfabrikation
im Stifte Essen). Wahrscheinlich hat er auch mit Friedrich Krupp, der einige
Zeit auf der Sterkrader Hiitte tatig war, an der Losung des GuBstahlproblems
gearbeitet.
Die heutige Gutehoffnungshutte ist aus der Vereinigung dreier Werke ent-
standen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegriindet wurden: 1753 die
St. Antony hiitte bei Recklinghausen, im kurkolnischen Gebiet, 1781 die Gute-
hoffnungshutte bei Sterkrade, die spater den vereinigten Werken den Namen
gab, im clevisch-preuBischen Gebiet, und 1791 die Eisenhiitte Neuessen (Ober-
hausen) , der Fiirstabtissin des Stif tes Essen gehorig. Bald nach der Griindung
Neuessen hielt man die Verschmelzung aller Hiitten fur notig, denn das Vor-
handensein dreier Hiitten auf so engem Raum war unwirtschaftlich, weil die
dort vorhandenen Rohstoffe, Eisenerz und Holzkohle, nur fiir eine Hiitte
geniigten. Aber die Vereinigung kam nicht zustande, nur die der Hiitten
Neuessen und Antony gelang; erstere wurde kurz darauf stillgelegt, weil die
Antonyhiitte vorteilhafter betrieben werden konnte. Weltgeschichtliche Er-
eignisse waren es, die aber doch endlich zur Verschmelzung der drei Hiitten
fuhrten. Durch den Frieden zu LuneVille 1801 gelangte das Fiirstentum Essen
in PreuBens Besitz. Die Fiirstabtissin wunschte den eigenen Weiterbetrieb
aufzugeben und bot die beiden Hiitten der preuBischen Regierung zum Kauf
an, hatte damit aber keinen Erfolg. Die Begriindung fiir die Ablehnung ist
eine Anerkennung der Geschaftstiichtigkeit G. J. J.s, des GroBvaters von
Hugo J. Es heiBt darin, »der groBe Absatz der Antonyhiitte riihre daher, daB
der beteiligte J. sehr erfinderisch sei, modische Formen zu Of en und anderen
GuBwaren sich zu verschaffen und zu verkaufen. Der Absatz wiirde aufhoren,
wenn andere benachbarte Hiitten einen ebenso gewandten und geistreichen
Herren an ihrer Spitze hatten oder die Antonyhiitte den J. verlore.* Im
Jahre 1805 fanden sich Kaufer fiir die beiden Hiitten in den Briidern Franz
und Gerhard Haniel, mit denen sich J., ihr Schwager, verband. Durch Ver-
mittlung Heinrich Huyssens, des Schwagers der Haniels, gelang es 1808, die
im Besitz der Witwe Krupp befindliche Gutehoffnungshutte anzukaufen und
Heinrich Huyssen als Gesellschafter zu gewinnen. Seitdem wurden die drei
Hiitten auf gemeinsame Rechnung betrieben, und nachdem der Gesellschafts-
vertrag 1810 schriftlich und notariell beurkundet war, erhielt die Firma den
Namen »Hiittengewerkschaft & Handlung Jacobi, Haniel & Huyssen «. J. hatte
die alleinige Direktion, weil er allein die zum Betriebe notigen Kenntnisse
besaB. Nach dem Vertrage durfte er unter keinen Umstanden austreten, muBte
sonst auf seinen Anteil verzichten. Unter seiner Leitung nahmen die vereinigten
Werke einen ungeheuren Aufschwung. Er starb 1823, an seine Stelle trat bis
1864 Wilhelm Lueg, der ehemalige Erzieher und Hauslehrer in der Familie J.,
der das Werk J.s mit Geschick und Energie weiter ausbaute. Gottlob J.s
Sohn August war Hiitteninspektor in St. Antony, er starb als sein Sohn
Hugo erst acht Jahre zahlte.
Die im Jahre 1808 vereinigten drei Werke wiesen grundsatzlich gleiche oder
92 1917
doch ahnliche Verhaltnisse auf, man legte den Hauptwert weniger auf die
Roheisenerzeugung als auf die Weiterverarbeitung. So blieb es bis Mitte des
Jahrhunderts, dann wurde die Herstellung des Roheisens in den Vordergrund
geschoben, um sie in Einklang mit der Weiterverarbeitung zu bringen. Dies
bedeutete einen entscheidenden Wendepunkt, weil sich daran eine entspre-
chende VergroBerung des Erzfelderbesitzes, unter anderem auch in Lothringen,
und der t)bergang zum Kohlenbergbau schloB. Die Entwicklung der Gute-
hoffnungshiitte spiegelt den wirtschaftlichen und kulturellen Werdegang
Deutschlands im 19. Jahrhundert zum Teil wider. Diesem folgend schritt
das Werk zur Einrichtung neuer Betriebe und Aufnahme neuer Produktions-
zweige. Vor und in den zwanziger Jahren wurde der Grund zur Maschinenbau-
anstalt gelegt, in der Hugo J. spater einer der Leiter war. Durch Franz Dinnen-
dahl, den Vater der Dampfmaschine fur den Ruhrkohlenbergbau, wurde die
Gutehoffnungshiitte mit den Anfangen des Maschinenbaus in Rheinland und
Westfalen verkniipft. Zunachst stellte man nur Maschinenteile her, bis man
im Jahre 181 9 zum Bau der ersten Dampfmaschine iiberging. Mit Griindung
der Rheindampfschiffahrtsgesellschaften und der Rheinschleppdampfer hangt
die Errichtung der Schiffsbauwerft in Ruhrort (stillgelegt 1899) in den zwan-
ziger und dreiBiger Jahren zusammen. Die Anfange des Eisenbahnbaus in den
dreiBiger und vierziger Jahren lieBen fiir dessen Belieferung Puddel, SchweiB-
und Walzwerke erstehen. Es folgte die Briickenbauanstalt, die Herstellung
von Siemens-Martin-Stahl und die Einfuhrung des Thomasverfahrens in den
siebziger bis neunziger Jahren. 1905 legte das Werk einen eigenen Hafen am
Rhein oberhalb des Dorfes Walsum an als Umschlagshafen fur Kohle, Erz-
und Huttenerzeugnisse, der mit samtlichen Betriebsabteilungen in Verbindung
steht.
Inmitten dieses komplizierten Riesengebildes flieBt das auBerlich so ein-
fache Leben Hugo J.s dahin. Die St. Antonyhiitte, die Statte, wo die Werke
der Gutehoffnungshiitte ihren Anfang nahmen, war seine Geburtsstatte. »Vor
seinem Geburtshause stand noch der Holzkohlenofen, unter dem Fenster seines
Geburtszimmers ging noch das Hiittenrad und hinter seinem elterlichen Hause
lag der Huttenteich. « (Stahl und Eisen 1918 Nr. 11.) Er bewahrte dieser Statte
wahrend seines ganzen Lebens seine Liebe und Treue und kam mit seiner
Familie von Sterkrade allsonntaglich hierher, um Erholung zu suchen. Als
sein Vater starb, waren er und seine sechs Geschwister noch unmiindig. Hugo
besuchte zuerst die Schule in Sterkrade und darauf die in Schermbeck an der
Lippe. An den Schulbesuch schloB sich praktische Arbeit in der Sterkrader
Hutte. Von 1850 bis 1852 besuchte er die Provinzialgewerbeschule in Hagen
unter Zehme. Nachdem er dann zwei Jahre als Zeichner auf der Gutehoffnungs-
hiitte tatig gewesen war, ging er zum Studium des Maschinenbauf aches nach
Karlsruhe 1854 bis 1856, wo Redtenbacher sein I^ehrer war. Nach Beendigung
seines Studiums begann er seine Laufbahn in der Sterkrader Hutte als Inge-
nieur und wurde spater Oberingenieur. 1872/73 fand die Umwandlung der
Firma Jacobi, Haniel & Huyssen in den Aktienverein fiir Bergbau und Hiitten-
betrieb statt, dessen Vorstandsmitglied Hugo J. wurde und gleichzeitig Leiter
der Sterkrader und Ruhrorter Betriebe. Nach 48jahriger Tatigkeit in der
Gutehoffnungshiitte setzte er sich 1905 zur Ruhe und zog sich nach Diissel-
dorf zuriick, blieb aber Aufsichtsratmitglied und stand bis zu seinem Tode
J acobi 03
dem Werke mit seinem Rate zur Verfugung. Im Jahre 1912 tat er den ersten
f eierlichen Spatenstich zu einer neuen Doppelschachtanlage der Gutehof fnungs-
hiitte in Osterfeld, die in Erinnerung an seinen GroBvater » Jacobi-Schachte*
genannt wurde. Bei seinem letzten Besuche auf der Gutehof fnungshutte sah
er noch die Umstellung des Werkes auf die Kriegswirtschaft. An seinem
80. Geburtstag verlieh ihm die Technische Hochschule Aachen die Wurde
eines Doktoringenieurs ehrenhalber.
Hugo J.s Haupttatigkeitsfeld und eigenstes Gebiet war die Sterkrader
Briickenbauanstalt und die Sterkrader Maschinenbauanstalt, in der er schon
als junger Ingenieur gearbeitet hatte und die unter ihm neu eingerichtet wurde,
ebenso das Hammer- und PreBwerk ; er paBte diese Werke immer wieder den
Anforderungen der Neuzeit an und sie verdanken ihm ihre iiberaus giinstige
Entwicklung. Die von ihm Anfang der achtziger Jahre eingefuhrte Ketten-
fabrikation war von besonderer Bedeutung fur die deutsche Volkswirtschaft,
weil bis dahin die Ketten ausschlieBlich aus England bezogen wurden.
Der Gedanke des Industriezusammenschlusses fand in Hugo J. einen eifrigen
Forderer ; er war f uhrend in der Wahrung der wirtschaf tlichen Interessen des
Maschinenbaues und griindete im Jahre 1890 mit Majert und Sehmer den
Westdeutschen Maschinenbau-Verband, den Vorlaufer des Vereins deutscher
Maschinenbau-Anstalten mit Sitz in Diisseldorf . Er fuhrte den Vorsitz in dem
ersteren Verband und war stellvertretender Vorsitzender in dem letzteren
Verein im Jahre 1892. Von diesem Posten trat er 1907 aus Altersriicksichten
zuriick. Er war aucn der Griinder des Ruhrorter Dampfkessel-tlberwachungs-
vereins und dessen Vorsitzender von 1898 bis 1900. Bei der Griindung des
Vereins deutscher Briicken- und Eisenbaufabrikanten, ebenso im Verein deut-
scher Eisenhiittenleute war er tatig.
Hugo J.s rastlosem Tatigkeitsdrang geniigte nicht die Arbeit auf seinem
eigentlichen Arbeitsfelde und der damit zusammenhangenden Verbandstatig-
keit, er widmete weit dariiber hinaus seine Arbeitskraft der Allgemeinheit.
Lange Zeit war er Gemeindevorsteher der Gemeinde Sterkrade, spater Bei-
geordneter, und zeichnete sich auch hier durch seine Tatkraft und seinen Weit-
bHck aus. In der evangelischen Kirchengemeinde erfreute sich seine Mitarbeit
der groBten Wertschatzung.
Allen ihm Unterstellten bewies er groBes Wohlwollen und wirkte durch seine
Punktlichkeit, Bescheidenheit und sein einf aches, anspruchsloses Wesen er-
ziehlich auf die mit und unter ihm Arbeitenden. Sowohl bei den Arbeitern wie
bei den Bewohnem von Sterkrade genoB er Liebe und Verehrung.
Hugo J. war ein Mann von strenger Lebensauffassung, wahrer Herzensgiite,
vornehmer Gesinnung und von nie versiegender Schaffensfreudigkeit. Sein
groBes Verdienst um die deutsche Industrie und Volkswirtschaft besteht darin,
daB er durch Hingabe seiner ganzen Kraft, seines reichen Wissens und Konnens
geholfen hat, einem der groBten und glanzendsten Werke Deutschlands seinen
Weltruf zu erhalten und zu mehren. Er gehorte den Wirtschaf tsfuhrern an,
welche der deutschen Industrie aus den verhaltnismaBig engen Verhaltnissen
der fiinfziger Jahre in den darauffolgenden Jahrzehnten zur Weltgeltung
verhalfen.
Literatur: »Die Gutehoffnungshiitte Oberhausen, Rheinland.« Zur Erinnerung an das
loojahrige Bestehen 1810 — 1910. — Zeitschrift »Stahlund Eisen«, Nr. 1 1, 1918. — Grevel,
94 W7
Wilhelm, Die Gutehoffnungshiitte A. V. fiir Bergbau und Huttenwesen zu Oberhausen
an der Ruhr, Geschichte der Griindung und ersten Entwicklung, Essen 1 88 1 . — »Sterkrader
Volkszeitung*. 1900, 191 7. — Historischer Riickblick iiber die Gutehoffnungshiitte von
Gillhausen.
Hagen i. W. Auguste Elbers.
Lange, Friedrich, Dr. phil., Tagesschriftsteller und Politiker, * am 10. Ja-
nuar 1852 in Goslar, f am 26. Dezember 191 7 bei Detmold, bestattet auf dem
alten Friedhof zu Berlin-Lichterfelde. — L-, der Sohn eines Topfermeisters,
wuchs auf unter den Eindrlicken der alten Kaiserstadt und des Harzes. Sein
Leben lang hat er sich freudig als Niedersachse gefiihlt. 1870 verlieB er das
Gymnasium und erlebte durch den Krieg eine gliickhafte Erweckung seines
deutschnationalen politischen Bewufitseins, wenn auch sein gliihender Wunsch,
am Kampfe teilzunehmen, unerfullt blieb. Als Gottinger Student dann schloB
er sich der Burschenschaft an, und nach langen Jahren hat er ihr wesentlichen
Anteil am Werden seiner volkischen Uberzeugungen zugesprochen. Das philo-
logische Studienwesen erschien ihm lebensfern und schal, auch vermochte ihn
selbst des verehrten Lotze freies und tiefes Denken nicht an die Philosophie
zu binden. Erst nachdem er 1873 bis 1876 Gymnasiallehrer in Wolfenbiittel
und am Johanneum in Hamburg gewesen war, unzufrieden mit seinem Amte
und zugleich doch angeregt zu Erwagungen iiber allgemeine Schulreform,
fand er, entschlossen sich vom Lehrbeamtentum abwendend, seinen selbst-
gewiesenen Beruf. Er trat beim » Braunschweiger Tageblatt« ein und blieb
dort fiinf Jahre, in denen er auch Wilhelm Raabe nahestand. Dann eroffnete
sich ihm ein grofier Wirkungsbereich mit seinem Eintritt in die »Tagliche
Rundschau « 1882. Von nun an fuhrte er in der Reichshauptstadt, in enger
personlicher Fiihlung mit den Menschen und Kraften des politischen und
geistigen Geschehens, seinen Kampf um eine nationale Presse als wirkliche
Fuhrerschaft der deutschen offentlichen Meinung. So gelang es ihm zunachst,
die »Tagliche Rundschau*, die als »Zeitung fiir Nichtpolitiker« sich dem
Parteigetriebe, damit zugleich aber auch dem wirklichen geschichtlichen
Werden des Reiches ferngehalten hatte, zu einer »Unabhangigen Zeitung fiir
nationale Politik« umzugestalten. Er machte sich zum Vorkampfer der Ko-
lonialpolitik und der Schulreform. Aber die journalistische Wirksamkeit ge-
niigte seinen Zielen nicht, die mehr und mehr auf eine Belebung, ja Erneue-
rung des gesamten nationalen Lebens in Deutschland gingen. So griindete er
1895 den Deutschbund, der als eine enge personliche Gemeinschaft durch Bei-
spiel und personlichen Einsatz eine Fuhrerschaft zum »Reinen Deutschtum«
erringen sollte. Denn »Reines Deutschtum« blieb die Iyosungsformel von L.s
Wirken, seit er 1893 (und in vermehrter Auflage 1904) seine grundsatzlichen
Aufsatze unter diesem Titel zusammengefafit hatte. Indessen muBte er noch
im Jahre 1895, nach einem nicht zum Erfolge gefiihrten Versuche, in der
»Volksrundschau« ein nationales Blatt fiir die breiten Schichten zu schaffen,
von der »Taglichen Rundschau «, die den Verleger gewechselt hatte, sich
trennen. Da gelang es ihm, mit unerwarteter Unterstiitzung von Gleichgesinn-
ten, ein eigenes Tageblatt, die » Deutsche Zeitung «, ins Leben zu rufen. Sie
warb, unabhangig von den Parteien, fiir eine volkische Politik nach auCen
wie innen, fiir machtvolle Weltpolitik und innere Uberwindung der Sozial-
Jacobi. Lange 95
demokratie mit einem nationalen Wirtschaftsprogramm. Wieder schloB sich
daran der Versuch politischen Handelns, zuerst 1902 mit dem Reichswahl-
verband, der unabhangig von der Regierung die nationalen Parteien fur den
Wahlkampf einigen sollte, dann mit mancherlei Bestrebungen zur Forderung
einer wirtschaftsfriedlichen volkischen Arbeiterbewegung. Im Jahre 191 2 zog
sich L. auch von der Leitung der »Deutschen Zeitung« zuriick, wahrend er
noch an der Beilage » Deutsche Welt«, die er zu einem Sprechsaal der volkischen
geistigen Bestrebungen ausgestaltet hatte, bis in den Krieg hinein mitgearbeitet
hat. Er lebte nun, zuletzt verdiistert durch ein nervoses Leiden, in Detmold,
unter dem Hennannsdenkmal, das friih zum Sinnbilde seiner Arbeit geworden
war, bis zu seinem Ende ziemlich zuriickgezogen mit seiner Familie.
Er hatte den deutschen Sinn fur reines und inniges hausliches Leben, den
er immer pries. (Zweimal war er vermahlt, 1876 mit Elise, geborene Kohler,
sie starb 1895; dann, 1897, mit Elli, geborene Rettig.) Doch es drangte ihn
stets zu offentlicher Tatigkeit. Die nationalpolitische Leidenschaft erfullte ihn
ganz ; und er war riicksichtslos gegen Menschen und Verhaltnisse in der Ver-
tretung seiner Ziele, ohne Scheu vor Einseitigkeit, ohne problematische
Schwere. Dabei stellte er an Freunde und Mitarbeiter scharfste Forderungen,
schroff bis zur Scheidung. Wie denn iiberhaupt Weichheit und Liebenswiirdig-
keit, Gedanklichkeit und zeitfremde Phantasie hinter dem durchstoBenden
Stolz und schnellen, sich auf Instinkt und Praxis berufenden Urteil zuriick-
traten. In jiingeren Jahren hat er sich dichterisch versucht; Bleibendes ist
ihm dabei nicht gelungen. Aber er behielt eine Offenheit fur die Entwicklung
des geistigen und ktinstlerischen Lebens, die ihn Mannern wie Richard Dehmel
(s. unten, S. 513 ff.) und den Briidern Hart nahebrachte. — Sein Streben
nach entscheidender einheitlicher Fuhrerschaft der volkischen Bewegung ist
nicht zum Ziele gekommen, er blieb ein Anreger und Beginner, seine Ab-
sichten sind von den Erben seiner Werke nicht rein bewahrt worden, waren
in sich auch nicht endgultig reif geworden. Doch ist er in den wesentlichen
Aufgaben seines offentlichen Lebens von dauernder Wirkung fiir die volkische
Bewegung gewesen. Wenn auch der Wahlverband schon 1905 durch ihn in
den groBen Reichsverband gegen die Sozialdemokratie aufgelost wurde, wenn
auch die nationale Arbeiterbewegung erst nach seinem Ende und auf anderen
Wegen sich zusammenschloB : in Kolonialpolitik und Schulreform hat er all-
gemeinen Bestrebungen zur Durchsetzung geholfen, die ^Deutsche Zeitung<t
und der Deutschbund aber iiberleben ihn und stehen noch heute unter dem
Anspruch seiner Ziele.
In der Kolonialpolitik ist L.s Name verbunden mit dem von Carl Peters
(s. unten, S. 285 ff.) und Ostafrika. Fiir das zunachst unbestimmt auf Afrika
geplante Unternehmen hatten sie sich mit mehreren zusammengef linden,
hatten gemeinsam die Hemmungen durch die Regierungen, Hohn und Vor-
wurf der Offentlichkeit ausgestanden ; L. hatte dabei vor allem fiir die publi-
zistische Werbung gewirkt, auch viel zur finanziellen Sicherung des Werkes
getan. Er hat schlieBlich die »Tagliche Rundschau* gerade hier fiir eine
deutschnationale Aufgabe eingesetzt. Aber an der Ausfahrt konnte er selber
nicht teilnehmen, mit seiner Unterstiitzung erlangte Peters die unbedingte
Vollmacht. Als dieser heimkam und seinen Herrschaftsanspruch fernerhin
geltend machte, als L. in den organisatorischen und finanziellen Anordnungen
g6 1917
und Planen des Griinders eine gesunde sachlich-unselbstische Begriindung
nicht mehr zu sehen vermochte, als endlich auch die selbstwilligen Tempera-
men te aufeinanderstieBen, hat sich L,. von der Ostafrikanischen Gesellschaft
gelost. Der Gegensatz zu Peters blieb freilich bestehen und sollte sich noch
einmal leidenschaftlich auBern, als I,, auf das begriindete Geriicht, jener
wolle, nachdem er so schmahlich im Vaterlande behandelt worden, in eng-
lische Dienste iibertreten, ihn (1896) in einem Aufsatze »Reislaufer« angriff,
was zu gerichtlichem Austrag und Vergleich fiihrte. Im Grunde wiederum er-
hielt sich unter dem alten Kampfgenossen eine schlieBliche t)bereinstimmung,
die auch in L.s spaterer Betrachtung der deutschen Kolonialtatigkeit sich
aussprach : aus dem machtpolitischen und siedlungspolitischen Denken heraus
findet er eine herbe Verurteilung des Sansibar-Vertrags und vor allem der
preuBischen Beamtenpolitik, die alles urspriingliche und fahige Streben ge-
hemmt und verdorben habe, sowie der Einsichtslosigkeit der groBen Wirtschaft.
L. glaubte nun in diesem Erobererpatriotismus der ersten Kolonialzeit ein
inneres Gebrechen zu finden, ihm schien da nur Nachahmung der englischen
und franzosischen Art zu entstehen. Er meinte die innere Notwendigkeit der
deutschen Reform zu fassen, wo der Ursprung der Weltfremdheit, des For-
malismus und des Kastengeistes allein zu liegen schien, in der Schule. So warf
er sich in den Streit gegen das humanistische Gymnasium. 1889 begriindete
er mit anderen den Verein fur Schulreform. Der Kampf schien zunachst am
Widerstande des Ministeriums in PreuBen scheitern zu sollen ; aber nicht zum
mindesten durch das personliche Eingreifen des Kaisers, in dem L. damals
dankbar wie auch oft spater den Vorfechter neuen, frischen nationalen Geistes
erblickte, drang das Verlangen durch, und die Begriindung der Realanstalten
hatte mit maBiger amtlicher Forderung einen glanzenden Erfolg. L.s Absicht
dabei erschopfte sich nun nicht in der Ablehnung des klassischen Humanis-
mus, im heftigen Widerspruch gegen die Bildungsziele Goethes und Hum-
boldts, gegen die abstrakte Philosophic auch nicht im Willen zur Naturwissen-
schaft. Am wenigsten wollte er bei allem Realismus einer bloBen Niitzlich-
keitsgesinnung in der Erziehung dienen. Ihm lag vielmehr der »Idealismus«
einer bei politischer Reife innerlich rein deutschen, bewuBt echten Bildung
am Herzen, die er mit dem allerdings »gereinigten« Inhalt der ganzen deut-
schen Geschichte nahren wollte. Der beste Sinn der lateinlosen Mittelschule
war auch ihm die demokratische Einheit, die Zerstorung geldlich begriindeter
Bildungsklassen, die Adelung alien Strebens. So erschien ihm die Schulreform
durchaus als »Kulturreform«. In solchen Gedanken wurde er zum Vorlaufer
von Versuchen, die heute bei ganz anderen Uberzeugungen geschehen und
fruchtbar werden. Die Bewegung indessen, der er zum Siege half, blieb im
Niitzlichkeitsrealismus stecken. Nicht einmal der staatsbiirgerliche Unterricht,
fur den er sich spater so einsetzte, wurde verwirklicht. Nun der Idealismus
des Gymnasiums zuriickgedrangt war, so war doch das Bildungsideal, das L.
wollte, zu wenig tief in der deutschen Geschichte, im deutschen Beruf und im
menschlichen Geiste gegriindet, um schopferisch zu sein.
Ein inneres Ungeniigen blieb auch fur L,. in alien diesen Bestrebungen und
ihren Erfolgen. Noch mehr aus dem Kerne wollte er die Erneuerung des
Volkstums zu befordern suchen. Aus dem Wunsche, »den Gemeinschaftswert
xeinen Deutschtums sozusagen in einem Ausschnitt des Volkes zu erleben«,
Lange gy
kam er zur Griindung des Deutschbundes. Wenn der Alldeutsche Verband,
den einst Peters ins Leben rief, vornehmlich um die Weltgeltung des Deutsch-
tums kampfte, so sollte der Deutschbund als eine briiderliche Gemeinde mit
der Kraft » einer gleichen Weltanschauung, eines in alien gleich starken und
zu religioser Glut verklarten Deutschideals* das Volk durchdringen. Etwas
wie eine » Burschenschaf t der Erwachsenen« sollte da entstehen, gegriindet
auf den Glauben an Blutserbschaft auch im Geistigen, erfiillt von den rein
volkstumlichen Uberlieferungen der Geschichte, streitbar gegen alles bloBe
Weltbiirgertum und gegen die volksfremden Einfliisse, besonders des Juden-
tums, ohne Beachtung der religiosen Bekenntnisgegensatze. L. wollte indessen
nicht, daB sein Bund sich auf Theorie irgendwelcher Art, der Rasse, der
Politik oder der Kultur festlege. Strebend aus vorurteilsloser Liebe sollte er,
gegriindet auf das »deutsche Gewissen, in unserer Brust, das innere Gesetz,
an dem sich Gott fur jeden einzelnen von uns in der Geschichte unseres ganzen
Volkes offenbarte«, als » Pflanzschule und Versuchsfeld fur alle natiirlichen
Triebe unseres deutschen Wesens, die auf dem freien Felde unseres offent-
lichen I^ebens noch nicht oder nicht mehr gedeihen wollen«, wirken. Dabei
hat L. jede Romantik, alle nur auf Vergangenes gewendete Schwarmerei immer
mit Spott abgewiesen. Der Gegenwart dienen sollte sein Bund vor allera in
der Vertretung eines nationalen Wirtschaftsprogramms, mit dem die Sozial-
demokratie, unter Erfullung der berechtigten Forderungen der unteren
Schichten, besonders aber durch Starkung des Mittelstandes, zu iiberwinden
ware. L,. sah wohl eine innere Notwendigkeit im Entstehen der sozialistischen
Bewegung, auch er war geneigt, bei aller Ablehnung proletarischer Klassen-
politik, sich gegen den Kapitalismus zu wenden. Er suchte das Heil in einer
nationalen berufsstandischen Organisation durch Zwangsgenossenschaften in
niodernem Sinne, zu denen er die Ansatze uberall zu sehen meinte. Hier zeigt
sich, wie L. dem Deutschbunde bei aller Betonung seines innerlichen Ge-
meinschaftscharakters doch groBere politische Wirkung in der Allgemeinheit
vorgesetzt hatte, als er mit ihm erreichen konnte.
So sah sich L,. am Ende doch auf die Tatigkeit verwiesen, zu der ihn seine
Natur am meisten forderte, das Wirken fur eine nationale Presse. Zwei
Richtungen nahm da sein Streben. Einmal gait es iiberhaupt eine unabhangige,
rein national bestimmte Tagespresse erst ins L,eben zu rufen, gegentiber all
dem Unwesen der Parteien und Interessen, dann aber diese Blatter auch mit
neuem Geist und BewuBtsein, mit dem Gehalt einer wirklichen volkischen
Erneuerungsgesinnung zu erfiillen. Nun hat gleich die »Tagliche Rundschau*,
wie L. sie gestalten konnte, eine schone und bedeutende Wirkung gehabt,
mehr noch ist die » Deutsche Zeitung«, in dem engeren Iyebens- und Gedanken-
bereich, der ihr gegeben, eine personliche Schopfung ihres Griinders und das
bahnbrechende Beispiel einer Gesinnungszeitung geworden. Aber es liegt doch
ein tragischer Schimmer iiber diesem Schaffen. L. ist endlich doch der Ge-
walten seines Berufes nicht Herr geworden. Er konnte auch seine Blatter
nicht auf die Dauer dem EinfluB der wirtschaftlichen Krafte und der Massen-
interessen entziehen ; so daB weder in der iiberlegehen politischen Zielsetzung
noch in der Reinheit wesentlicher Gesinnungen seiner Forderung genuggetah
ward. Die hinreiBende Macht, die er seiner Botschaft uberall verleihen wollte,
hat sich ihm immer wieder versagt ; und das hat doch auch den innereh Grund ,
BBJ7
<)8 1917
daB diese Lehre selber mit publizistischem Streben und tagespolitischer Ar-
beit verwachsen, zu wenig aus tieferen Griinden gesattigt, nicht zu den hoch-
sten Lebenszielen gesteigert war.
Mag man indessen auch das Unzulangliche von L.s Wirksamkeit heraus-
finden, so gilt es doch noch einmal den eigentlichen Gehalt und die wesent-
liche Leistung seines Strebens ins Licht zu setzen. Als er begann war nach
dem siegreichen Kriege jener Zustand der Sattigung und Tragheit im deut-
schen Burgertum eingetreten, die MiBgestaltung des Lebens durch den Kapi-
talismus und die Zersetzung durch die Parteigegensatze und den Klassen-
kampf. Neben der Verstandnislosigkeit fur die wirklichen Aufgaben eines
Weltvolkes machte sich ein lauter inhaltloser Patriotismus breit; gegen die
offenbare Wucherung wesensfremder Krafte in der deutschen Gesellschaft,
vor allem des Judentums, wandte sich nur ein agitatorischer, im Grunde
dummer und barbarischer, noch keines allgemeinen Zieles fahiger Anti-
semitismus. Diesem gerade muBte L. entgegentreten, wollte er zu fruchtbarer
Politik eine noch unreife Nation erziehen und fuhren. Er sah sich dabei nicht
unterstutzt von den Gebildeten und ihrem Geltungswillen, die im Epigonen-
tum beharrten. Anlage und Beruf veranlafiten ihn auch, stets von praktischen
Fragestellungen auszugehen und auf Dogma, System, ja auch geschlossene
Begriindung in der Idee Verzicht zu tun. So ward er der erste bedeutende
volkische Journalist.
L.s erstes Ziel war nun die Politisierung des deutschen Volkes. Ahnlich wie
Peters, aus einem naturlichen Bedurfnis der Zeit, nahm auch er den welt-
politischen Geist der Englander zum Vorbilde. Das riicksichtslose Selbst-
bewuBtsein, die unbedingte Voransetzung aller Wiinsche des Vaterlandes, den
niichternen Blick fiir die baren Interessen hinter alien internationalen Pro-
grammen sollte nach Bismarck ins Denken aller ubergehen; noch iiber Bis-
marck hinaus mit der riicksichtslosen inneren Kampfstellung gegen das Juden-
tum und der Forderung nach wirtschaftlicher und sozialer Neugestaltung des
nationalen Lebens. Wenn die weltburgerliche Bildungsidee Goethes abgelehnt
wurde, so sollte doch der Deutsche aus dem BewuBtsein seiner angeborenen,
treu gepflegten Werte sich als Vorkampfer der besten Menschheit fuhlen
lernen. Diese inneren Werte allerdings schienen zweifelhaft geworden.
Hier nun trifft L.s Nachdenken zu dem, was seit Lagarde Gehalt volkischei
Erneuerungsbestrebungen war. Auch er geht aus von dem Verhaltnis dei
echten Personlichkeit zur Nation und fordert Erlosung unseres offentlichen
Lebens von alien starren Schranken, von alien formalistischen Hemmungen,
die der preuBische Beamtenstaat erzeugte, verjiingte Volkstiimlichkeit, in
bestimmtem Sinne Demokratie, zugleich aber Herrschaft einer aristokratischer
Lebensgesinnung, die sich auf Blut und Leistung beruf t. Seine Hoffnung ist
daB aus dem Geiste und den Daseinsformen des Volksheeres ein neuer An-
trieb fiir die Allgemeinheit kommen werde, sei es auch im Gefolge eines groBec
Machtkampfes, den er schon als Lauterung und Wesensprobe wiinscher
mochte. Denn im Grunde sind dem deutschen Volke alle notwendigen und
heiligen Gehalte schon eingeboren, die rechte Aufgabe des Erziehers und
Politikers scheint Wiederfindung und Reinigung des verschiitteten Wesens
nicht so sehr schopferisch neues Wollen. Darin ist L. bestarkt von den Ge-
danken Gobineaus, den er als Verkunder j>arischer« Blutaristokratie mil
Lange. Matthias qq
Nietzsche vergleicht und hoherstellt. Das »Reine Deutschtum «, das ist ihm
der »eingeborene Idealismus « unseres Volkes, der zu sich selber finden wird,
wenn erst die humanistische Traumseligkeit und Entfremdung verschwindet,
der Idealismus des Tapferen, als solcher wesentlich dem weichen Christentum
iiberlegen. Das Christentum namlich kann weder als Weltansicht noch als
Sittlichkeit dem heutigen bewuBten Deutschen, wie L,. ihn will, geniigen, nur
der » Idealismus* daran, dem der ererbte arische Sinn schon entgegenkommt,
soil uns erhalten bleiben. Ubrigens ist ihm Religion, als Gottverbundenheit,
wesenhaft dogmenlos und so verstanden im »Reinen Deutschtum « unmittel-
bar gegeben.
Erstrebt L. also eine Bestimmung des deutschen Wollens aus sittlichem
Ziel der Menschheit, die sich in Volkern verwirklicht, so ist doch aus der Fiille
angeregter Probleme nicht die Idee geklart. Fiir die Wesenserkenntnis des
Deutschtums und seiner Sendung beruft sich I,, grundsatzlich nicht auf ein-
dringend-umfassende Gultigkeit des Denkens, noch auf klare GewiBheit einer
unmittelbaren Anschauung, sondern nur auf den instinkthaften Willen. Seine
Auffassung der deutschen Geschichte geht iiber alles hinweg, was nicht
realistisch-volkstumlich gemeint war. Und so muJ3 Weltgrund und Weltziel
hinter dem nationalen Begehr nach berechtigter Macht verschwimmen im
» Idealismus « fiir alles edel und gut Gefuhlte, in einem letzten bewahrten
Glauben an den Gott, der ein Volk nicht ohne Sinn berufen hat. — Damit
bleibt L. seiner Zeit unterworfen, der die Einheit innerlichen Lebens, die
wahre iiberweltUche Religion, entgangen war, in der Geist und Sinn von Trieben
und Zwecken uberwuchert wurden. Auch er hatte zugleich auf die Uber-
lieferung des deutschen Idealismus verzichtet, als er sich von Lotzes religio-
ser Philosophic unzuf rieden trennte ; die tieferen Forderungen seines Glaubens
fanden nicht den ersehnten Widerhall.
Im Weltkriege glaubte If. die Erfullung seines Lebenszieles nahe. Die f urcht-
bare Enttauschung von 1918 ist ihm erspart geblieben, aber er durfte nun
auch nicht mehr erfahren, wie die besten Inhalte seines Kampferdaseins auch
der Verzweiflung vexjiingt und gelautert entstiegen sind. Im Bemuhen um
Vereinigung deutschen nationalen Machtwillens und deutscher geistiger Welt-
bestimmung und Weltverantwortung zu volklicher Selbstbesinnung war er
Wegbereiter einer wartenden Zukunft.
Literatur: ^Deutsche Zeitung* 1. April 1921 (Karl Berger). — »Deutschbundb latter*
1927 (Fuchs). — Adolf Rapp: Der deutsche Gedanke. Bonn 1920. — Schriften:
Reines Deutschtum, Grundziige einer nationalen Weltanschauung (Anhang: Nationale
Arbeit und Erlebnisse), 4. Auflage, Berlin 1904 (Neuherausgabe durch den Deutschbund
geplant); Deutsche Worte, Deutschbundreden, Berlin 1907; Harte Kopfe, Roman, Leipzig
1885; ijothar, Epos, Hamburg 1889; Der Nachste, Drama, Hamburg 1890; Gedichte und
Erzahlungen in der »Taglichen Rundschau* u. a.; Aufsatze in der »Deutschen Welt^. —
Nach la ft: Liter arische Entwurfe, Kindheitserinnerungen, Reiseschilderungen ; person -
licher und politischer Brief wechsel, bei Frau Dr. E. Lange, Berlin-Friedenau.
Berlin-Steglitz. Rudolf Craemer.
Matthias, Adolf, Dr., Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat und Vortra-
gender Rat im preuBischen Kultusministerium, * am 1. Juni 1847 in Hannover,
t am 8. Juni 1917 in Diisseldorf. — In dem demokratischen Massengetriebe
100 1917
unseres heutigen Staatslebens verblaBt die Erinnerung an fiihrende Manner
schneller als in der patriarchalischen Einfachheit vergangener Zeiten. Auch
die hervorstechendste Personlichkeit ordnet sich bescheiden ein in das schnell-
abnutzende Gefuge der Beamtenmaschinerie, tritt in ihrer Bedeutung und
in der nachwirkenden Kraft ihres Schaffens bald zurtick und legt ihr ganzes,
des personlichen Reizes immer mehr entbehrendes Werk beim Ausscheiden
aus dem Amte entsagungsvoll in andere Hand.
Wie lebendig und scharf umrissen stehen in der Geschichte des hoheren
Bildungswesens noch Gestalten wie die eines Joh. Wilh. Siivern (1775 — 1829),
der im Verein mit Wilhelm v. Humboldt das gesamte Unterrichtswesen
PreuBens auf der neuhumanistischen Grundlage einer harmonischen Allgemein-
bildung aufbaute und ihm dabei ein universelles Geprage gab, das jahrzehnte-
lang bestimmend blieb — oder eines Joh. Schulze (1786 — 1869), der 40 Jahre
lang dem preuBischen Kultusministerium angehorte und einen groBen Teil
dieser Zeit hindurch das preuBische Bildungswesen leitete, ihm in Lehr-
verfassung, Lehrzielen und Methoden feste Formen vorzeichnend — eines
Ludwig Wiese (1806 — 1900), der fast ein Vierteljahrhundert hindurch den
hoheren Schulen seinen Geist, den Geist kirchlich humanistischer Strenge auf-
pragte — oder auch noch eines Hermann Bonitz (1814 — 1888), dem die Auf-
gabe zufiel, die hoheren Schulen den Anforderungen der durch die Reichs-
griindung bestimmten neuen Kultur anzupassen.
Diese Reihe glanzender Namen bricht ab mit der infolge der Industriali-
sierung einsetzenden Verbreiterung des offentlichen Bildungswesens und
seiner Verwaltung. Die Namen der nunmehr fiihrenden Personlichkeiten treten
zuriick hinter der Sache. Aber an einem Namen wird die Geschichte des preu-
Bischen Bildungswesens bei der Darlegung der padagogischen Bestrebungen
um die Jahrhundertwende nicht voriibergehen konnen: Christian Wilhelm
Adolf M., dem Namen eines Mannes, der durch seine eigenartige Personlich-
keit in seltenem MaBe EinfluB auf eine neuzeitliche Reform des hoheren
Schulwesens und auf seine Trager gewann.
Adolf M. war einer althannoverschen Familie entsprossen. Urspriinglich fur
den Apothekerberuf bestimmt, studierte er spater in Marburg und Gottingen
klassische Philologie, Deutsch und Geschichte. Seine Studien erlitten eine
Unterbrechung durch den Deutsch-Franzosischen Krieg, den er als Freiwilliger
im 8. Westfalischen Infanterieregiment Nr. 57 mitmachte. Fur tapferes Ver-
halten in der Schlacht bei Beaume la Rolande und in den Gefechten von
Villeporcher und Villethion wurde ihm das Eiserne Kreuz verliehen. Nach
Wiederaufnahme seiner Universitatsstudien bestand er im Juli 1873 die Lehr-
amtspriifung,( und noch im November desselben Jahres wurde ihm von der
Gottinger Philosophischen Fakultat die Doktorwiirde verliehen. Das Probe-
jahr leistete er am Herzoglichen Gymnasium zu Holzminden und am Gym-
nasium zu Essen ab. Als ordentlicher Lehrer wirkte er sodann vom 1. Oktober
1874 bis zum 1. April 1880 an dem unter Dr. Edm. Vogts Leitung stehenden
Gymnasium zu Essen, als Oberlehrer an den Gymnasien zu Bochum (1. April
1880 bis 31. Marz 1882) und Neuwied (1. April 1882 bis 1. Oktober 1884).
Von hier aus erhielt er einen Ruf als Direktor an das Lippische Gymnasium
in Lemgo, der Geburtsstadt Siiverns, die er aber bald wieder verlieB, um
Ostern 1885 die Leitung des Gymnasiums und Realgymnasiums in der Kloster-
Matthias 10 1
strafie zu Diisseldorf zu ubernehmen. Anfangs 1898 trat er als schultechnischer
Rat in das Provinzialschulkollegium in Koblenz ein, von wo er gleichzeitig
das wissenschaftliche Priifungsamt in Bonn leitete. Zwei Jahre spater erfolgte
seine Berufung in das preui3ische Kultusministeriura. Hier wurde er am
2. April 1900 zum Geheimen Regierungsrat, am 14. Dezember 1903 zum Ge-
heimen Oberregierungsrat ernannt. Ein Herzleiden zwang ihn im Sommer 19 10
seine Versetzung in den Ruhestand zu erbitten, die ihm unter Verleihung des
Charakters als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat bewilligt wurde. Er
starb zu Diisseldorf, der Statte seiner friiheren Wirksamkeit, wo er bei seinem
Sohn zur Erholung weilte, kurz nach Vollendung seines 70. Lebensjahres.
Die Diisseldorf er Direktorzeit ist, wie M. in seinen »L,ebenserinnerungen«
(Aus Schule, Unterricht und Erziehung) selbst erzahlt, fiir ihn derjenige
Lebensabschnitt gewesen, in dem er die meisten wissenschaftlichen, pad-
agogischen und rein menschlichen Anregungen empfangen hat und aus dem
ihm die meisten freundschaftlichen Beziehungen, die schonsten Erinnerungen
erwachsen sind. Hier konnte sich seine sonnige, herzenswarme Personlichkeit,
seine Zuversicht in alles Gute im Menschen und besonders in der Jugend frei
entfalten undweiter entwickeln. Hier konnte im Verkehr mit seinen Schiilern,
denen er niemals als »Gendarm des Zwanges«, sondern immer als treuer,
wohlmeinender, auch die kleinen Schwachen der jugendlichen Unreife ver-
stehender Freund gegeniibertrat, sein reiches Wissen, sein kraftiges Empfinden
und Wollen, sein gesunder Humor reiche Anregungen geben und auf weite
Kreise, bei Eltern, Lehrern und Behorden, aufmunternd und erfrischend
wirken. Ein Zeichen dessen sind die beiden Werkchen » Wie erziehen wir unseren
Sohn Benjamin ?« und »Wie werden wir Kinder des Glucks?«, die beide aus
seinen Vortragen vor Lehramtskandidaten erwachsen sind.
Von Diisseldorf aus nahm er als Realgymnasialdirektor auch an der groBen
Schulkonferenz in Berlin im Dezember 1890 teil, wo er bereits fiir eine Rein-
erhaltung und gleiche Einschatzung der drei Schultypen Gymnasium, Real-
gymnasium, lateinlose Schule eintrat, eine Verminderung der Gesamtstunden-
zahl, eine Konzentration auf wenige, aber kraftig bildende Unterrichtsgegen-
stande, insbesondere Deutsch, Geschichte, Religion forderte und so die An-
erkennung der Gleichberechtigung der drei hoheren Schularten vertrat, der
er dann auf der Junikonferenz vom Jahre 1900 zum Siege verhelfen konnte.
Der Weiterfuhrung der auf dieser Konferenz beschlossenen und in dem
kaiserlichen Erlasse vom 26. November 1900 angeordneten Schulreform gait
sein ganzes ferneres Wirken. In ihren Dienst stellte er die von ihm in Ver-
bindung mit R. Kopke begriindete, aber von ihm allein geleitete »Monats-
schrift fiir hohere Schulen«, ihr widmete er seine hervorragende schriftstelle-
rische Begabung und seine iiberzeugende Beredsamkeit. Immer war er bestrebt,
frei von engherzigen und kleinlichen Vorurteilen, neben dem guten Alten auch
dem werdenden Neuen freie Bahn zu schaffen, und unbekummert urn alle
Angriffe, die auch ihm nicht erspart blieben, iiberall da, wo er dem hoheren
Schulwesen noch anhaftende Mangel sah, scharfe Kritik zu iiben. Gerade
dieser Freimut des Urteils, der ein kraftiges Wort nicht verschmahte, ver-
bunden mit dem frohlichen Humor seiner leichtflieBenden Darstellungsweise,
haben seinen zahlreichen Schriften, besonders seiner Praktischen Padagogik,
einen zahlreichen und dankbaren, iiber die engeren Fachkreise weit hinaus-
102 19*7
gehenden Leserkreis erworben. Versenkt man sich heute, nachdem ein voiles
Jahrzehnt iiberschaumender Reformfreude aus selbstgeschaffenen Triimmeni
heraus eine neue Padagogik aufbauen zu konnen wahnte, in die M.schen
Schriften, so ist man geradezu erstaunt uber den fortschrittlichen Geist, der
uns daraus entgegenweht und der an Mut und Frische hinter den mit urn-
stiirzlerischer Geste vorgetragenen Forderungen unserer »entschiedenen Schul-
reformer* keineswegs zuriicksteht. Das lag daran, daB M., nach seinen eigenen
Worten, sich in seiner langen Berufslaufbahn bei all seinem Tun warnend das
Goethe- Wort vorhielt: »Der Philister negiert nicht nur andere Zustande, als
der seine ist ; er will auch, daB alle iibrigen Menschen auf seine Weise existieren
sollen.« Und alle Philisterei, alle Pedanterie war ihm in der Seele zuwider.
»Unter Pedanterie, « sagt M., »verstehe ich Formalklauberei, Methoden-
karikatur, Systemfuchserei, Beschranktheit bei Verwirklichung groBer Ideen
und Abgeschmacktheit in ihrer Formgebung, vor allem aber Angstlichkeit,
wo es sich urn groBen Gewinn und groBe Ziele handelt, und Sklaverei kon-
ventioneller Lebensregeln, die sich im Entwicklungsgange der Kultur als un-
brauchbar, iiberlebt oder gar als schadlich erwiesen haben. Pedanterie aber
ist eine Haupteigenschaft aller Schul- und Erziehungsphilister. Unter Eltern,
Lehrern und besonders in der Schulverwaltung bis in die hochsten Spitzen
hinein habe ich so viele Philister angetroffen, daB ich fast glaube, sie haben
noch immer die Majoritat bei uns« (Deutsche Revue, Marz 191 1).
Was aber M. vor den heutigen Reformern auszeichnete, das war seine in
langer, freudig geleisteter Schularbeit erworbene tiefgehende Sachkenntnis,
seine tiefe Einsicht in die Grenzen padagogischer Schulweisheit, seine Ab-
neigung gegen alles Reglementieren und gegen ministerielle Richtlinien. Seine
Achtung vor der Menschenwiirde im Lehrer und Schiiler war zu fest begriindet,
als daB er es jemals gewagt hatte, das Freiheits- und Selbstgefiihl der Schiiler
oder das VerantwortungsbewuBtsein der Lehrer durch bureaukratisch-engher-
zige Bestimmungen zu schmalern. » Bewegungsf reiheit « fiir Lehrer und Schiiler,
das war das Ziel seines Strebens, das auch in den von ihm bearbeiteten Lehr-
planen und Prufungsordnungen deutlich erkennbar ist.
M.sche Tradition ist leider nach mancher Richtung hin von der offiziellen
Padagogik verlassen worden, die mit Herrschergewalt das Ganze des mensch-
lichen Daseins nach ihrem Willen formen und gestalten will. Um Jahrzehnte
ist dadurch die deutsche hohere Knabenschule mit ihren jetzt vorhandenen
37 verschiedenen Formen in ihrer fortschrittlichen Entwicklung zuriick-
geworfen worden. Aber jetzt schon ringt sich in der padagogischen Literatur
iiberall die Uberzeugung durch, daB eine Wiedergesundung unseres hoheren
Bildungs- und Erziehungswesens nur durch Ankniipfung an M.sche Ideen zu
erhoffen ist.
Lange Jahre, von 1893 bis 1917, hat der Unterzeichnete mit M. in enger
Freundschaft zusammengearbeitet, dabei bis zum Sommer 19 10, als ein Herz-
leiden M. zwang, seine Versetzung in den Ruhestand zu erbitten, mit ihm
und Karl Reinhardt sich in die Leitung des hoheren Schulwesens PreuBens
geteilt: kostliche Jahre eines freundschaftlichen, durch keine Dissonanzen ge-
triibten Ineinanderwirkens und eines freudigen Schaffens, das nicht in iiber-
stiirzten Reformversuchen sein Ziel sah, sondern in einer fortschrittlichen,
von freiheitlichem Geiste getragenen, aber auch in Achtung vor dem geschicht-
Matthias. Mehrtens 10 3
lich Gewordenen, sorgsam erwogenen Weiterentwicklung, in der Verbreitung
frohlicher heller Sonne in den Schulraumen, in Unterricht und Erziehung, im
Bereiten einer freien Bahn fiir ungezwungenes »Werden«, nicht fur gewalt-
sames »Gemachtwerden«.
Und so konnten seine Freunde in der ihm zum 70. Geburtstage iiberreichten
Adresse ihn mit vollem Rechte feiern als den Vertreter einer hoffnungsfreu-
digen Auffassung von der deutschen Jugend und der Aufgabe ihrer Erzieher,
als den Mitbegriinder einer freiheitlichen und weitschauenden Richtung in
unserem Schulwesen, als einen wahren Lehrer der Lehrer.
Literatur: J . Norrenberg, Nachruf auf Ad. M. im Deutschen Reichsanzeiger vom
12. Juni 191 7, Nr. 137. Dieser Aufsatz hat auch den vorstehenden Ausfiihrungen zugrunde
gelegen. — Rud. Lehmann, Adolf M., im Deutschen Philologenblatt, 1917, S. 347. —
Schmitz-Mancy, Adolf M. zum Gedachtnis. Zeitschr. f. lateinl. hoh. Schulen, 191 7, S. 145.
Griechische Wortkunde, 2. Aufl. 1886; Xenophons Anabasis, Kommentar und Text,
1884, 3. Aufl. 1 914; Heilungdes Orest in Goethes Iphigenie, 1887; Bedeutung der hoheren
Biirgerschule, 1888; Deutsches Volkslied, 1889, 4. Aufl. 191 3; Goethes Gedankenlyrik,
1002, 2. Aufl. 1914; Schillers Gedankenlyrik, 1902; Grillparzers Ahnfrau, Leipzig, Teub-
ner 1904; Grillparzers Sappho, 1903; Hilfsbuch fiir den deutschen Sprachunterricht, 1892,
8. Aufl. 1912; Frau Rat Goethe, 1912; Praktische Padagogik fiir hohere L,ehranstalten,
1895, 4. Aufl. 1912; Die patriotische Lyrik der Befreiungskriege, 1897; Wie erziehen wir
unseren Sohn Benjamin ? Ein Buch fiir deutsche Vater und Mutter. Beck, Munchen 1897,
10. Aufl. 191 5; Wie werden wir Kinder des Gliicks? Ebenda 1899, 4. Aufl. 1916; Die
soziale und politische Bedeutung der Schulreform von 1 900. 1 905 ; Geschichte des deutschen
Unterrichts. Ebenda 1907; Aus Schule, Unterricht und Erziehung, 1901; Meine Kriegs-
erinnerungen, 191 1, 3. Aufl. 1912; Bismarck, sein Leben und sein Werk, 191 5; Krieg und
Schule 191 5. Kriegssaat und Friedensernte 191 5. Deutsche Wehrkraft und kommendes
Geschlecht 191 5; Erlebtes und Zukunftsfragen, 191 3; Handbuch des deutschen Unter-
richts (Herausgeber) ; Zahlreiche Aufsatze in Zeitschriften und Zeitungen.
Bonn. Johann Norrenberg.
Mehrtens, Georg Chrlstoph, Ingenieur, Regierungs- und Baurat, o. Professor
fiir Statik der Baukonstruktionen, Festigkeitslehre und eiserne Briicken an
der Technischen Hochschule Dresden, * am 31. Mai 1843 in Bremerhaven,
f am 9. Januar 1917 in Dresden. — Nach AbschluB der Gymnasialbildung in
Bremerhaven arbeitete M. zwei Jahre in den Werkstatten der Maschinenfabrik
Balke in Altona und bezog darauf, 18 Jahre alt, die Technische Hochschule
Hannover, an der er bis zum Jahre 1866 Ingenieurwissenschaften studierte.
Im Jahre darauf bestand er die Regierungsbaufuhrerpriifung und trat als
solcher bei der Kgl. Eisenbahndirektion Hannover in den preuBischen Staats-
dienst. Im Jahre 1869 wurde M., nachdem er die zweite Staatshauptpriifung
bestanden hatte, bei derselben Verwaltung Regierungsbaumeister und blieb
in deren Diensten bis zum Jahre 1872. Die auBergewohnliche Belebung des
Eisenbahnbaus nach dem AbschluB des Deutsch-Franzosischen Krieges ver-
anlaBte ihn zum Ubertritt zu Privatbahngesellschaften, deren Aufgaben seine n
Schaffensdrang und seine ingenieurtechnische Begabung besser befriedigten.
Er war zunachst als Sektionsbaumeister beim Bau der Luneburg — Witten-
berger Bahn, spater als Abteilungsbaumeister beim Bau der Berlin — Dresdener
Bahn tatig. Hierauf wurde ihm der Bau der Eisenbahnstrecke Frankfurt a.d.O. —
Kottbus als Oberingenieur iibertragen.
In diesen Jahren hatte M. Gelegenheit, reiche Erfahrungen auf dem Gebiete
des Bauwesens zu sammeln, die die groBen Erfolge begriindeten, die ihm in
104 igi?
der zweiten Periode seines I^ebens beschieden waren. Er trat im Jahre 1878
in den preuBischen Staatsdienst zuriick und wurde im Ministerium der offent-
lichen Arbeiten in Berlin mit Vorarbeiten fur den Bau der Bahnlinie Erfurt —
Ritschenhausen betraut. Gleichzeitig ubernahm er an der Technischen Hoch-
schule Charlottenburg die Stellung eines Assistenten bei Professor Winkler,
einem der bedeutendsten Vertreter der Baustatik und des Briickenbaus. Die
hiermit verbundene wissenschaftliche Tatigkeit fiihrte nach kurzer Zeit zu
seiner Habilitation an derselben Hochschule. Er las zunachst iiber die Gebiete,
denen er bisher nahegestanden hatte, iiber die Ausfiihrung von Briicken, auBer-
dem iiber den Entwurf beweglicher Briicken. Diese Tatigkeit ist fur seine kiinf-
tige Entwicklung entscheidend geworden. Wenn sie auch durch seine Ver-
setzung nach Frankfurt a. d. O. im Jahre 1883 unterbrochen wurde, so konnte
doch O. Schwedler, der damalige Dezernent fiir die Briickenbauten der preuBi-
schen Staatsbahn im Ministerium der offentlichen Arbeiten im Jahre 1888
keinen geeigneteren Mann zum Bau der neuen Weichselbriicken bei Dirschau,
Marienburg und Fordon finden, als M. Er wurde der Leiter des hierfiir ein-
gerichteten Bureaus der Eisenbahndirektion Bromberg.
Diese Berufung war vor allem durch eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten
begriindet, deren Anregung in seiner Tatigkeit an der Technischen Hochschule
zu suchen sein wird und die in diesen Jahren veroffentlicht wurden. Eine
Studienreise im Auftrage des preuBischen Ministeriums der offentlichen Ar-
beiten fiihrte zu einer Arbeit »Notizen iiber die Fabrikation des Eisens und
der eisernen Briicken«. Darauf folgte ein Aufsatz iiber »Das Eisen im Altertum«.
Ein groBeres Werk erschien im Jahre 1885 und behandelte »Die Mechanik fester
K6rper«. Eine weitere Arbeit wurde im Jahre 1887 der Offentlichkeit iiber-
geben; sie betraf » Eisen und Eisenkonstruktion in geschichtlicher und techno-
logischer Beziehung«. In alien diesen Schriften kam schon das groBe Interesse
zum Ausdruck, das M. der geschichtlichen Entwicklung von Briickenbau
und Baustatik entgegenbrachte und das auch seine spateren Werke kenn-
zeichnet.
Die Arbeiten, die M. mit dem Jahre 1888 an der Weichsel ubernahm, haben
seine Bedeutung fiir die Entwicklung des Eisenbriickenbaus begriindet.
Wenn der Bau dreier groBer Strombriicken in diesen Jahren an und fiir sich
fiir die Entwicklung des Eisenbriickenbaus eine bedeutsame Aufgabe war, so
ist ihre Losung durch seine Initiative deshalb zu einer geschichtlich denkwiirdi-
gen Leistung geworden, weil hierbei alte Wege in der Herstellung des Baustoffes
aufgegeben und auch in Deutschland das SchweiBeisen auf Grund jahrelanger
Versuche der Bauverwaltung in Bromberg durch ThomasfluBstahl ersetzt
wurde. Die Nogatbriicke in Marienburg und die Weichselbriicke in Dirschau
sind noch mit SchweiBstahl gebaut worden. Dagegen wurde fiir die fiinf Strom-
offnungen der Weichselbriicke in Fordon basischer Siemens-Martin-Stahl der
Gute-Hoffnungshutte venvendet. Die dreizehn Flutoffnungen wurden aus
basischem Thomasstahl der Aachener Hiitte »Rote Erde« errichtet. Die Be-
denken, die das In- und Ausland der Anwendung des basischen FluBstahls im
Briickenbau entgegenbrachten, sind bald geschwunden. Damit verfiigte
Deutschland iiber einen dem englischen sauren Martinstahl gleichwertigen
Briickenbaustoff, der schon bei der Briicke iiber den Firth of Forth An-
wendung gefunden hatte.
Mehrtens 105
Der basische FluBstahl hat sich in kurzer Zeit die Welt erobert, so daB die
weitsichtigen Entscheidungen M.s nicht zum wenigsten die fuhrende Stellung
der deutschen Eisenindnstrie begriinden halfen und der Entwicklung des
deutschen Eisenbaus den Weg zu der beherrschenden Hohe gewiesen haben,
die dieser in der Gegenwart einnimmt. Diese Verdienste M.s sind schon zu
seinen Lebzeiten gewiirdigt worden. R. Krohn tat dies gelegentlich der Ver-
sammlung der deutschen Naturforscher und Arzte mit den Worten, »daB die
deutschen Eisenhiittenleute alle Ursache hatten, Georg M. fur die Einf tin-
ning des FluBeisens im Eisenbruckenbau ein Denkmal zu setzen«.
Die Arbeiten M.s, die diesen bedeutungsvollen Abschnitt technischer Ent-
wicklung in Deutschland begleitet haben, behandeln im wesentlichen die Ver-
suche, die die Anwendung des ThomasfluBstahls im Briickenbau rechtfertigen.
Sie sind in den Jahrgangen 1891 — 1893 der Zeitschrift »Stahl und Eisen« ver-
offentlicht. Die Erfahrungen, die hierin niedergelegt sind, wurden gelegentlich
der Weltausstellung in Chicago im Jahre 1893 von ihm auch vor der inter-
national Offentlichkeit vertreten. Mit seinem Vortrage »The use of mild
steel for engineering structures « hatte M. Gelegenheit, sein Wissen und seine
ganze Uberzeugungskraft fiir seine Ideen einzusetzen und der Einfuhrung des
basischen FluBstahls im Briickenbau auch auBerhalb seiner Heimat den Weg
zu ebnen.
Um die Moglichkeit zu besitzen, das ihm liebgewordene Fachgebiet weiter
wissenschaftlich zu durchdringen, gab M. im Jahre 1894 seine Tatigkeit im
praktischen Baudienst auf und folgte einem Ruf der Technischen Hochschule
Aachen als Professor der Ingenieurwissenschaften. Ein Jahr spater ubernahm
er nach dem Tode W. Frankels dessen Lehrstuhl fiir Baustatik und Eisen-
bruckenbau an der Technischen Hochschule Dresden und gliederte diesem
nach dem Rucktritt O. Mohrs (s. unten S. 282 fT.) auch die Festigkeitslehre
fiir Bauingenieure an.
Dieser akademischen Tatigkeit gait der Rest seines Lebens. Sein formvoll-
endeter Vortrag, die reichen Erfahrungen, die sich aus seiner groBen Bautatig-
keit ergaben, fesselten den Studenten in hohem MaBe. War er, der einen groBen
Teil der Entwicklung des Eisenbaus selbst erlebt und beeinfluBt hatte, doch
wie kein anderer berufen, die geschichtliche Entwicklung kritisch zu behan-
deln und daraus die Voraussetzungen fiir neuzeitliche Durchbildung abzu-
leiten. Das erste Ergebnis dieser Arbeiten war das Werk, das im Auftrage
einiger deutscher Briickenbauanstalten fiir die Pariser Weltausstellung in drei
Sprachen gedruckt wurde: »Der deutsche Briickenbau im 19. Jahrhundert«.
Auch seine Arbeiten auf dem Gebiete der Baustatik haben einen gewissen
historischen Einschlag. Sie sind in den ersten drei Banden seiner »Vorlesungen
iiber Ingenieurwissenschaften « zusammengefaBt und bilden im wesentlichen
den Inhalt der Vorlesungen, die er iiber dieses Gebiet an der Technischen
Hochschule Dresden gehalten hat. M. ist auf diesem Gebiet nicht schopferisch
tatig geweseu. Er war kein Theoretiker, der der Berechnung des Tragwerkes
neue Wege gewiesen hat. Daher erscheint auch sein Werk iiber Eisenbrucken-
bau, dessen erster Band im Jahre 1908 veroffentlicht wurde, von groBerer
Bedeutung. Neben den allgemeinen Grundlagen wird hier die einzige zu-
sammenfassende geschichtliche Darstellung des Briickenbaus gegeben, die
bei den zahlreichen personlichen Beziehungen, die M. im L,aufe seines I,ebens
io6 1917
mit den fiihrenden Mannern verkniipft haben, dauernden Wert behalten durfte.
Zahlreiche Aufsatze, die sich mit der jiingsten Entwicklung des Eisenbaus
befassen, sind von ihm in der Zeitschrift »Der Eisenbau« veroffentlicht worden,
deren Schriftleitungsansschni3 er vom Jahre ihres Erscheinens angehorte.
M. hat es an auBeren Ehxen nicht gefehlt. Das Vertrauen seiner Kollegen
belief ihn in den Jahren 1901/02 zum Rektor der Technischen Hochschule.
Im Jahre 1903 wurde er zum Geheimen Hofrat ernannt. Sein klares, sicheres
Urteil war in der Praxis sehr geschatzt, so daB er bei zahlreichen bedeutenden
Wettbewerben als Preisrichter berufen wurde. Von diesen sind besonders die
mittlere Rheinbnicke in Basel, die im Jahre 1914 fertiggestellte Hangebriicke
iiber den Rhein in Koln imd die FesthaUe in Frankfurt zu erwahnen.
M. war mit Eva Barbara, geb. Wittig, verheiratet und ist mit dieser bis zu
deren Tode im Jahre 1904 in einem iiberaus gliicklichen Familienleben ver-
bunden gewesen. Er selbst starb nach kurzem Krankenlager an den Folgen
einer Lungenentziindung, nahezu bis zuletzt wissenschaftlich tatig. Seine Ar-
beiten sind nicht durch theoretische Tiefe ausgezeichnet ; er gehorte vielmehr
zu den Ingenieuren, die die Bewaltigung der Aufgaben in deren baulicher
Durchbildung und schoner Form erblickte. Er war eine feine, durchgeistigte
Personlichkeit, ein Mann von groBer Liebenswurdigkeit, der seine Horer durch
einen lebendigen Vortrag zu fesseln verstand, in den er die vielen eigenen Er-
innerungen an Manner verflocht, die in der Entwicklung des Briickenbaus
eine Rolle gespielt haben. Er war ein geistreicher Gesellschafter und ein in
der Verfolgung seines Ziels unbekummerter Kampfer, dessen geistige Waffen
nicht zum wenigsten die Stellung des deutschen Briickenbaus in der Welt er-
fochten haben.
L,iteratur: F. Bleich, G. Chr. M. Zum 70. Geburtstage. — Der Eisenbau, 1913, S. 155.
Dresden. Kurt Beyer.
Meyer (aus Speyer), Wilhelm, Philologe, * am 1. April 1845 in Speyer,
t am 9. Marz 1917 in Gottingen. — Wilhelm M. ist als der Sohn kleiner Hand-
werksleute geboren, die spat geheiratet hatten und deren einziges Kind er blieb.
Er vergaB nie, was er seinen Eltern zu danken hatte, und wollte auch auf der
Hohe des Lebens die schlichte Herkunft nicht verleugnen, wie er denn auf Titel
jeder Art wenig Wert legte: die Doktorwiirde hat dem vierzigjahrigen Biblio-
thekssekretar die philosophische Fakultat der Universitat Erlangen honoris
causa verliehen — den » Geheimen Regierungsrat* schiittelte er mit grimmiger
Energie ab.
Schon auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt Speyer trat M.s Neigung fur
die klassischen Sprachen stark hervor. Eine Empfehlung an L. Urlichs fiihrte
den Abiturienten zu Ostern 1863 zunachst auf die Universitat Wiirzburg, wo
er aber weder die erhoffte auBere noch starkere wissenschaftliche Forderung
fand. Von Ostern 1864 ab hat er in Munchen studiert und hier 1867 mrt dem
Staatsexamen abgeschlossen. Seine Lehrer waren in erster Li nie Spengel und
Halm, von denen er aber weder in der Methode noch in der Stoff wahl seiner
Arbeiten anders als vonibergehend beeinfluBt wurde, so wenig wie spater im
personlichen Verkehr von Christ oder Wolfflin. Dagegen verdankte er vielseitige
Mehrtens. Meyer IO7
Anregungen und zugleich die ersten Stunden heiteren Lebensgenusses einem
Kreise gleichaltriger Freunde, an den er sich stets gern zuriickerinnerte.
Die Studienjahre und die Zeit, die ihnen folgte, waren fur den Mittellosen, der
bald auch die greisen Eltern unterstutzen muBte, hart und entbehrungsreich.
Durch viele Jahre hat er, in Miinchen und auch in Rom, Privatstunden ge-
geben, da sein karges Gehalt nicht ausreichte. Anfangs Hilfslehrer am Maxi-
milians-Gymnasium und vorubergehend in Bayreuth, wurde er im Herbst 1872
aus dem Schuldienst beurlaubt, um Halm bei der Katalogisierung der latei-
nischen Handschriften der Staatsbibliothek dauernd zu helfen. Nachdem dann
seine ersten Arbeitenzur mittellateinischen Philologie (»Waltharius«und »Rade-
win«) erschienen waren und er die Ausgabe der Horazscholien der Porphyrio im
Manuskript abgeschlossen hatte (sie kam 1874 heraus), ging er im Herbst 1873
mit einem Staatsstipendium nach Rom und verblieb im Siiden anderthalb
Jahr, eine gewaltige Arbeit von Abschriften und Kollationen bewaltigend.
Dann erreichte er im Friihjahr 1875 sein Ziel, eine feste Anstellung an der
Miinchener Bibliothek ; und er ist der Anstalt, die er seit langem liebte, treu
geblieben bei nur bescheidenen Fortschritten und Aufbesserungen, auch als inn
PreuBen 1876 fur die Greifswalder Bibliothek, 1885 fiir die philosophische
Fakultat von Kiel zu gewinnen suchte. Ein Jahr spater folgte er dann doch
einem Rufe an die Universitat Gottingen, der in ehrenvollster Form an ihn
erging, nachdem Ulrich v. Wilamowitz die Zuweisung eines philologischen Lehr-
stuhles an einen Mann von der Bedeutung Wilhelm M.s als eine Ehrensache
erklart hatte. — Seit 1877 war er Mitglied der Kgl. Bayerischen Akademie,
1892 wurde er auch in die Gesellschaft der Wissenschaften zu Gottingen
gewahlt.
Nicht alle Hoffnungen hat der Lehrer erfullt, die der Gelehrte geweckt hatte.
Wilhelm M. sehnte sich vom Katheder und aus dem philologischen Seminar, die
ihm fremd gebliebene und lastig bleibende Pflichten aufburdeten, hinweg zu
seinen geliebten Manuskripten. Er war sich mit Stolz bewuBt, fiir die Ordnung
der Handschriftenbestande der Miinchener Bibliothek das Beste geleistet und
dabei der Wissenschaft eine Fiille wertvollen Materials erschlossen zu haben ;
und so unterbreitete er dem Kultusministerium auf Althoffs Aufforderung einen
umf assenden Plan zur Bearbeitung der Handschriften im preuBischen Staate und
wurde 1889 daftir beurlaubt. Bis zum Jahre 1894 hat M. den dreibandigen
Katalog der Gottinger Handschriften fertig gestellt: ein Muster von Sorgfalt
und gleichmaBiger Ftirsorge fiir die verschiedenartigsten Bestande. Aber das
Unternehmen erschien Althof f in dieser Form zu umstandlich und kostspielig ;
so trat M. im Jahre 1895 zuriick und nahm seine Lehrtatigkeit an der Univer-
sitat wieder auf : mit der Erweiterung seines Lehrauf trages auf die lateinische
Sprache und Literatur des Mittelalters. Wie es M. selbst auffaBte, war es viel
mehr eine Einschrankung : denn in den ihm noch beschiedenen 20 Jahren hat
er sich fast ganz auf diese Seite seiner Lehrtatigkeit beschrankt und daneben
nur mit Eifer und Erfolg die Palaographie gepflegt, fiir die er auch durch selbst-
losen Ausbau des diplomatischen Apparats der Universitat sorgte.
Innerhalb des Mittellateins beschrankte er sich in der Hauptsache auf die
Dichter: von Venantius Fortunatus bis auf die Sanger und Dramatiker des
12. und 13. Jahrhunderts. Er war durchdrungen vom Wert und der Wichtigkeit
dieser Literatur und suchte die stets nur kleine Schar seiner Schiiler, die er wie
io8 1917
ein Vater liebte, mit warmem Eifer von dem Reiz ihres Studiums zu iiberzeugen.
Aber er konnte das nicht anders als indem er sie in seine eigene Arbeit ein-
fiihrte, er stellte ihnen keine Probleme, die er nicht selbst loste, iiberlieB ihnen
keine Aufgaben, die er nicht zuvor zu den seinen gemacht hatte. Dieser herzens-
giitige und stets hilfsbereite Mensch hat doch kaum je einen Fund aus der Hand
gegeben, der seinera Gliick und Geschick zugef alien war. Und so hinterlaBt er
auf einem Felde, wo es noch so unendlich viel zu tun gibt, keine Schule, wie sie
sein weitblickender Freund Ludwig Traube sichtbar geschaffen hat. M. fuhrte
die Studenten auf den Bahnen, die er selbst beschritten hatte, aber er erzog sie
nicht zu seinen Mitarbeitern und Nachfolgern.
M.s literarische Produktion ist ebenso vielseitig wie umf angreich : sie um-
faflt annahernd hundert selbstandige Publikationen und groBere Aufsatze.
Schnitzel hat er nicht publiziert, Rezensionen grundsatzlich niemals geschrie-
ben: nur zweimal hat er in eigener Sache (gegen Havet und Milchsack) die
Schranken der Gott. Gel. Anzeigen betreten. Immer deutlicher tritt dabei
zweierlei zutage : die durch die Munchener Bibliotheksschatze geweckte Freude
am Ungedruckten (die ihn aber niemals Wertloses uberschatzen lieB!) und das
fruh lebendige und bis ans Lebensende festgehaltene Interesse an Fragen der
Metrik und Rythmik. Die Prosa sowohl des Altertums wie des Mittelalters
interessiert ihn nur von seiten des Rythmus, insbesondere des rythmischen
Satzschlusses, und hierf iir freilich verdankt man ihm die wertvollsten Beobach-
tungen, die er vollig unabhangig von dem Franzosen Havet gefunden hat.
M. war unendlich fleiBig, aber er hat sich friihzeitig gegen aufgetragene
Arbeit gewehrt und die von ihm allzufriih ubernommenen Verpflichtungen
hinausgeschoben oder abgeschiittelt, wie die Ausgaben des Prokop, des Cas-
siodor oder des Placidus. Aber leider lieB er sich auch von eigenen groBeren
Editionen, die er bestimmt in Aussicht gestellt hatte, immer wieder durch neue
Funde und Interessen abdrangen: so ist er zu der kritischen Ausgabe der
Carmina Burana, die wir seit den ebenso durch neue Funde wie durch ein-
dringende Kritik bedeutungsvollen »Fragmenta Burana « M.s in der Festschrift
der Gottinger Gesellschaft der Wissenschaften (1901) erhofften, nicht mehr
gelangt.
Den Ausgangspunkt fur M.s metrische Arbeiten haben unzweifelhaft die
mittellateinischen Studien (seit 1872) gebildet, aber ihre Hohenleistungen
kamen ein Jahrzehnt spate r auch der klassischen Philologie zugute, die Schriften
»Uber die Beobachtung des Wortakzents in der altlateinischen Poesie« (1884)
und »Zur Geschichte des griechischen und lateinischen Hexameters « (1884).
Gerade der groBe Zusammenhang seiner metrischen Untersuchungen war es,
der M. zur Erkenntnis der Grundgesetze fur die Bildung der jambischen und
trochaischen Metra fuhrte und ihn vor allem eine wesentlich neue Anschauung
von der Natur des romischen Dialogverses begriinden lieB. Und ebenso hat er
fur den Hexameter der alexandrinischen Griechen wie der Romer die wich-
tigsten Feststellungen getroffen: die drei Hauptgesetze fur den SchluB des
Hexameters tragen jetzt Wilhelms M.s Namen.
Er selbst legte den groBten Wert auf diejenigen Arbeiten, welche er im Jahre
1905 in den » Gesammelten Abhandlungen zur mittellateinischen Rythmik «
(2Bde.) vereinigte. An die Spitze hat er hier die Arbeit »t)ber Ursprung und
Bliite der mittellateinischen Dichtungsf ormen « (aus den »Fragmenta Burana <c
Meyer IO9
1901) gestellt, weil er selbst die Empfindung haben mochte, daB sie mit ihrer
inneren Warme am besten geeignet sei, fur die junge Wissenschaft zu werben,
der er selbst mit stets noch wachsender Liebe diente. Mit den Ausgaben von
Radewins »Theophilus« (1873), dem »Ludus de Antichristo* (1882) und den
*Planctus« des Abaelard (1885. 1890) verbindet sich ein an neuen Erkenntnissen
reicher Uberblick iiber die verschiedensten Formen der Metrik und Rythmik
des 11. und 12. Jahrhunderts. Weiter zuriick greift der zweite Band: »Anfang
und Ursprung der lateinischen und griechischen rythmischen Dichtung« (1885) ;
»Der akzentuierte SatzschluB in der griechischen Prosa vom 4. bis 16. Jahr-
hunderU (1891); »Die rythmische lateinische Prosa« (1893); woran sich dann
die Abhandlungen iiber byzantinische Strophik (1896), den Ursprung der Mo-
tetten (1898); »Ein Kapitel spatester Metrik « (trochaische Septenare, metrisch-
rhythmische Senare 1903) ; ein wenig gliicklicher Versuch, die Alliteration
den Germanen abzustreiten (1909) und schlieBlich ein knapper, meisterhafter
Uberblick iiber »Liturgie, Kunst und Dichtung im Mittelalter « (1903) reihen. —
Daran haben sich in M.s letztem Jahrzehnt noch weitere Arbeiten ange-
schlossen, die (hoffentlich bald) einen dritten Band fiillen werden; als die
wichtigsten seien genannt: » Lateinische Rythmik und byzantinische Strophik «
(1908), »Die mozarabische Liturgie« (1914) ; » Die Verskunst der Iren in ryth-
mischen lateinischen Gedichten« (1916). Danebenher geht eine Fiille von
groBeren und kleineren Textpublikationen, aus denen nur berausgehoben
seien: »Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus« (1901), »Die Oxforder
Gedichte des Primas« (1907); »Die Arundel - Sammlung mittellateinischer
Lieder« (1908); »Die Preces der mozarabischen Liturgies (1914).
Aus M.s palaographischer Unterrichtstatigkeit erwuchs die umfangreiche
Arbeit iiber »Die Buchstabenverbindungen der sog. gotischen Schrift« (1897)
und aus weiterem Interesse ahnlicher Art »Henricus Stephanus iiber die Regii
Typi Graeci« (1902).
Was M. dariiber hinaus veroffentlicht hat, ist hochst mannigfaltiger Natur
und schwer unter eine andere Einheit als die des Bibliothekars und gliicklichen
Finders zu bringen : M. laBt sich in dieser Beziehung nur mit seinem Miinchener
Vorganger Johann Andreas Schmeller oder mit seinem groBen Wolfenbiitteler
Kollegen Lessing vergleichen. Seit er nach seinem friihen Eintritt in die Baye-
rische Akademie die Festrede iiber Calderons Sibylle des Orients gehalten (1879)
und gleich darauf die Gratulationsschrift zum Jubilaum des deutschen Archa-
ologischen Instituts (»Zwei antike Elfenbeintafeln der K. Staatsbibliothek «)
verfaBt hat, hat er nicht aufgehort, die gelehrte Welt mit mehr oder weniger
wertvollen Funden zu iiberraschen, die er stets trefflich auszuwerten und
lehrreich zu erlautern verstand: Rohmaterial hat er nie herausgegeben, aber
auch nur zogernd denen ausgeliefert, in deren Hand er es am besten auf-
gehoben wuBte. Solche Funde bringen die »Vita Adae et Evae« (1879), »Nurn-
berger Faustgeschichten« (1895), »t)ber Lauterbachs und Aurifabers Samm-
lungen der Tischreden Luthers « (1896), »Die Spaltung des Patriarchats Aqui-
leja« (1898), »Die Legende des hi. Albanus« (1904) und viele kleinere Arbeiten.
Uberall zeigt er sichere Orientierung, obwohl er keineswegs immer aus dem
paraten Wissen eines Polyhistors schopft, aber kaum je hat er sich ad hoc die
eigene Belehrung verschafft, ohne zugleich andere belehren zu konnen. Alle
Dokumente der Literatur und Kunst, der Buch-, Musik- und Kirchengeschichte,
no 1917
die ihm Findergliick und Findergabe zufiihren, versteht er nicht nur histo-
risch einzuordnen, sondern auch in ihrem Eigenwert zu erfassen und zu charak-
terisieren, und iiberall wo es sich um literarische Individualitaten und kunst-
lerische Werte handelt, bekundet er ein feines, einfiihlendes Verstandnis. Vor
Paul v. Winterfeld, der selbst ein Dichter, noch iiber ihn hinauswuchs, hat uns
kein Gelehrter die lateinischen Dichter des Mittelalters so als Personlichkeiten
und schaffende Kiinstler verstehen gelehrt wie Wilhelm M.f dessen Erfassung
des Waltharius-Dichters Ekkhard I (Ztsch. f. d. Alt. 43, 1899) ein Meisterstiick
der Liter aturwissenschaft bleiben wird.
Literatur: Nachr. d. Kgl. Ges. d. Wiss. zu Gottingen 1917, Geschaftl. Mitteilungen,
S. 76 ff. (E. Schroder). — Neue Jahrb. f. d. klass. Altertum etc. 39, 269 ff. (K. Plenio) —
Jahrb. d. Kgl. Bayr. Ak. d. Wiss. 1917, 20 ff. (F. Vollmer). — ZentralbL f. Bibliothek-
wesen 34, 209 — 221 (O. Glauning: Wilhelm M. und die Staatsbibliothek in Miinchen). —
Den Nachlafl Wilhelm M.s, wertvoll besonders durch die zahlreichen Mss.-Photographien,
verwahrt als Geschenk seines Sohnes (erster Ehe) Dr. Rudolf Meyer die Universitats-
bibliothek in Gottingen (vgl. ZentralbL f. Bibliothekwesen 41, 266 f.)f deren alphabetischer
Katalog auch das vollstandigste Verzeichnis der Druckschriften bietet. Soweit diese nicht
selbstandig erschienen sind, finden sie sich fast samtlich in den Sitzungsberichten und Ab-
handlungen der Bayerischen Akademie (seit 1873) un^ m den Abhandlungen, Nachrichten
und Anzeigen der Gottinger Gesellschaft der Wissenschaften (bis 1893); dariiber hinaus
kommen nur noch die Zeitschrift f. deutsches Altertum (Bd. 43 und 50) und die Fest-
schriften fiir K.'Hofmann (1890) und P. Rajna (191 1) in Betracht.
Gottingen. Edward Schroder.
Neumann, Karl Johannes, o. Professor der alten Geschichte an der Universitat
StraBburg i. E.,^* am 9. September 1857! in Glogowo bei Krotoschin, f am
12. Oktober 191 7 in Miinchen. — Da in Glogowo, wo N.s Vater ein Landgut
bewirtschaftete, keine hohere Schule vorhanden war, wurde Karl N. mitfg Jahren
auf das Gymnasium in Krotoschin gebracht. Er lebte dort im Hause seiner
GroBmutter, einer hervorragend begabten Frau, die die griechische Sprache be-
herrschte und mit ihrem Enkel die Klassiker in der Ursprache las. Unzweif el-
haft hat sie auf N.s Jugend und seine Bildung einen groflen EinfluB ausgeiibt,
Nachdem dieser am 8. Februar 1875 das Reifezeugnis in Krotoschin erworben
hatte, bezog er zunachst die Universitat Leipzig, wo wir ihn vom Sommer-
semester 1875 bis zum Wintersemester 1877/78 als Studierenden der Philologie
inskribiert finden. Bereits in dieser Zeit hat er Anregungen erfahren, die in der
Folge die wichtigsten seines Lebens werden sollten. Zwar lag es in dem nor-
malen Gang seines Studiums begriindet, daB er bei den Philologen Ludwig
Lange und Friedrich Ritschl horte. Aber von diesen beiden hatte Lange, dem
N. in Bursians biographischem Jahrbuch 1886, S. 31 — 61 einen Nekrolog
widmete, in immer starkerem Mai3e die sogenannten Realien zu behandeln be-
gonnen, und es ist bezeichnend, daB sich N., in welchem ein starkes historisches
Interesse vorhanden war, von ihm mehr angezogen f unite, als von dem reinen
Philologen Ritschl. Noch wichtiger aber sollte seine Verbindung mit dem
jugendlichen a. o. Professor der Kirchengeschichte an der Universitat Leipzig,
Adolf Harnack, werden; denn auf seinen EinfluB wird man es zuriickfuhren
durfen, wenn im wissenschaftlichen Denken N.s kein Problem eine solche Be-
deutung gewinnen sollte, wie die Frage nach dem Verhaltnis des romischen
Kaisertums zur christlichen Kirche. Bereits im Jahre 1877 bemiiht sich der im
Meyer. Neumann III
5. Semester stehende Student um Kyrillhandschriften fur die von ihm geplante
Ausgabe der Schrift Kaiser Julians gegen die Christen. Im AnschluB an die
Leipziger Studentenzeit ist er Ostern 1878 zum Studium einer weiteren Kyrill-
handschrift nach Venedig gereist. Von dort aber wandte er sich zur Fort-
setzung seines Studiums nach Tubingen, wo er vom Sommersemester 1878 bis
zum Wintersemester 1879/80 verblieb und in Alfred v. Gutschmid denjenigen Ge-
lehrten fand, der neben Ludwig Lange und Adolf Harnack den nachhaltigsten
EinfluB auf ihn ausiibte und ihn wohl bestimmte, das Studium der alten Ge-
schichte als Lebensberuf zu wahlen. Vor allem hat Gutschmid den Horizont des
jungen Studenten geweitet und ihn iiber das griechisch-romische Gebiet hinaus
in den spatantiken Orient eingef iihrt ; um mit Erf olg diese Studien durchf iihren
zu konnen, studierte er bei dem Theologen Franz v. Himpel die armenische
Sprache und Literatur. Auch dem feinsinnigen Erwin Rohde hat N. von seiner
Tubinger Zeit ein dankbares Andenken gewahrt und dessen Arbeiten zur grie-
chischen Chronographie als Muster methodischer Forschung hingestellt.
Nach Beendigung der Tubinger Studienzeit wurde N. am 14. Marz 1880 in
Leipzig zum Dr. phil. auf Grund seiner Dissertation : Prolegomena in Juliani
imperatoris libros quibus impugnavit Christianos promoviert und trat in den
Dienst der Universitatsbibliothek Halle ein, wo er im Sommersemester 1881
zum 1. Amanuensis aufstieg. Nur wenig spater erfolgte seine Zulassung als
Privatdozent in der philosophischen Fakultat Halle, vor der er am 24. Oktober
1 88 1 die offentliche Antrittsvorlesung iiber das Thema hielt »Der literarische
Kampf des Heidentums gegen das Christentum*. Die Aufmerksamkeit der ge-
lehxten Welt wurde sehr bald auf den jugendlichen Forscher gelenkt ; bereits
im Jahre 1884 erfolgte seine Berufung nach StraBburg, wo er zunachst als
a. o. Professor, sodann vom 9. April 1890 als ordentlicher Professor und Direk-
tor des Instituts fur Altertumswissenschaft wirkte. Am 19. November 1909
wurde er zur Zeit seines Rektorats Ehrendoktor von Briissel.
Nicht die auBeren Daten sind es, welche bei der Betrachtung eines Gelehrten-
lebens in den Mittelpunkt geriickt werden miissen ; den Vorrang hat die geistige
Arbeit zu beanspruchen, wie sie sich in Schrift und Lehre dokumentiert. Dabei
durfen wir eine systematische Gruppierung des Stoffes vornehmen, da N. im
wesentlichen in den Bahnen, die er anfanglich eingeschlagen hatte, verblieb.
Als dasjenige Gebiet, auf welchem seine groBten Leistungen liegen, muB un-
zweifelhaft die Frage des Verhaltnisses von Staat und Kirche wahrend der
romischen Kaiserzeit bezeichnet werden. Ihm gilt bereits das Thema der Disser-
tation, welche in erweiterter Form unter dem Titel Juliani imperatoris librorum
contra Christianos quae super sunt collegit recensuit prolegomenis instruxit C.J.
Neumann Lipsiae 1880 erschien und mit Recht des Verfassers Namen zu Ehren
brachte. Kaiser Julians Schrift gegen die Christen oder, wie sie wohl richtiger
heiBt, gegen die Galilaer, ist zuerst literarisch bekampft, spater der Vernichtung
anheimgegeben worden. Wer sie wieder erstehen lassen will, hat daher die
schwierige Aufgabe zu erfiillen, aus der Argumentation der Gegner, d. h. vor
allem des Kyrill von Alexandrien, den Gedankengang der Schrift wiederzu-
gewinnen. N. hat diese Aufgabe in geradezu vorbildlicher Weise gelost, aber
seinen Blick zugleich auf weitere Zusammenhange gelenkt. Es versteht sich,
daB die Argumentation der Christenbekampfer vielfach ubereinstimmte, und
so war es ein richtiger Gedanke, samtliche Christenbekampfer in einer Samm-
112 1917
lung zu vereinigen. N. hat diesem Gedanken dadurch einen auBeren Rahmenge-
geben, daB er seine Julian-Ausgabe als 3. Band einer Schriftenfolge aufgefaBt
wissen wollte, welche als Ganzes den Titel trug: Scriptorum Graecorum qui
Christianam impugnaverunt religionem quae super sunt, und auBer Julian vor
allem den Celsus, Porphyrius und Hierokles enthalten sollte. Zur Ausgestaltung
dieses Werkes sollte es allerdings nicht kommen, wie iiberhaupt N.s weitaus-
schauenden Planen vielfach die Verwirklichung versagt blieb. Dies gilt auch
von dem Werke, dem er den Titel gab »Der romische Staat und die allgemeine
Kirche bis auf Diocletian «, und dessen erster Band im Jahre 1890 erschien, bis
Philippus Arabs reichend. Dieses Werk zeigt N. auf der vollen Hohe seiner
wissenschaftlichen und schriftstellerischen Leistungsf ahigkeit ; durch die Jahr-
hunderte hindurch begleitet er die Fiille der Probleme, welche zu einer Kolli-
sion zwischen der sich bildenden Kirche und dem festgefugten Reiche fiihren
muBten. GewiB ist dies auch von anderer Seite geschehen, aber was N.s Werk
gegeniiber anderen Darstellungen charakterisiert, ist die Tatsache, daB es den
Staat und die Kirche auf Grund eigener Forschung in gleicher Weise beriick-
sichtigt. Jede Einseitigkeit ist dadurch vermieden, und die Darstellung auch
stilistisch auf eine Hohe gebracht, aus der man die Sorgfalt erschlieBen kann,
mit der der Verfasser an seinem Texte feilte, der gewiB nicht leicht zu lesen ist,
aber dem aufmerksamen Leser einen tiefen GenuB bereitet. Bereits in dieser
Schrift hat N. eine langere Betrachtung dem Bischof Hippolytos von Rom ge-
widmet; als sodann die Hippolytos- Ausgabe der Berliner Akademie im Jahre
1897 erschien, verwertete er dieses Material zu einer Monographic »Hippo-
lytus von Rom in seiner Stellung zu Staat und Welt «, deren erste Abteilung,
9 Bogen umfassend, im Jahre 1902 erschien. Auch hier blieb die Fortsetzung
aus. Was aber N. gab, war ein wiederum auf voller Beherrschung der christ-
lichen Literatur und der Kaisergeschichte gestiitzter, historisch orientierter
Kommentar zu Hippolytus' Schrift iiber Christus und den Antichristen ; eben
hier griff er an einem Brennpunkt den Gegensatz von Staat und Kirche. Immer-
hin brachte der » Hyppolytus « mehr eine Erganzung und nahere Ausf iihrung zu
dem ersten Band von » Staat und Kirche «, als die so dringend gewiinschte Fort-
f iihrung dieses wichtigen Werkes. Es versteht sich, daB der durch die Schriften-
folge Julian, Staat und Kirche, Hippolytos bezeichnete Problemkreis auch im
akademischen Unterricht N.s stark hervortrat. Vor groBerem Publikum pflegte
er mit starkem Erfolge iiber » Staat und Kirche in der romischen Kaiserzeit« zu
lesen; auch darf in diesem Zusammenhang auf die von ihm beeinfluBte, aus-
gezeichnete Arbeit seines Schiilers Georg Mau, die Religionsphilosophie Kaiser
Julians (1907) hingewiesen werden.
Wenn N. auf diesem Gebiete den Anregungen nachging, die Harnack ihm
gegeben hatte, so war es Alfred v. Gutschmid, welcher ihn auf die antike
Lander- und Volkerkunde hingewiesen hatte. N.s eigene literarische Tatigkeit
ist hier allerdings weniger reich, aber die Arbeiten seiner Schiiler zeugen auch
hier fur die von ihm ausgehenden Anregungen. N. selbst hatte sich in Halle mit
einer Arbeit habilitiert, die durch einen Nachtrag bereichert in den Jahrbiicheru
fur klassische Philologie Suppl. XIII, 1884, S. 322 — 354 unter dem Titel
»Strabons Landeskunde von Kaukasien, eine Quellenuntersuchung« wiederholt
wurde. N. sah in dieser Schrift, die er nicht ohne ein inneres Widerstreben er-
scheinen lieB (vgl. S. 351), nur eine Abschlagszahlung ; denn er war in der
Neumann
113
Priifung des wichtigsten erhaltenen Werkes aus dem Gebiet der antiken Geo-
graphic bereits weiter vorgeschritten, als auBere Griinde ihn zur Publikation
zwangen. Und doch hat er personlich — von einigen kleineren Beitragen ab-
gesehen — nur noch einmal zu den Fragen der antiken Lander- und Volker-
kunde Stellung genommen, als er in dem Gottinger gelehrten Anzeiger 1887,
S. 275 — 288, Hugo Bergers Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der
Griechen I in einer durchaus originalen und fordernden Besprechung der ge-
lehrten Welt naher brachte. Dagegen haben mehrere seiner Schiller die von ihm
begonnenen Untersuchungen fortgesetzt und dabei zum guten Teil die Ideen
verbreitet, die ihnen N. iibermittelt hatte. Hervorgehoben seien, weil zur Ab-
rundung des Lebenswerks N.s gehorig, die StraBburger Dissertationen von
Wilhelm Fabricius, Theophanes von Mytilene und Quintus Dellius als Quellen
der Geographie des Strabon 1888; P. Bolchert, Aristoteles* Erdkunde von
Asien undLibyen 1908; Ferd. Strenger, Strabons Erdkunde von Libyen 1913.
Ein dritter Fragenkomplex, der N. von seiner Studentenzeit her beschaftigte,
war das romische Staatsrecht. Sein Lehrer Ludwig Lange war nicht allein Ver-
fasser der mehifach aufgelegten romischen Staatsaltertiimer, sondern hatte
auch als Dozent gerade auf diesem Gebiete die groBten Erfolge aufzuweisen.
Freilich war sich N. auch der Schwachen von Ranges wissenschaftlicher Tatig-
keit wohl bewuBt; sie lagen einmal auf dem kritischen Gebiet, insofern Lange
die tlberlieferung der innerpolitischen Geschichte Roms in den ersten Jahr-
hunderten der Republik fur zuverlassiger hielt, als N. anerkennen wollte (vgl.
K. J. Neumann, StraBburger Festschrift zur 46. Philol. Vers. 1901, S. 309ff.),
zum andern aber hat sich N. dem iiberragenden EinfluB von Mommsens ro-
mischem Staatsrecht nicht entzogen und den ungeheuren Fortschritt erkannt,
der an die Stelle der in den Altertumern behandelten Einzelerscheinungen das
logische System des juristischen Aufbaus setzte. Wohl hat er in seinem Beitrag
zu der von Gercke und Norden herausgegebenen Einleitung in die Altertums-
wissenschaft III2 1914, S. 435 — 481 denTitel » Staatsaltertiimer « beibehalten,
in Wahrheit war es jedoch ein AbriB des Staatsrechts, und unter dieser Be-
zeichnung pflegte er seine einschlagigen Vorlesungen zu halten, die zu seinen
FiiBen eine groBe Schar von Juristen und Historiker vereinigten. N. blieb aber
bei dieser Verbindung von Recht und Geschichte nicht stehen, vielmehr be-
trachtete er wohl selbst als das Chrakteristische seiner Leistung die Hinzu-
fiigung der Wirtschaft. Das Studium von G. F. Knapps Werk iiber die Bauern-
befreiung und den Ursprung der Landarbeiter in den alteren Teilen PreuBens
(1887) sowie die Teilnahme an Vorlesungen dieses seines StraBburger Kollegen
gewahrte ihm, wie er selbst auBerte, einen iiberraschenden Einblick in den
Zusammenhang von Wirtschaftsordnung und Verfassung; mit Hilfe des Ge-
dankens der Bauernbefreiung glaubte er die groBen Krisen der altromischen
Geschichte in seiner Rede »Die Grundherrschaft der romischen Republik, die
Bauernbefreiung und die Entstehung des Servianischen Verfassung « (1900) und
das Problem der altspartanischen Geschichte in der Abhandlung »Die Ent-
stehung des spartanischen Staates in der Lykurgischen Verfassung « (»Hist.
Zeitschr.« Bd. 96, 1905) erklaren zu konnen; von gleichen Gedanken ausgehend
hat er in Ullsteins Welt geschichte (1909) bei Behandlung der hellenistischen
Staaten und der romischen Republik den Versuch eines Neuaufbaus der alt-
romischen Geschichte gemacht.
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N. war nicht allein Historiker der alten Geschichte, sondern er kannte, wie
wohl nur wenige, die Geschichte seiner Wissenschaft, wobei er es verstand, sie
in die allgemeine Geistesgeschichte einzufiigen. Bereits der Nachruf auf seinen
I*ehrer Ludwig Lange laBt neben den biographischen Elementen diese weite
Orientierung erkennen ; als Theodor Mommsen gestorben war, verof fentlicht er
in der »Histor. Zeitschrift* Bd. 92, 1904, S. 193 — 238 unter fast vdlligem Ver-
zicht auf biographische Stiicke eine Umschau iiber die Lage der Wissenschaft,
wie sie vor Mommsens Auftreten war und wie sie sich durch Mommsens Werk
gestaltet hatte. SchlieBlich gab ihm seine Rektoratsrede vom 1. Mai 1909,
welche den Titel »Entwicklung und Aufgaben der alten Geschichte trug«, die
Gelegenheit, in den dem Drucke angefiigten Anmerkungen seine weite Belesen-
heit in den Dienst der Aufhellung der > Geschichte der alten Geschichte* zu
stellen. Daran aber war N. gelegen. Sein eigenes Iyebenswerk sollte sich in den
Rahmen der geistigen Entwicklung einftigen, und so suchte und fand er immer
wieder Ankniipfungen an die Gedanken der GroBen im deutschen Geistesleben.
Gerade hierauf beruhte ein guter Teil der Anregungen, die von ihm im person-
lichen Verkehr ausgingen. Seine Vorlesungen pflegte er in freiem Vortrag zu
halten; ohne jede Schwierigkeit floB ihm die miindliche Rede. Wohl fehlte dem
Vortrag nicht eine gewisse Einseitigkeit ; die Probleme, die N. beschaftigten
und deren Skizzierung oben versucht wurde, nahmen ofters einen breiteren
Raum ein, als die Gesamtdisposition der Vorlesungen gestattete, und so kam
es, daB er andererseits iiber wichtige Perioden hinwegeilen muBte. Aber gerade
dadurch pragte er seinen Schulern eine Vorstellung von seiner Forschungsarbeit
ein und lieB sie an ihr teilnehmen ; denn das was er sich in hartem Kampfe er-
arbeitet hatte, hatte schlieBlich auch auBerlich eine feste Form gewonnen, in
der er seine Gedanken mundlich vortrug und schriftlich festhielt. Dem engeren
Schulerkreis der Doktoranden war er ein hingebender Berater. Das Vertrauen
seiner Kollegen berief ihn 1909/10 auf das Rektorat der Universitat StraBburg;
deren Zusammenbruch im Jahre 1918 zu erleben, ist ihm erspart geblieben. Im
Juni 1916 ist N. schwer erkrankt, am 12. Oktober 1917 befreite ihn der Tod
von langem Siechtum. Die Beisetzung erfolgte auf dem Friedhof in Baden-
Baden, wo er neben einer groBeren Zahl seiner StraBburger Kollegen ruht. N.
war seit 1885 mit der Tochter des Apothekers Dr. Ernst Biltz in Erfurt ver-
heiratet. Seine Schrift iiber Hippolytus hat er ihm gewidmet.
L,iteratur: Die im Obigen zitierten Schriften K. J.N.s. — Das in den Akten der
philosophischen Fakultat zu Halle befindliche curriculum vitae von 1881. — Briefliche
Mitteilungen der Witwe N.s. — Personliche Krinnerungen des Verfassers aus der Stu-
dentenzeit (1898 — 1903) und der Tatigkeit an der Seite N.s (1909 — 1912). — Werner Schur,
K. J. N. in Bursians Jahresbericht f. Altertumswissenschaft Bd. 214, 1927.
GieBen. Richard Laqueur.
Niemann, Albert, Heldentenor, * am 15. Januar 1831 in Erxleben bei Magde-
burg, | am I3- Januar 1917 in Berlin. — Als Sohn eines wohlhabenden
Anwesenbesitzers, erhielt er in Magdeburg und Aschersleben Schulunterricht
bis zum Einjahrig-Freiwilligen-Zeugnis, um zum technischen Beruf in eine
Maschinenfabrik einzutreten. Wie von ungefahr kam er im Alter von 18 Jahren
zum Theater: Direktor Martini, der in Dessau und Helmstedt spielte, warb
ihn fur stumme und kleine Rollen, zunachst ohne I/)hn. In Halberstadt be-
Neumann. Niemann n «c
trat er zuerst die Biihne. In Dessau entdeckte der Komponist Friedrich
Schneider N.s stimmliche Begabung; seitdem wurde er fur die Oper im Chor
verwendet. An den verschiedensten Theatern in Stettin, Worms, Halle, Darm-
stadt, Berlin, Konigsberg usw. bekam er kleine Rollen. Der Berliner Intendant
Botho v. Hulsen lieB ihn durch Mantius unterrichten. Bei seinem ersten Auf-
treten als Sever in Bellinis Norma im August 1853 wurde er von der Berliner
Kritik abgelehnt. Am 25. Juli 1854 sang ¥• *n Insterburg unter dtirftigsten
auBeren Umstanden den Tannhauser mit der Erkenntnis: »Wird eine sehr
gute Rolle von mir werden.* Am 31. August 1854 ftihrte er sich als Max im
Freischiitz in Hannover ein, wo er seine Lehr- und Meisterjahre bis Mai 1866
erlebte. In klassischen und italienischen Opern ernster und heiterer Art iibte
er seine Stimme, fur deren Ausbildung er im Juni 1855 die Unterweisung des
Sangers Duprez und das anfeuernde Beispiel des Heldentenors Roger in Paris
genoB. Vor allem aber vertiefte er seine dramatischen Helden: Rienzi, Tann-
hauser, Lohengrin, die er bei Gastspielen auf den groBen deutschen Theatern
so vorziiglich darstellte, daB er bald als der groBte und unvergleichliche
Wagner-Sanger gait. Nach dem Kriege von 1866 kam er ans Berliner Hof-
theater, wo er nach LiUi Lehmanns Worten »der fiihrende Geist, nach dem
sich alles richtete«, wurde. In der Meistersinger-Auffuhrung vom April 1870
stand er als Walter Stolzing im Vordergrund. Im Marz 1876 sang er Tristan,
nach Wagners eigenem Ausspruch »eine fabelhafte Tat«, trotz erheblicher
Striche und Zugestandnisse aller Art, die in der Berliner Hofoper unvermeid-
lich waren. Am 8. September 1888 stand er zum letzten Male als Tristan am
Steuer, urn bald darauf klanglos von der Biihne zurtickzutreten. Vierzig Jahre
seines Lebens hatte er der Kunst geweiht, einmal war er zu einem Gastspiel
nach Amerika gereist; still und vornehm zog er sich, ohne eine Abschieds-
vorstellung anzukiindigen, ins hausliche Leben zuriick. In seinem schonen
Heim in der AhornstraBe verbrachte er seine letzten Lebensjahre. N. war
zweimal verheiratet: zuerst mit der gefeierten Schauspielerin Marie Seebach
(1859) *n Hannover, von der er sich 1867 trennte, in zweiter Ehe mit Hedwig
Raabe (1870).
Albert N. besafi die Macht bezwingender Personlichkeit. Seine Gestalt hatte
»etwas Altgermanisches: als wenn sich aus grauer Vorzeit durch Geheimnis
des Blutes ein SproB in eine kleine Gegenwart verirrt hatte, die ihn furchtsam
bewundert, so steht er da mit dieser unverwustlichen Korperkraft, diesem
unbezahmbaren Hang zur Jagd und Fischerei, zum Spielen und Zechen, zum
Durchsetzen seines Willens und, wenn notig, zum Dreinschlagen «. Den Mittel-
punkt seines Lebens und Schaffens bilden die Beziehungen zu Richard Wagner,
der ihm 1857 schrieb: » Alles, was ich von Ihnen hore, bringt mir den Glauben
bei, daB ich in Ihnen den mit Bangen gesuchten Sanger meines Siegfried ge-
funden habe.« Im Juli 1858 erfolgte die personliche Bekanntschaft, ein Be-
such N.s in Zurich, beim Tannhauser in Paris 1860/61 das erste Zusammen-
wirken Wagners und N.s, iiber den der Meister noch am 12. Februar 1861
nach Zurich berichtete: »Er ist durch weg erhaben, ein groBer Kiinstler der
allerseltensten Art.« I^eider aber erlag N. den feindseligen Einfliissen und
verlor das Vertrauen auf den Sieg des Werkes; er schrieb am Tage nach der
Pariser Auffuhrung, am 14. Marz 1861 : »Der Tannhauser ist buchstablich aus-
gezischt, ausgepfiffen und schliefilich ausgelacht worden; Gott sei Dank hat
n6 1917
der Darsteller des Tannhauser seine kiinstlerische Ehre gerettet. « Die Pariser
Presse erwahnte mit vielsagender Wendung, Meyerbeer habe N. die Tenor-
rolle im Propheten zugedacht! So war das Einvernehmen zwischen Wagner
und N. auf Jahre hinaus zerstort. In Ludwig Schnorr von Carolsfeld fand
Wagner vollen Ersatz, aber nur fur kurze Zeit, da der Sanger bald nach den
Miinchener Tristan- Auf fuhrungen im Juli 1865 starb. Als die Zeit der Bay-
reuther Festspiele herannahte, bezwang Wagner seinen Groll und schrieb an
N., der 1872 bei der Grundsteinlegung das Tenorsolo in Beethovens 9. Sinfonie
sang. Auf die Aufforderung zur Teilnahme an den Spielen schrieb N. im
Marz 1874: »Hoher Meister! Fur Ihre groBe Sache stehe ich stets und stiind-
lich mit Leib und Seele zur Verf tigung. Ich werde mit voller Selbstverleugnung
nur der Sache zu dienen suchen.« Freilich war er dem jungen Siegfried, fur
den er einst ausersehen wurde, entwachsen. Wagner erkor ihn zum Darsteller
des Siegmund, fiir den er wie geschaffen erschien. Im Riickblick auf die Fest-
spiele 1876 nennt Wagner N. »das eigentliche, Enthusiasmus treibende Element
unseres Vereins«, das » Genie der Darstellung, wogegen alles iibrige nur durch
FleiJ3 und edlen Willen sich beteiligen konnte«. Auch nach seinem Riicktritt
von der Biihne und nach des Meisters Tode hielt N. getreu zu Bayreuth und
setzte sich mit dem Ansehen seines Namens fiir den Parsifal-Schutz ein. Zu
den Festspielen kam er wiederholt als freudig begriiBter Ehrengast.
N. gehort zu den seltenen, wahrhaft mitschopferischen Kunstgenossen Wag-
ners, die nicht nur Anregungen empfingen, sondern auch gaben. Die Harten
und Schwachen verschwinden vor der groBen Personlichkeit, die nicht nach
DurchschnittsmaB bemessen werden darf. Seine kiinstlerische Entwicklung
fallt in eine Zeit, wo der Vortragsstil fiir das Drama Wagners erst gesucht
wurde. Aus eigener Erfindung und Gestaltungskraft gab er ein Beispiel, das
auBerlicher Nachahmung entriickt ist. Er nahm in seine Darstellung auf, was
seiner Art verwandt war. Er hatte keine Vorbilder, denen er folgen konnte,
er trug die AusmaBe und Gesetze des kiinstlerischen Schaffens, das er gefuhls-
maBig austibte, in sich. DaB er sich den heute fiir den Wagner-Stil giiltigen
Anforderungen hatte unterwerfen konnen, ist zweifelhaft. Auch war seine ge-
sangliche Leistungsfahigkeit beschrankt: auBer Siegmund sang er keine Rolle
strichlos. In den Jahren seines Aufstiegs (1861 — 1872) muBte er der unmittel-
baren personlichen Anleitung Wagners entbehren, weil er sein Vertrauen ver-
loren hatte: das war die schlimmste Folge des Pariser Zerwtirfnisses. Auch
Schnorr traute sich anf angs die L,6sung der von Wagner gestellten Forderungen
nicht zu, bis er im personlichen Verkehr eines Besseren belehrt wurde. Frau
Wagner schrieb im Januar 1905: »Sie sind der eigentliche Recke unserer Fest-
spiele 1876 gewesen ; niemals kommt Siegmund auf die Biihne, ohne daB Ihrer
mit Bewunderung fiir Ihre Leistung wie fiir Ihre begeisternde Haltung ge-
dacht wird. « N. bleibt auch im Schicksal seiner Kiinstlerlaufbahn Siegmund :
»in wildem Leiden erwuchs er sich selbst, mein Schutz schirmte ihn nie«. So
steht er als der groBte deutsche Heldensanger des 19. Jahrhunderts neben
Schnorr v. Carolsfeld : Tannhauser, Tristan, Siegmund !
Literatur: Richard Sternfeld, Albert N., Berlin 1904 (Das Theater, Band 4). —
R. Wagner und A. N., ein Gedenkbuch von W. Altmann, nebst einer Charakteristik N.s von
Dr. Gottfried Niemann (seinem Sohn), Berlin 1924; darin auch N.sTagebuch 1849 — 1855
Rostock. Wolfgang Golther.
Niemann. Olde jj 7
Olde, Hans (Johann Wilhelm), Maler und Graphiker, * am 27. April 1855
in Suderau (Holstein), f am 25. Oktober 1917 in Kassel. — O. entstammte
einem alten Marschenbauerageschlecht und war bestimmt, den vaterlichen
Stammsitz spater zu ubernehmen. Obgleich sich in dem Knaben fruhzeitig
der kiinstlerische Sinn regte, wurde O. nach dem Besuch der Schulen zu Horn,
Altona und Kiel — der Tradition seiner Familie gemafi — zunachst Landwirt
und iiberaahm als Verwalter ein Gut. Erst mit 24 Jahren entschloB er sich
fur die Laufbahn des Malers, studierte 1879 bis x^^4 bei Ludwig v. Loefftz
an der Miinchener Akademie und bildete sich 1886/87 in Paris an der Acad^mie
Julian weiter. Nach Deutschland zuriickgekehrt, lebte er zunachst bis 1892
in Miinchen, dann meist auf seinem Gute Seekamp bei Friedrichsort in Hoi-
stein. 1902 wurde er als Leiter der Kunstschule nach Weimar berufen, an
der er bis 1911 wirkte. Im November dieses Jahres erfolgte seine Berufung
zum Direktor der Kunstakademie in Kassel, wo O. bis zu seinem Tode an-
sassig blieb. — Hinsichtlich des Stoffgebietes sehr vielseitig, hat O. das Por-
trat, das Tierfach, die Landschaft, das Genre und das Interieurbild gepflegt.
Seine Hauptbedeutung hat er als Bildnismaler. Er ist einer der geschmack-
vollsten Vertreter des gemaBigten Impressionismus, fiir den ihm der Pariser
Aufenthalt die entscheidenden Anregungen gegeben hat. Die innige Ver-
trautheit des auf eigener Scholle Aufgewachsenen und leidenschaftlichen
Jagers mit der Natur kommt schon in den ersten Arbeiten O.s zum Ausdruck;
aus seinem von Jugend auf gepflegten engen Verhaltnis mit der Natur er-
wuchs ihm geradezu das Wesen seiner Kunst, die kerndeutsch blieb, obgleich
Paris die technische Grundlage vermittelte und namentlich Claude Monet,
bei dem er alles das realisiert fand, was er selbst erstrebte, zweifellos einen be-
deutenden EinfluB auf ihn ausgeiibt hat. Da er bis zuletzt jedes Jahr wahrend
der Sommermonate den Landwirt auf Seekamp machte, so erhielt sein Natur-
gefuhl in regelmaBigen Zeitabstanden eine Fulle immer wieder neuer An-
regungen, die die Gefahr einer mahlichen Verblassung seiner Naturempfindung
ausschlossen. Wie sehr er die freie Natur als den gegebenen Rahmen, die
selbstverstandliche Folie fiir alles Figurliche empfand, ersieht man nicht nur
aus seinen Genrebildern, wie dem liebenswiirdigen, ganz auf Goldblond gestimm-
ten Bildchen des Lubecker Museums, sondern vor allem auch daraus, daJ3 er
seine Portratf iguren mit Vorliebe ins Freie gegen einen landschaftlichen Hinter-
grund stellt ; so hebt sich die charakteristische Gestalt Klaus Groths von dem
kraftigen Griin eines Laubenganges ab ; seinen Liliencron hat er auf eine weiBe
Bank vor dichtem Wald placiert ; ahnlich ist das Arrangement auf dem Bildnis
der Frau Forster-Nietzsche ; die pompose Gestalt der Schriftstellerin Adelheid
v. Schorn laBt er im griinen Seidenkleide die StraBe iiberschreiten. Diese
genremaBige Einkleidung empfindet man nicht etwa als zufalliges Akzesso-
rium, sondern im Sinne einer Steigerung der dekorativen Bildwirkung und
zugleich eines Mittels zur geistigen Charakterisierung der Dargestellten vom
Kiinstler verwendet. Viel weniger gliicklich ist O., wenn er wie in seinen
offiziellen Staatsportraten auf diese liebenswiirdige genremaBige Note zu ver-
zichten genotigt wird; hier wirkt er dann leicht kalt und gelegentlich selbst
akademisch. Wie O.s Bildnisse alle auf eine diskrete, aber nichtsdestoweniger
sehr deutlich sprechende Hervorhebung der individuellen Eigenschaften des
Modells ausgehen, so auch seine von Licht und Luft erfiillten Landschaften,
n8 1917
deren Motive er anfanglich dem Holsteiner- und Thuringerlande, spater
vornehmlich dem Hessenlande entlehnte. — Ohne daB O.s Stil eine besonders
markante Entwicklungslinie aufwiese, ist doch der Ubergang von den Prin-
zipien des Impressionismus zu denen des Neuimpressionismus mit seiner
intensiven Farbigkeit deutlich in seinem Werk zu erkennen, ja in seinen letzten
Lebens jahren hat er sich sogar mit den expressionistischen Problemen aus-
einanderznsetzen versucht, wie einige hessische Stadtebilder aus den Jahren
1915 und 1916 zeigen. Die Hauptleistungen O.s fallen in die Zeit seines Weima-
rer Direktorats. Aus den neunziger Jahren stammen einige bereits ganz plei-
nairistisch aufgefaBte Tierstiicke (holsteinische Weiden), Landschaften und
Interieurs, in denen der Beobachtung der Licht- und L,uftstimmungen ein
besonderes Augenmerk geschenkt ist. In diese vorweimarische Zeit gehoreu
Bilder wie: »Die Schnitter«, von 1893; »Die Diele des Herrenhauses in Wal-
tershof«, von 1894 (Hamburg, Kunsthalle); » Holsteinischer Stier«, von 1896
(Dresden, Gemaldegalerie) ; »Wintersonne«, von 1892 (Berlin, Nationalgalerie).
Auch als Bildnismaler hat sich O. in dieser Friihzeit schon ausgezeichnet,
wie namentlich die Bildnisse der Hamburger Schriftstellerin und Philanthropin
Elise Averdieck, von 1894, und des Dichters Klaus Groth (in ganzer Figur
im Freien dargestellt), von 1899, beide im Besitz der Hamburger Kunsthalle,
beweisen. Aus der Weimarer Zeit stammen dann u. a. das Bildnis der Schwester
Friedrich Nietzsches, der Frau Elisabeth Forster-Nietzsche, das auf der Kiinst-
lerbund-Ausstellung in Weimar 1906 groBes Aufsehen erregte, das auf grau
und rot gestimmte, sehr feine Bildnis seines eigenen Tochterchens im Winter-
mantel und mit Pelzbarett, vor einer Gardine stehend, das hochst vornehme
Bildnis seiner Schwiegermutter, die Bildnisse der Dichter Theodor Storm,
Detlev v. L,iliencron und Gustav Falke, ein lebensgroBes Bildnis der jugend-
lichen Groflherzogin von Sachsen- Weimar, Studien fur ein Bildnis Nietzsches
und die beiden Kniebildnisse der Herzoge von Sachsen- Altenburg und von
Sachsen-Meiningen fur die Universitat Jena. AuBer den schon erwahnten
besitzen folgende offentlichen Sammlungen Bilder O.s: Kaiser-Friedrich-
Museum in Magdeburg (Bildnis des Magdeburger Oberburgermeisters Schnei-
der), die Kunsthalle in Kiel (Kuhe auf der Weide), das Behnsche Haus in
Lubeck (Am Gartentor), die Kunsthalle in Bremen (Bildnis Klaus Groths;
ein drittes Bildnis des Dichters im Museum zu Oldenburg) und das Museum
in Weimar (Ernte). O.s bekannteste Radierungen sind das ergreifende Bildnis
des kranken Friedrich Nietzsche und der markante Profilkopf Klaus Groths,
die beide zuerst in der Kunstzeitschrift »Pan« erschienen. Hervorgehoben
seien ferner die radierten Bildnisse des Admirals von Hollmann, des Dichters
Casar Flaischlen, das geschabte Huftbild des Philosophen Eucken im Armstuhl,
das geschabte Halbfigurbildnis des Anatomen His und das in Schabkunst
und kalter Nadel ausgefuhrte Bildnis der Frau Geheimrat Luise Delbriick.
Auch auf lithographischem Gebiet hat sich O. wiederholt versucht ; so schuf
er in dieser Technik ein groBes Bildnis Elise Averdiecks, das die verehrte
Greisin in ihrem Arbeitszimmer darstellt, und das auf Anregung der Ham-
burger Kunsthalle zum Jubilaum der Lithographie 1897 entstanden ist. Eine
im Kasseler Kunstverein am 1. Mai 1918 eroffnete Gedachtnisausstellung, in
der O.s umfangreicher klinstlerischer NachlaB gezeigt wurde (ca. 65 Bilder
und Studien, dazu viele Bildnisradierungen), lieB die Entwicklung dieses
Olde. Philippovich von Philippsberg no
feinen, liebenswurdigen Kiinstlers gut iibersehen. Die Stadt Kassel erwarb
auf dieser Ausstellung ein sonniges Interieur »Diele in BorgfekU (1899) und
eine Stimmungslandschaft »Reinhardswald« (1914). O.s sympathische auflere
Erscheinung ist uns in einem friihen Selbstbildnis aus der Miinchener Zeit
und in einer Marmorbuste seines Freundes und Landsmannes Adolf Briitt
erhalten. Die Erfullung eines alten Lieblingswunsches, seinen Lebensabend
auf seinem holsteinischen Giitchen zu verleben, sollte ihra nicht zuteil werden;
unerwartet schnell wurde er wenige Tage, nachdem ihn die Nachricht getroffen
hatte, daB sein altester Sohn den Seemannstod fur das Vaterland erlitten hatte,
aus einem arbeitsreichen Leben durch den Tod gerissen. Von den zahlreichen
Ehrungen, die ihm seine Kunst gebracht hat, seien genannt: Silberne Medaille
in Paris, Goldene Medaille in Diisseldorf und Ernennung zum Ehrenmitglied
der Weimarer Hochschule fur bildende Kunst.
Literatur: Fr. Jansa, Deutsche bild. Kiinstler in Wort und Bild, Leipzig*Ji9i2. —
W. Schafer, H. O. (Deutsche Monatshefte 1910 [= Jahrg. 10 der » Rheinlande «] , S. 213
bis 216 (mit 4 Textabbildungen, 1 Rad. und 4 Tondrucktafeln). — G. Gronau, H. O. (Vel-
hagen & Klasings Monatshefte, Jahrg. 34, Bd. I, Januar 1920, S. 514/28. — Kunst und
Kiinstler, XVI (1918) 1 56 (Nekrolog von J. Elias). — Kunstchronik, N. F. XXIX (1917/18)
Sp. 81/84 (G. Gronau). — Nucleus, Neues aus dem alten Weimar (Zeitschrift fur bild.
Kunst. N. F. XIX [1908] in ff., mit 4 Abbildungen).
Leipzig. Hans Vollmer.
Philippovich von Philippsberg, Eugen, o. Professor der Nationalokonomie in
Wien, * am 15. Marz 1858 in Wien, | am 4. Juni 1917 in Wien, — Sohn des
osterreichisch-ungarischen Obersten Nikolaus v. P., entstammt einer stidoster-
reichischen Offiziersfamilie, der auch der Eroberer Bosniens angehorte. E. P.
studierte in Graz, Wien und Berlin, habilitierte sich 1884 in Wien, wurde
1885 nach Freiburg i. B. als aufierordentlicher Professor berufen, wurde dort
1888 ordentlicher Professor, ging 1893 in gleicher Eigenschaft nach Wien, wo
er bis zu seinem Tode lehrte.
Man hat P.s Hauptbedeutung vielfach in dem Versuch erblicken wollen,
zwischen der Grenznutzen- und der historischen Schule zu vermitteln. Ein
genauer Blick iiber seine Arbeiten, in denen auch die Einzelheiten in iiber-
raschend tiefer Weise ausgearbeitet sind, zeigt jedoch, daB diese Ansicht
seinem Wirken unrecht tate. Er kam von der Grenznutzschule her als Lieb-
lingsschuler KarlMengers (s. DBJ. 1921, S. 192 ff.), der ihn hoch iiber Bohm-
Bawerk (s. DBJ. 1914 — 16, S. 3 ff.) und Wieser stellte, und er stand mit
Schmoller (s. unten S. 124 ff.) als zweiter Fiihrer des Vereins fur Sozialpolitik
in guter Fuhlung. Aber er erkannte deutlich den Epigonencharakter beider
Richtungen. Sein innerster Ehrgeiz war, eine Synthese zwischen Adam Smith
und Karl Marx zu versuchen. Viele Ansatze dazu sind in seinem Lehrbuch ent-
halten. Die enzyklopadische Beherrschung des ganzen Materials der national-
okonomischen Wissenschaft gab dem Lehrbuch Bedeutung, erschwerte aber
seine Fortfuhrung. Das Buch iiber die »Bank von England* gilt in England
als die klassische Darstellung des wichtigsten Teils der Geschichte der Noten-
bank. Dem scharfen Angriff , der gegen Grundanschauungen von P. in der be-
riihmten Produktivitatsdebatte des Vereins fiir Sozialpolitik in Wien von Max
Weber (s. unten S. 593 ff.) und Werner Sombart gerichtet wurde, ist nach
120 1917
scheinbarem Erfolge wahrend eines Jahrzehntes die Dauerwirkung versagt
geblieben. Die neueste Entwicklung der Wissenschaft, namentlich auch in
den Vereinigten Staaten, bewegt sich zweifellos in der Richtung, die P. ge-
gangen war.
L»iteratur: Seine Werke sind: Die Bank von England im Dienste der Finanzverwal-
tung des Staates (1885), 2. Aufl. (1914), auch in englischer Sprache. — t)ber Aufgabe
und Methode der politischen Okonomie (1886). — Die direkten Steuern des GroBherzog-
tums Baden (1888). — Der badische Staatshaushalt 1868— 1889 (1889). — Wirtschaft-
licher Fortschritt und Kulturentwicklung (1892). — Grundrifl der politischen Okonomie.
1. Band : Allgemeine Volkswirtschaftslehre (1893), zuletzt von P. bearbeitet 19 14 (7. Aufl.),
derzeit 18., unveranderte Aufl.; 2. Band: Volkswirtschaftspolitik, 1. Teil (1899), seit 1918
bearbeitet von Somary, derzeit 18. Aufl., 2. Teil (1907), seit der 10. Aufl. bearbeitet von
Somary. — Wiener Wohnungsverhaltnisse (1894). — Die Entwicklung der wirtschafts-
politischen Ideen im 19. Jahrhundert (19 10). — Zahlreiche Aufsatze in Fachzeit-
schriften, Schriften des Vereins fiir Sozialpolitik, Archiv, Conrads Jahrbuch, Finanzarchiv,
Jb. f . G. V., Zeitschrift fiir Volkswirtschaft, Revue d'Economie politique, Quarterly Journal,
Mitarbeit am Handworterbuch der Staatswissenschaften und Stengels Worterbuch, Her-
ausgeber der Wiener Staatswissenschaftlichen Studien (mit Bernatzik) und der Zeitschrift
fiir Volkswirtschaft (zusammen mit Bohm-Bawerk und Inama). — P.s Bibliothek wurde
von der Universitat Utrecht angekauft.
Zurich. Felix Somary.
Puttkamer, Jesko Albert Eugen v., Gouverneur a. D., * am 2. Juli 1855 in
Berlin, f am 23. Januar 1917 in Berlin. — Sein Vater war der langjahrige
konservative preuBische Minister des Innern v. P. Jesko v. P. besuchte das
Wilhelms-Gymnasium zu Berlin und das Gymnasium zu Gumbinnen, wo er
im Jahre 1873 das Abiturientenexamen machte. Seiner Militarpflicht geniigte
er als Einjahrig-Freiwilliger beim Schleswig-Holsteinschen Ulanenregiment
Nr. 15 in StraBburg. Er studierte in StraBburg, Leipzig, Freiburg, Breslau
und Konigsberg Jurisprudenz und trat nach abgelegtem 1. Staatsexamen am
1. Mai 1881 als Referendar beim Oberlandesgericht in Konigsberg ein. Vom
1. April 1882 bis Marz 1883 war er beim Kammergericht in Berlin beschaftigt.
Damals entschloB sich v. P., in den Konsulatsdienst einzutreten, und er
wurde zunachst dem Kaiserlichen Konsulat in Chikago zur Beschaftigung
iiberwiesen.
Im April 1884 wurde er zu seiner weiteren Ausbildung im Konsulatsfach
in das Auswartige Amt eingezogen. Wahrend seiner Tatigkeit im Auswartigen
Amt wurden die Schutzgebiete von Togo, Kamerun, Siidwestafrika und Ost-
afrika durch das Reich erworben, und nun meldete sich P. zum Kolonial-
dienst. Im Mai 1885 wurde er dem ersten deutschen Gouverneur von Kamerun,
dem Freiherrn v. Soden, als Kanzler beigegeben. Er war nun in den folgenden
Jahren abwechselnd als Kanzler von Kamerun, stellvertretender Gouverneur
von Kamerun und stellvertretender Kommissar von Togo tatig.
Eine fiir seine ganze koloniale Tatigkeit besonders wichtige Episode war
seine Entsendung nach Lagos. Am 6. August 1888 wurde er mit der interi-
mistischen Leitung des deutschen Konsulats in Lagos betraut. Er hatte hier
nicht nur Gelegenheit, die Methoden der damaligen englischen Kolonial-
verwaltung kennenzulernen, sondern er erhielt auch den Auftrag, sich durch
eine Reise den Niger aufwarts uber die politischen Verhaltnisse im Innern
Nigeriens zu unterrichten. Diese Reise, die er zum groBen Teil unter den da-
Philippovich von Philippsberg. Puttkamer 121
maligen primitiven Verhaltnissen im Kanu machen mufite, brachte ihn auch
mit der englischen Nigerkompagnie in Verbindung, die damals auf Grund
einer Royal Charter den groflten Teil des ostlichen Nigeriens verwaltete und
durch ihr Monopol wirtschaftlich beherrschte.
Nachdem P. im Oktober 1889 wieder mit der Vertretung des Kaiserlichen
Kommissars von Togo betraut worden war, wurde er im Dezember 1891 end-
gultig zum Kommissar, spater zum Landeshauptmann von Togo ernannt.
Als nach dem Dahomey- A uf stand, Ende 1894, Herr v. Zimmerer aus dem
Amte des Gouverneurs von Kamerun ausschied, wurde P. nach Kamerun als
Vertreter des Gouverneurs gesandt. Im August 1895 wurde er endgiiltig zum
Gouverneur von Kamerun ernannt, welches Amt er bis zum Jahre 1907 ver-
waltete, worauf er in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde. 1908 wurde
er pensioniert und war dann nur noch privatim fur die koloniale Sache tatig
als deutscher Vertreter bei einigen franzosischen Kolonialgesellschaften, deren
Gebiet durch das deutsch-franzosische Abkommen vom 4. November 191 1
zum Teil an das Schutzgebiet Kamerun gef alien war.
Als P. im Januar 1895 von dem bisherigen Gouverneur v. Zimmerer die
Verwaltung des Schutzgebietes von Kamerun ubernahm, stand er vor einer
ungewohnlich schwierigen Aufgabe. Das Schutzgebiet war im Anfang der Ent-
wicklung steckengeblieben. Die Ergebnisse der Expeditionen von Zintgraff,
Morgen, Stetten, Ramsay, die bis nach Adamaua vorgedrungen waren, hatten
aus Mangel an Mitteln nicht ausgenutzt werden konnen. Durch den Dahomey-
Aufstand war am Sitz des Gouvernements ein groBer Teil der Gebaude schwer
beschadigt worden. In die Verwaltung war Verwirrung gekommen, die Polizei-
truppe war aufgelost und in eine Schutztruppe umgewandelt worden. Die
Beziehungen der Schutztruppe zum Gouverneur waren unklar. Der Komman-
deur der Schutztruppe, Rittmeister v. Stetten, glaubte von dem Gouverneur
vollstandig unabhangig zu sein und weigerte sich, seine Unterstellung anzu-
erkennen.. Dazu kam ein personliches Moment. Der Kommandeur der Schutz-
truppe, Rittmeister v. Stetten, war der Ansicht, dafi ihm die Nachfolge des
Gouverneurs v. Zimmerer im Auswartigen Amt zugesichert worden sei und
glaubte, dafi P. ihm diese Stellung weggenommen habe. So begann die Tatig-
keit des neuen Gouverneurs mit einem Konflikt mit dem Kommandeur der
Schutztruppe. Trotzdem ist es der Tatkraft und der Geschicklichkeit P.s in
kurzer Zeit gelungen, die Entwicklung des Schutzgebietes in geordnete
Bahnen zu bringen und auch ein ertragliches Verhaltnis zur Schutztruppe
herzustellen.
Seine nachste Aufgabe war, die Verwaltung an der Kiiste neu zu organisieren.
Zu den beiden vorhandenen Bezirksamtern Victoria und Kribi bildete er ein
drittes Bezirksamt, das Bezirksamt der Mitte, damals als Bezirksamt Kamerun,
spater als Bezirksamt Duala bezeichnet.
Um wenigstens den Rest der Ergebnisse der Zintgraffschen Expedition zu
retten, wurde am Barombisee bei Kumba eine neue Station eingerichtet, die
der Gouverneur nach dem hochverdienten Prasidenten der Deutschen Kolonial-
gesellschaft, Herzog Johann Aibrecht zu Mecklenburg (s. unten S. 547 ff.),
Johann-Albrechts-Hohe nannte. Diese Station, die Zivilstation war und in
erster Linie wirtschaftliche Aufgaben hatte, sollte den Einflufi des Gouver-
nements am oberen Mungo sichern und ausdehnen. Dieselbe Aufgabe hatte
122 1917
am Sanaga die Zivilstation Edea bei den Sanagaf alien. Die beiden Stationen
im Siiden Lolodorf und Jaunde wurden zu reinen Militarstationen gemacht
mit der Aufgabe, den Siiden gegen die rauberischen Ngumbas bei Lolodorf
und die kriegerischen Wutes hinter Jaunde zu sichern.
Zu gleicher Zeit wurden die Besitzverhaltnisse an der Kiiste einer eingehen-
den Priif ung unterzogen. Mit den an der Kiiste ansassigen deutschen und schwe-
dischen Firmen, die auf Grund von Vertragen mit den Eingeborenen beinahe
das ganze Kiistenland als Privateigentum beanspruchten, wurde im Vergleichs-
wege ein Abkommen getroffen, das die Anspniche der Firmen auf einzelne,
bereits in Betrieb genommene Plantagen beschrankte. Da der Gouverneur
durch seine Reisen nach St. Thome' die dortigen ertragreichen Kakaokulturen
kennengelernt hatte, beschloB er zur wirtschaftlichen Entwicklung des Ge-
bietes an den Abhangen des Kamerunberges eine groBe Kakaokultur ins Leben
zu rufen. DaB er dabei nicht den Weg der Eingeborenenkulturen wahlte, son-
dern den europaischer Plantagenunternehmungen, lag in der Natur der Sache.
Die Eingeborenen am Kamerunberg waren mit Ausnahme der wenigen Victo-
rianer, die nicht aus dem Lande selbst stammten, kulturell noch so weit
zuriick, daB an eine Forderung der Kakaokultur durch Eingeborene nicht zu
denken war. War doch erst um Weihnachten 1894 Buea, der Sitz des trotzigen
Bakwirihauptlings Kuba, eingenommen worden und damit einigermaBen
Ruhe und Sicherheit im Gebirge eingekehrt.
Auch den Handel mit denjenigen Produkten, die die Eingeborenen selbst
gewannen, besonders Palmkerne, Palmol und Kautschuk, suchte der Gouver-
neur in jeder Weise zu fordern, indem er durch Verhandlungen mit den ein-
zelnen Stammen oder durch militarische Expeditionen das Monopol der
Kustenstamme zu brechen suchte. Das gelang am Wuri und Mungo auf
friedlicbem Wege, im Siiden durch die Militarstationen Lolodorf und Jaunde.
Schwieriger lagen die Verhaltnisse in der Gegend zwischen Sanaga und Njong,
weil es der Expedition von Stetten im Jahre 1895 nicht gelang, die kriege-
rischen Bakokos zwischen Edea und Jaunde zur Freigabe des Handels zu
zwingen.
Die Bestrebungen des Gouverneurs auf Ausdehnung und Befestigung der
deutschen Herrschaf t und wirtschaf tliche ErschlieBung des Landes beschrankte
sich aber nicht auf die Kiiste. Er suchte vielmehr moglichst bald das ganze
durch die Vertrage mit Englandern und Franzosen gesicherte Gebiet bis zum
Tschadsee im Norden und Sanga-Ngoko im Siiden der deutschen Verwaltung
zu unterstellen und dem deutschen Handel zu offnen. Diesem Zwecke diente
die groBe Expedition unter Hauptmann v. Kamptz nach Adamaua 1888/89
und die Errichtung einer Station in Molundu in der Siidostecke des Schutz-
gebietes.
Zur wirtschaftlichen ErschlieBung des Landes aber fehlten vor alien Dingen
die erforderlichen finanziellen Mittel. Der Gouverneur glaubte in Uberein-
stimmung mit der damaligen Abteilung des Auswartigen Amtes die Entwick-
lung des Schutzgebietes rasch fordern zu konnen durch Hereinziehung deut-
schen Kapitals im Wege der Verleihung groBer Landkonzessionen. Es kamen
die Konzessionen vpn Siidkamerun und Nordwestkamerun zustande, die spater
zu auBerordentlich starken Angriffen nicht nur gegen diese Landgesellschaften,
sondern auch gegen den Gouverneur fiihrten.
Puttkamer 1 23
Zu gleicher Zeit war durch die Einrichtung einer Reihe von Plantagen am
Kameninberg die Arbeiterfrage kritisch geworden. Die Ktistengebiete waren
zu schwach bevolkert, um die notigen Arbeiter stellen zu konnen. Auch waren
die Bewohner dieser Urwaldzone aui3erordentlich schwer zu regelrechter Ar-
beit zu bewegen. Es blieb also nur iibrig, entweder die Arbeiter in fremden
Kolonien anzuwerben, was auf der einen Seite zu teuer geworden ware, auf
der anderen Seite von Tag zu Tag schwieriger wurde, weil die fremden Kolo-
nien ihre Arbeitskrafte selbst brauchten, oder aber die kraftigen und kulturell
hoher stehenden Stamme des Binnenlandes als Arbeiter an die Kiiste zu ziehen.
Zu gleicher Zeit ergaben sich bei Abgrenzung der Plantagen fortdauernde
Streitigkeiten zwischen den Eingeborenendorfern und den I^eitungen der Plan-
tagen. Gegen die monopolartigen Handelsrechte der groBen Landgesellschaften
wandten sich nun aber auch die Ktistenfirmen, so da 13 der Gouverneur vor
einer Reihe schwerwiegender Fragen stand, die um so schwerer zu losen waren,
als an der Frage der geordneten Abgrenzung der Eingeborenendorfer auch die
Missionen interessiert waren und die Landkonzessionen die offentliche Mei-
nung Deutschlands stark erregten.
Es kam noch dazu, daB durch die rasche Ausdehnung der Verwaltung auf
Gebiete, die beinahe so groB waren, wie das Deutsche Reich, eine fortdauernde
Personalvermehrung notwendig wurde, die im Reichstag auf Widerstand
stiefi, weil ganz natiirlicherweise die Einnahmen aus den neubesetzten Ge-
bieten nicht von vornherein die Verwaltungskosten decken konnten. Auch
die Frage der wirtschaftlichen ErschlieBung des Schutzgebietes durch Bau
von StraBen, Reinigung der schiffbaren Teile der Fliisse und Bau von Eisen-
bahnen vermehrte die Arbeit des Gouvernements. Das Reich war nicht dazu
zu bringen, Mittel zum Bau von Eisenbahnen zur Verfiigung zu stellen. Es
muBte auch hier der Weg der Erteilung von Konzessionen beschritten werden,
und das fuhrte zu neuen Kampfen. SchlieBlich erhielt die Kameruner Eisen-
bahngesellschaft die Konzession zum Bau einer Eisenbahn von Duala mungo.
aufwarts nach den Hochlandern des Innern.
Trotz aller dieser Kampfe ging die wirtschaftliche Entwicklung des L,andes
in raschem Tempo vorwarts. Nachdem die Plantagen an der Kiiste ihre
Kinderkrankheiten iiberwunden hatten und ein regelmaBiger Arbeiterzuzug
gesichert war, entwickelten sie sich in gesunder Weise. Im Siiden drang der
deutsche Handel sehr rasch nicht nur iiber den Sanga, sondern auch auf der
StraBe Kribi, Lolodorf, Jaunde ins Innere weit vor, und als im siidlichen
Hinterland groBe Bestande eines Gummibaumes, der Kickxia elastica, ge-
funden wurden, nahm die Kautschukgewinnung einen ungeahnten Aufschwung.
Mitten aus dieser Entwicklung wurde der Gouverneur v. P. herausgerissen.
Es waren infolge der allgemeinen Krisis, in die die deutsche Kolonialverwal-
tung durch den groBen Eingeborenenaufstand in Siidwestafrika hineingerissen
wurde, in Deutschland eine Reihe Angriffe nicht nur gegen seine Verwaltung,
sondern auch gegen ihn personlich gerichtet worden. Im Januar 1906 wurde
Gouverneur v. P. abberufen.
Die Tatigkeit des Gouverneurs v. P. hat in der Zeit, in der er als Gouverneur
in Kamerun wirkte, die verschiedenste Beurteilung gefunden, je nach dem
Standpunkt, den der Beurteiler zu kolonialen Fragen iiberhaupt einnahm.
Heute, nachdem zwei Jahrzehnte seit seinem Ausscheiden aus Kamerun hin-
124 lgl?
gegangen sind, laBt sich diese Tatigkeit ruhiger beurteilen, und da ist es kein
Zweifel, daB P. seine ganze Kraft an die kolonialen Aufgaben gewandt hat.
Er war ein Mann von Geist und Energie und hatte dabei groBe kunstlerische
Interessen. Besonders nachdem er Gouverneur von Kamerun war, setzte er
seine ganze Kraft daran, das Land wirtschaftlich vorwarts zu bringen. Er hat,
nie rastend beinahe das ganze Schutzgebiet bereist ; war nicht nur im ganzen
Kustengebiet, sondern auch in Adamaua und am Sanga-Ngoko. Durch seine
vielen Reisen nach englischen Kolonien, nach dem Kongo, nach spanischen
und portugiesischen Kolonien hatte er einen Einblick gewonnen in die ganze
Entwicklung Westafrikas. Im allgemeinen richtete er seine Kolonialpolitik
nach englischem Muster ein. Besonders auch auf dem Gebiete der Eingeborenen-
politik. Er war nicht, wie vielfach behauptet worden ist, ein Vertreter der
Unterdriickung der Eingeborenen ; im Gegenteil, er suchte die Eingeborenen
nicht nur zur wirtschaftlichen, sondern auch zur politischen Entwicklung des
Landes heranzuziehen. Unter seiner Regierung wurde von der Kiiste aus bis
nach Jaunde ein Netz von Eingeborenenschiedsgerichten gebildet, die wohl
als Grundlage dienen konnten fur eine selbstandige politische Entwicklung
der Eingeborenen. Dem heute in der Offentlichkeit iiberall vertretenen Satz,
daB der Eingeborene nicht zu einem Zerrbild des Europaers heranzubilden
sei, sondern sich seiner Fahigkeit entsprechend eine eigene Kultur schaffen
soil, stand P. durchaus nicht ablehnend gegenuber. Wenn er mit seinen MaB-
nahmen haufig auf den Widerstand einzelner Kreise stieB, so lag das eben
daran, daB die verschiedenen Interessen der groBen Pflanzer, der Kaufleute
und der Missionen haufig schwer zu vereinen waren. Auch die Eingeborenen-
kulturen hat P. nicht grundsatzlich abgelehnt. Wenn er sie nicht in dem
MaBe forderte, wie das durch die Basler Mission an der englischen Goldkiiste
geschehen ist, so lag das zum groBen Teil daran, daB es viel schwerer war,
die Eingeborenen in Kamerun zur selbstandigen wirtschaftlichen Tatigkeit
zu bringen, als an der weiter fortgeschrittenen englischen Goldkiiste.
Das Verdienst aber wird man ihm nicht abstreiten konnen, daB er unter
den schwierigsten Verhaltnissen und fortdauernden Angriffen von alien Seiten
das Schutzgebiet erheblich vorwarts gebracht hat. Der beste Beweis ist das
Anwachsen der Ein- und Ausfuhr von 1895 bis 1905. Wahrend im Jahre 1895
der Gesamtwert der Ein- und Ausfuhr des Schutzgebietes rund 10400000 Mark
betrug, war er im Jahre 1905 auf das Doppelte, rund 20300000 Mark, gestiegen.
Das Ende des Weltkrieges hat Gouverneur v. P. nicht mehr erlebt, er starb
am 23. Januar 1917.
I/iteratur: v. P., Gouvemeurs jahre in Kamerun, Berlin 1912.
Berlin-Charlottenburg. Theodor v. Seitz.
Schmoller, Gustav v., Professor der Staatswissenschaften an der Universitat
Berlin, Wirklicher Geheimer Rat, * am 24. Juni 1838 in Heilbronn, f am
27. Juni 1917 (auf einer Reise in Harzburg. — Sch. war der Sohn eines wiirttem-
bergischen Kameralverwalters, dessen Urahn als Kriegskommissarius Bern-
hards von Weimar im DreiBigjahrigen Kriege nach Schwaben gekommen
und dort ansassig geworden war; miitterlicherseits stammte er aus dem
kaufmannischen Patriziat des bedeutendsten altwurttembergischen Industri e-
Puttkamer. Schmoller
125
zentrums Calw, wo sein GroB vater und sein UrgroB vater Gartner als nam-
hafte Privatgelehrte, Naturforscher und Botaniker, ein vornehm zuriick-
gezogenes Leben fuhrten, der UrgroBvater Mitglied der Petersburger Aka-
demie unter der Kaiserin Katharina II., der GroBvater im Verkehr mit Goethe
und in wissenschaftlichem Brief wechsel mit Darwin. Die Mutter hat er fruh
verloren; der Vater, ein giitiger Mann von ernster Gesinnung, aber heiterem
Temperament, hat seine wie seiner Geschwister Erziehung hauptsachlich
selbst geleitet und ihm den Trieb, nach etwas Ordentlichem und Tuchtigem
in stetiger Arbeit zu streben, von Jugend auf durch Mahnung und Beispiel
eingefloBt. Er gait in der Jugend als Schwindsuchtskandidat und ist dadurch
zu hygienischer Lebensfuhrung und planvoller Arbeitsokonomie erzogen
worden. Der Gymnasialunterricht in seiner Vaterstadt hat ihn nicht besonders
angesprochen ; philologische Studien und Methoden haben auch in seinem
spateren Leben keine besondere Rolle gespielt. Ihn interessierten mehr die
Dinge des praktischen Lebens, Menschen und Zustande der heimischen Um-
gebung und allgemeinere wissenschaftliche Betrachtungsweisen. Der Vater
hatte ihn zum Beamten bestimmt, wie es in der Familientradition lag, und
beschaftigte ihn, nachdem er das Gymnasium absolviert hatte, zugleich mit
Rucksicht auf seine schwachliche Gesundheit, vor dem Universitatsstudium
noch ein Jahr lang in seiner Amtskanzlei, wo er nicht nur die Elemente des
Finanz- und Verwaltungsrechts kennenlernte, sondern auch eine lebendige
Anschauung von Land und Leuten, von Sozial- und Wirtschaftsverhaltnissen
gewann. Seine Universitatsbildung hat er ausschlieBlich auf der heimischen
Hochschule Tubingen in den vier Jahren von 1857 D^s I^01 genossen. Die
nationalokonomischen Professoren Schiiz und Helferich haben keinen bedeu-
tenden EinfluB auf ihn geiibt, ebensowenig die Juristen. Starkere Eindriicke
empf ing er von den historischen Vorlesungen Max Dunckers. AuBer Geschichte
und Philosophie trieb er mit Vorliebe auch Physik, Chemie, Maschinenlehre.
Am SchluB seiner Studienzeit machte er sich an die Bearbeitung einer von
Schiiz gestellten Preisaufgabe iiber die volkswirtschaftlichen Anschauungen
der Reform ationszeit. Er gewann den Preis und wurde auf diese Arbeit hin,
die in der »Tiibinger Zeitschrift« erschien, zum Doktor der Staatswissenschaften
promoviert. Zugleich bestand er damals, 186 1, das erste kameralistische Exa-
men und durfte das erste Studium der Vorbereitungszeit als Finanzreferendar
bei seinem Vater in Heilbronn absolvieren, wo er MuBe zu wissenschaftlicher
Lektiire fand. Er begann ein griindliches Studium der philosophischen Systeme,
die von 1750 bis 1850 von EinfluB auf die Ausbildung der nationalokono-
mischen Theorien gewesen waren. Er war schon damals von der historischen
Richtung ergriffen, die Hildebrand und Roscher eingeschlagen hatten und die
auch Knies verfolgte. DaB das sogenannte klassische System der englischen
Nation alokonomie auf ganz anderen tatsachlichen Voraussetzungen beruhte,
als sie die Wirklichkeit des Lebens in Deutschland darbot, war schon seit List
ein Hauptargument gegen die Allgemeingiiltigkeit dieser Lehre; Sch. ge-
dachte nun auch ihre Abhangigkeit von philosophischen Anschauungen nach-
zuweisen, die in Deutschland damals als iiberwundener Standpunkt erschienen.
Das Buch, in dem er diesen Nachweis fiihren wollte, ist nicht zustande ge-
kommen, aber die Vorarbeiten dazu haben in Sch.s spateren Produktionen
nachgewirkt.
126 1917
Besonders wichtig wurde es fur Sch.s weitere Ausbildung, dafi er das zweite
Stadium seiner Vorbereitungszeit bei dem Statistischen Amt verbringen durf te,
dessen Leitung sein Schwager Gustav Riimelin nach dem Riicktritt vom
Kultusdepartement tibernommen hatte. Dieser bedeutende Mann, der auch
aus Heilbronn stammte und 1847, damals Rektor einer Lateinschule, eine
Scliwester Sch.s geheiratet hatte, 1848 im Frankfurter Parlament Mitglied
der erbkaiserlichen Partei und 1849 Mitglied der Deputation gewesen war,
die Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone anbot, hat einen sehr starken Ein-
fluB auf den jungen Sch. geiibt, einmal durch das Vorbild eines Gelehrten
von weiter, allgemeiner Bildung, das er ihm gab, dann aber auch durch die
in Wurttemberg damals seltene Schatzung des preufiischen Staatswesens,
die er ihm einfloBte. Er iibertrug ihm jetzt die Bearbeitung der eben damals
vorgenommenen wiirttembergischen Gewerbezahlung ; und diese statistische
Arbeit, die 1862 in dem Wiirttembergischen Jahrbuch erschien, hat spater den
Kurator der Universitat Halle, den fruheren Posener Oberprasidenten v. Beuer-
mann, veranlafit, die Berufung des Verfassers als Extraordinarius an die Uni-
versitat Halle in Vorschlag zu bringen. Eben damals hatte sich der junge
Sch. die wiirttembergische Beamtenlaufbahn verschlossen durch eine Broschure,
welche in der durch den preuBisch-franzosischen Handelsvertrag von 1861
herbeigefuhrten Krisis des Zollvereins fiir die preuBische Sache und gegen die
im Lager Osterreichs stehende wiirttembergische Regierung eintrat. Im Friih-
jahr 1864 nahm er daher ohne Zogern den Ruf nach Halle an. Vor dem Antritt
der Professur schrieb er noch einen bedeutenden Artikel iiber die Arbeiter-
frage fiir die »PreuBischen Jahrbucher«, den man wohl als das erste Programm
einer neuen sozialpolitischen Richtung in der deutschen Nationalokonomie
bezeichnen kann.
Die Verpflanzung nach Halle, zumal die Nachfolge in das Ordinariat von
Eiselen (1865), der eine Art von preuBischer Staatskunde vorzutragen pflegte,
brachte fiir Sch. die Aufgabe mit sich, auf dem Boden des preufiischen Staates,
seiner Verfassung, Verwaltung und Volkswirtschaft sich in derselben Weise
zurechtzufinden wie einst in seinem wiirttembergischen Heimatlande. Er wurde
Stadtverordneter in Halle, urn die stadtische Verwaltung aus eigener An-
schauung kennenzulernen, und arbeitete in den Ferien in dem Berliner Archiv,
wobei er mit richtigem Blick die Verwaltungsgeschichte der Epoche Friedrich
Wilhelms I. zum Hauptgegenstand seiner Studien machte. Preufien wurde
ihm mehr und mehr das Paradigma, an dem er die Verknupfung von Staats-
und Wirtschaftsleben, namentlich im Finanzwesen, in konkreter Anschau-
lichkeit studierte.
In Halle hat sich der junge Professor auch seinen Hausstand gegriindet
durch die Verheiratung mit Lucie Rathgen, der Tochter eines weimarischen
Geheimen Rates und Enkelin des von ihm hochverehrten Niebuhr. Aus
dieser sehr gliicklichen und harmonischen Ehe sind zwei Kinder, ein Sohn und
eine Tochter entsprossen. Das literarische Hauptwerk der Hallischen Jahre
war die »Geschichte des deutschen Kleingewerbes im 19. Jahrhundert* (1870),
das angesichts des soeben zum Durchbruch gekommenen Prinzips der Ge-
werbefreiheit auf die Notwendigkeit hinwies, nicht alles dem freien Spiel
der Konkurrenz zu iiberlassen, sondern hie und da im Interesse des Gemein-
wohls doch auch wieder hemmend, fordernd, regulierend einzugreifen. Das
Schmoller
127
war ein neuer Ton, der in dem Imager des damals maBgebenden liberalmanche-
sterlichen Kongresses der Volkswirte Aufsehen und MiBfallen erregte. Gegen
dies Buch von Sen. und zugleich auch gegen das von Brentano liber die eng-
lischen Gewerkvereine schrieb einer der einfluBreichsten Publizisten jener
Richtung, Heinrich Bernhard Oppenheim, einen beruhmt gewordenen Artikel
in der »Nationalzeitung«, in dem die neue Schule von Sozialpolitikern als »Kathe-
dersozialisten« vor der Offentlichkeit angeklagt wurde. Brentano, damals
Privatdozent in Berlin, nahm den Fehdehandschuh auf; durch ihn angeregt,
setzte sich Adolf Wagner (s. unten S. 1735.), der Ordinarius in Berlin, der
bis dahin sozialpolitisch noch nicht hervorgetreten war, mit Sch. in Verbindung;
und in dessen Hause zu Halle wurde von einer kleinen Gruppe, zu der auch
Hildebrand und sein Schuler Conrad gehorten, jene Zusammenkunft in Eise-
nach verabredet, auf der am 5. und 6. Oktober 1872 der Verein fiir Sozial-
politik gegriindet worden ist. Sch. hielt dabei die einleitende Ansprache; der
Vorsitz wurde zunachst an den Bonner Professor Erwin Nasse iibertragen ; als
dieser gestorben war (1890), wurde Sch. sein Nachfolger.
Die Berufung an die neu begriindete Universitat StraBburg (1872) fuhrte
Sch. zu eingehenden wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Untersuchungen,
die der Vergangenheit StraBburgs, namentlich der Zeit vom 13. bis 15. Jahr-
hundert gewidmet waren und aus denen schlieBlich das Buch iiber die Tucher-
tmd Weberzunft hervorgegangen ist, das 1879 erschien. In diesem Werke,
das ganz auf urkundlichem Material aufgebaut war, bei dessen Bearbeitung
ein talentvoller Schuler, Wilhelm Stieda, geholfen hatte, gait es, das Wesen
der mittelalterlichen Stadtwirtschafts- und Gewerbepolitik an einem ty-
pischen Beispiel darzustellen und wissenschaftlich zu erlautern. Der Lehrbetrieb
in dem mit Knapp und I^exis zusammen geleiteten staatswissenschaftlichen
Seminar gab Sch. Veranlassung zur Begriindung der groBen Reihe »staats-
und sozialwissenschaftlicher Forschungen«, die seit 1878 im Verlage von
Duncker & Humblot (Carl Geibel) erschien, eine Sammelstelle fiir die konkret-
realistische Tatsachenforschung, mit der er die Theorie des Wirtschaftslebens
zu fundamentieren bestrebt war. Die Verbindung mit Berlin und den preuBi-
schen Studien wurde nicht abgebrochen. Ein Vortrag iiber die soziale Frage
und den preuBischen Staat, den Sch. in den Osterferien 1874 in Berlin ge-
halten hatte und der in den » PreuBischen Jahrbiichern* gedruckt wurde, gab
dem Herausgeber, H. v. Treitschke, AnlaB dazu, in einigen gleich darauf
folgenden Artikeln iiber den Sozialismus und seine Gonner, gegeniiber dem
von Sch. aufgestellten sozialpolitischen Reformprogramm seinen eigenen,
auf die Notwendigkeiten einer hoheren Kultur sich berufenden sozialaristo-
kratischen Standpunkt zur Geltung zu bringen, worauf Sch. in einem langeren
offenen Sendschreiben » iiber einige Grundfragen des Rechts und der Volks-
wirtschaft* antwortete, das die ethischen und rechtsphilosophischen Ideen
seines Programms mit siegreicher Warme verfocht. Bald darauf, 1875, als
Sch. Rektor in StraBburg war, sagte ihm Bismarck einmal, er sei eigentlich
auch »Kathedersozialist«, er habe nur noch nicht recht Zeit dazu. Einige
Jahre darauf vollzog sich der groBe Umschwung, der mit der Steuer- und
Wirtschaftsreform auch die Ara der neuen sozialpolitischen Gesetzgebung
eroffnete. Die Ideen Sch.s und seiner Gesinnungsgenossen, die bisher nur als
eine Unterstromung sich bemerkbar gemacht hatten, erhielten jetzt Ober-
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wasser und sollten bald die Muhlen der Gesetzgebung treiben. Mit dieser Wen
dung stand es auch in Zusammenhang, daB Sch. d1'e Leitung des seit einigen
Jahren im Verlage von Duncker & Humblot erscheinenden Jahrbuchs fiir
Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft iibernahm, das erst der Staats-
rechtslehrer Franz v. Holtzendorff und dann Lujo Brentano herausgegeben
hatten. Es war das zweite groBe literarische Instrument, dessen er zur Ver-
wirklichung seiner Ideen und Plane bedurfte, neben den staats- und sozial-
wissenschaftlichen Forschungen,
So war Sch. eine fertige Gelehrtenpersonlichkeit mit stark und deutlich
ausgepragter Eigenart und festbegriindetem Ansehen, als er im Jahre 1882
nach Berlin iibersiedelte, wo er schon zweimal (1870 und 1879) vergeblich
zum Ordinarius vorgeschlagen worden war, wo aber jetzt erst die Bedenken
des Ministeriums gegen seine sozialpolitische Richtung hinwegfielen. Diese
war es, die ihn mit seinem Fachkollegen Adolf Wagner dauernd verband,
wahrend dessen theoretische Einstellung im offenen Gegensatz zu Sch.s
historisch-realistischer Betrachtungsweise stand. Aber nicht mit diesem her-
vorragenden Vertreter der theoretischen Richtung, sondern mit dem Wiener
Volkswirtschaftslehrer Karl Menger (s. DBJ. 1921, S. 192 ff., bes. S. 196 f.)
ist Sch. in den ersten Jahren seiner Berliner Wirksamkeit in einen Aufsehen
erregenden Methodenstreit geraten. Menger hatte in seinen »Untersuchungen
liber dieMethode der Sozialwissenschaften usw.« 1883 einen scharfen Angriff
gegen die historisch-psychologische Behandlungsweise der Nationalokonomie,
wie sie Sch. iibte, gerichtet. Sch. besprach diese Schrift mit sehr abfalliger
und temperamentvoller Kritik und behauptete seinen Standpunkt mit aller
Entschiedenheit. Menger antwortete durch eine neue, noch scharfere Schrift
tiber die Irrtumer des Historismus in der deutschen Nationalokonomie 1884;
aber Sch. schickte das ihm zugesandte Buch unter Protest zuriick und lehnte
es ab, sich auf eine weitere Diskussion einzulassen, die bei der Verschieden-
artigkeit der personlichen Einstellung zu den methodischen Problemen zu
keinem ersprieBlichen Ergebnis fuhren konnte. Es war ein Akt der Selbst-
behauptung seines innersten wissenschaftlichen Wesens; aber er hatte zu-
gleich die verhangnisvolle Wirkung, daB zwischen der nun bald herrschend
werdenden historischen Richtung der Nationalokonomie in Deutschland
und der zukunftreichen osterreichischen Schule, die eine neue auf die soge-
nannte Grenznutzentheorie begriindete Wertlehre ausbildete, ein jaher Bruch
eintrat, der erst nach Jahrzehnten, wo auch Sch. jene Bestrebungen gerecht
und vorurteilsfrei wiirdigte, wieder einer gegenseitigen Annaherung Platz
gemacht hat.
Sch. kam es jetzt vor allem darauf an, ohne Kraft- und Zeitverlust durch
methodische Kontroversen, seinen groBen Lebensplan, die historisch-rea-
listische Grundlegung zu einem neuen System der Staats- und Sozialwissen-
schaften, zu fordern und womoglich selbst noch zur Ausfuhrung zu bringen.
Mit neuer Energie wandte er sich den Studien iiber die preuBische Verwal-
tungs- und Wirtschaftsgeschichte zu. Er faBte seine langjahrigen archivalischen
Forschungen zu einer Reihe von groBen Aufsatzen iiber die brandenburgisch-
preuBische Wirtschaftspolitik im 16., 17. und 18. Jahrhundert zusammen,
aus denen nicht nur ein lebendiges Bild von der Geschichte des Elb- und Oder-
handels, der Verwaltung der neuen magdeburgischen Provinz und des Halli-
Schmoller
129
schen Salzwesens, der Handelsstreitigkeiten zwischen Brandenburg, Sachsen
und Hamburg sich ergab, sondern vor allem eine ganz neue Beleuchtung und
Wiirdigung des Merkantilsystems, das erst jetzt in seiner relativen Berechti-
gung als ein niitzliches und notwendiges Durchgangsstadium in der Geschichte
der wirtschaftychen Politik der neueren Staaten, als die natiirliche wirtschaft-
liche Begleiterscheinung des groBen Prozesses der modernen Staatenbildung
sich darstellte. Dazu kamen tiefschiirfende Aufsatzreihen iiber die Reform
der stadtischen Verfassung und Verwaltung durch Friedrich Wilhelm I.,
iiber die neue Regelung des Innimgswesens tmd der Gewerksprivilegien imter
seiner Regierung, iiber die Entstehung des preuBischen Heeres im 17. und
18. Jahrhundert, sein Verhaltnis zur Verwaltung und zum Wirtschaftsleben,
seine Einfiigung in die Staats- und Gesellschaftsordnung. Das alles waren
Bruchstiicke und Anfange, zu der geplanten Verwaltungsgeschichte unter
Friedrich Wilhelm I.; aber im iibrigen miindete dieser Plan in eine groB-
angelegte Quellenpublikation der Akademie der Wissenschaften, die bald
nach Sch.s Eintritt in diese Korperschaft (1887) unter dem verstandnisvollen
Entgegenkommen des Generaldirektors der preuBischen Staatsarchive, Hein-
richs v. Sybel, seit dem Jahre 1888 unter dem Namen »Acta Borussica:
Denkmaler der preuBischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert« in die
Wege geleitet wurde und bis zum Anfang des groBen Krieges, wo eine lang-
andauernde Stockung eintrat, auf 22 Bande anwuchs. Sch. selbst, dessen
Vorarbeiten dabei iiberall zugrunde lagen, eroffnete die Reihe iiber » Behorden-
organisation und allgemeine Verwaltung « mit einer stoff- und gedankenreichen
Studie iiber die Entstehung imd das Wesen des Beamtentums in den neueren
Staaten, insonderheit Deutschlands : Mit der Leitung dieser groBen Akten-
publikation kam Sch. in einen engeren und festeren Zusammenhang mit den
historischen Studien uberhaupt, die der Geschichte des preuBischen Staates
gewidmet waren ; er nahm auch teil an der Leitung der Urkunden und Akten-
stiicke zur Geschichte des GroBen Kurfiirsten; er hat fiir diese Publikation
eine Erweiterung iiber den urspriinglichen Rahmen hinaus auf das Gebiet
der inneren Politik, namentlich der Domanen- und Kommissariatsverwaltung
durchgesetzt und in die Wege geleitet. Er iibernahm den Vorsitz des Vereins
fiir die Geschichte der Mark Brandenburg, der unter seinem EinfluB zu einer
landesgeschichtlichen Publikationsanstalt ausgebildet wurde, — imd dessen
Organ, die »Forschungen zur brandenburgischen und preuBischen Geschichte«,
in einen engen Zusammenhang mit den »Acta Borussica « trat.
Zugleich mit diesen historischen Quellenpublikationen behielt Sch. die
Zusammenfassung seiner sozialwissenschaftlichen Forschungen im Auge. Er
stellte tiefgriindige Untersuchungen an iiber Arbeitsteilung, iiber soziale
Klassenbildung, iiber die Formen der Unternehmung. Er hat den okonomischen
Stufengang Hildebrands: Naturalwirtschaft — Geldwirtschaft — Kreditwirt-
schaft — erganzt durch die aus dem konkreten Beispiel der deut schen Wirt-
schaftsgeschichte abgeleiteteEpochenfolge der Stadtwirtschaft, Territorialwirt-
schaft, Volkswirtschaft, und er hat alle diese drei Epochen in aufschluBreichen
Untersuchungen beleuchtet, in denen die Verbindung des Wirtschaftslebens
mit der Staatenbildung zu eindringlicher Anschauung gebracht wurde.
Auf eine Anregung seines Verlegers Carl Geibel unternahm Sch. schlieBlich
auch den Versuch einer zusammenfassenden historisch-systematischen Dar-
dbj 0
130 1917
stellung seiner Forschungsergebnisse in einem »GrundriB der Volkswirtschafts-
lehre*. Es war ein KompromiB zwischen der Forderung des Tages und dem
Plan, der ihm urspriinglich vorschwebte. Seine Meinung war immer gewesen,
daB erst in einigen Jahrzehnten monographischer, wirtschaftsgeschichtlicher
und statistisch-deskriptiver Einzelforschung eine feste Grundlage geschaffen
werden miisse, auf der dann ein neues Lehrgebaude errichtet werden konne.
Er glaubte aber, jetzt nicht langer damit saumen zu durfen, wenn er nicht
alles der kommenden Generation iiberlassen wollte. Seine akademische Lehr-
tatigkeit hatte ihn ja immer wieder veranlaBt, eine theoretische Zusammen-
fassung und Verarbeitung des allmahlich anwachsenden Stoffes vorzunehmen.
So entstand der »GrundriB der Volkswirtschaftslehre«, trotz der gedrangten
Kiirze ein monumentales Werk ; ein groBartiges Mosaikgemalde, in dem jedes
Steinchen das Resultat einer Spezialforschung war; es enthielt den Stoff zu
einer sozialen Universalgeschichte oder universalgeschichtlichen Soziologie,
aber noch in den Rahmen und das Fachwerk einer freilich soziologisch unter-
bauten Volkswirtschaftslehre hineingepreBt. Man kann es hier mit Handen
greifen, wie aus der Volkswirtschaftslehre die neue Disziplin der Soziologie
herauswachst, wie sie die alten Formen vielfach sprengt ohne doch schon
ihre eigene, selbstandige Form zu finden.
Wie in seinen Vorlesungen, so war Sch. auch in diesem ^GrundriB* vor
allem bestrebt, anschauliche Vorstellungen zu geben, die der weiteren Ver-
standesarbeit als Stoff und Unterlage dienen konnten. Aber andererseits
htitete er sich, die Dinge als einfacher und klarer darzustellen, als sie in der
Wirklichkeit sind. Er betonte das Hypothetische in den theoretischen Grund-
anschauungen, das Problematische in den praktischen Aufgaben der Wirt-
schaftspolitik, die relative Berechtigung der entgegengesetzten Standpunkte,
die ortliche und zeitliche Bedingtheit aller wirtschaftspolitischen MaBregeln.
Allen radikalen Losungen und schematischen Vereinfachungen war er ab-
hold; es war nicht Schul- sondern Lebensweisheit, was er lehren wollte. Es
war der Niederschlag einer mehr als 35jahrigen Forschungs- und Lehrtatig-
keit; aber doch eben nur ein »GrundriB«: gedrangt, kompendios, gedampft
im Ton. Wenn man die Kraft und den Schwung des Stils, den kuhnen Gedanken-
flug der besten Jahre Sch.s kennenlernen will, so muB man auch seine fruheren
Werke, namentlich seine Reden und Aufsatze, zur Hand nehmen.
Wer Sch. lediglich nach seinen Leistungen fiir die Fortbildung der theore-
tischen Nationalokonomie beurteilt, wird zu einem schiefen Ergebnis ge-
langen. Er ist aber wohl als der Wegbereiter der neuen » verstehenden Sozio-
logie* anzusehen, wie sie namentlich Max Weber (s. unten S. 593 ff.) und
Sombart, beide seine Schuler, aller dings sehr selbstandige, ausgebildet haben.
Dem Kern seines wissenschaftlichen Wesens kommt man am nachsten, wenn
man von seiner Neigung zu »anschaulichem Denken« ausgeht, wie er es nannte.
Der Kern des Methodenstreits, in den er verwickelt war, liegt nicht in dem
Gegensatz von deduktivem und induktivem Verfahren — Schlagworte, die
damals im AnschluB an die Millsche Logik vielfach gebraucht wurden. Er
liegt vielmehr in dem Gegensatz von Begriff und Anschauung. Die Gegner
hatten ein System von Begriffen im Auge, wie sie die Naturwissenschaft
braucht oder auch die Jurisprudenz ; Sch. schwebte eine Typenlehre vor,
die nicht Begriff e definieren, sondern anschauliche Abstraktionen, und zwar
Schmoller
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nicht eigentlich von substantiellen Dingen, sondern mehr von sozialen Hand-
lungen, Verhaltungsweisen und Ordnungen beschreiben wollte. Daher die
Fordening historisch-realistischer Einzelforschnng, die er erhob: sie sollte
das Material zu solchen Typenbildungen liefern und muBte daher so an-
schaulich und detailliert wie moglich sein. Er wollte solch typisches soziales
Handeln nicht bloJ3 von auBen »begreifen«, wie es die Naturwissenschaft
mit ihren Objekten tut, sondern er wollte es von innen heraus »verstehen«,
d. h. auf menschliche Motive zuriickfiihren, die uns bekannt sind. »Forschend
zu verstehen* war ja auch die Aufgabe, die der von ihm verehrte J. G. Droysen
dem Historiker gestellt hatte. Er traf auch mit dem Philosophen Dilthey, dem
er besonders nahe stand, in dieser Auffassungsweise zusammen. Daher seine
Betonung der Psychologic tJber die bisherigen Vertreter der historischen
Richtung in der Nationalokonomie ging er insofern hinaus, als er bereit war,
das iiberlieferte theoretische System ganz oder doch groBenteils preiszugeben,
urn auf Grund historisch-realistischer Forschung ein ganz neues System auf-
zubauen. Dabei kam es ihm im Grunde gar nicht allein auf die eigentliche
Volkswirtschaftslehre an, sondern auf die Gesamtheit der Staats- und Sozial-
wissenschaften — ein Programm, das der GrundriB der Volkswirtschaftslehre
allerdings nur unvollkommen realisiert hat, das erst die neuere Soziologie im
vollen Umfange auszufuhren versuchte. Jedenfalls aber stand die Verbindung
der Volkswirtschaft mit dem Staat und seiner Geschichte fiir Sch. im Mittel-
punkt seiner wissenschaftlichen und praktischen Interessen. Ebenso fest hielt
er an dem Zusammenhang des Wirtschaftslebens mit Sitte, Moral und Recht,
mit dem Ganzen der ethischen Kultur und Zivilisation. In seinen letzten
methodologischen Auseinandersetzungen mit Max Weber und dessen Ge-
sinnungsgenossen (Handworterbuch der Staatswissenschaften 1911, 3. Aufl.,
Bd. VIII) hielt er an seinem Standpunkt mit Entschiedenheit fest. Sein prak-
tischer Verstand straubte sich gegen die Fordening, daB die Sozialwissenschaft
auf Werturteile prinzipiell verzichten sollte; er verlangte nur Takt und maB-
volle Beschrankung im Urteil. Wie hatte auch der Mann, der im Namen der
sozialen Gerechtigkeit gegen die Manchesterlehre in der Nationalokonomie
zu Felde gezogen war, diese Idee als Leitstern seines wissenschaftlichen Denkens
verleugnen sollen! Die Wissenschaft erschien ihm iiberhaupt nur als ein
integrierender Bestandteil der allgemeinen geistigen Kultur; wie diese schien
auch sie ihm untrennbar verbunden zu sein mit ethischen Anschauungen und
Werturteilen. Seine philosophischen Ansichten wurzelten zwar im deutschen
Idealismus, aber sie hatten einen stark realistischen Zug angenommen unter
dem EinfluB des franzosischen und englischen Positivismus, von dem er ebenso
wirksam beruhrt worden war wie etwa Scherer und Dilthey. Er hat von
Comte und Spencer, zuletzt auch noch von Wundt gelernt. Mit Comte stimmte
er (wie auch Dilthey) uberein in der Meinung, daB die gegenwartige Epoche
des Denkens dem Zeitalter der Metaphysik entwachsen sei. Aber die Illusion
des Positivismus, als ob eine vollige Ersetzung der metaphysisch-teleologischen
Anschauungen durch exakte wissenschaftliche Forschung erreichbar sei,
teilte er nicht. Er erkannte an, daB doch immer nur ein verhaltnismaBig
kleiner Teil der uns gegebenen Wirklichkeit durch exakte wissenschaftliche
Forschung kausal erklart werden konne, daB im iibrigen die teleologischen
Vorstellungen, wie sie namentlich aus den Religions- und Moralsystemen
132 1917
stammen, ihren Platz weitgehend behaupten werden. Nur wollte er, dafl das
Gebiet der exakten Erkenntnis fortschreitend ausgedehnt werden sollte, und
daB die metaphysischen Vorstellungen zu einem entspreclienden Zurtick-
weichen oder zur Anpassung an die wissenschaftlichen Ergebnisse sich genotigt
sehen sollten. In diesem Sinne sah er mit Dilthey das Wesen der Geistes-
wissenschaften und so auch der Staats- und Sozialwissenschaften in der fort-
schreitenden Analyse eines im unmittelbaren anschaulichen Wissen und im
Verstandnis von vornherein besessenen Ganzen.
Die exakte Wissenschaft sollte also seiner Meinung nach durch die Welt-
anschauung mit ihren sittlichen Idealen erganzt werden. Die sittlichen Ideen
aber, die unser Handeln regulieren, erschienen ihm nicht als transzendente
Machte, sondern als Erzeugnisse eines Gemeingeistes und Gemeinwillens,
der zuletzt auf dem Zusammenwirken individual-psychologischer Prozesse
mit den uberlieferten Kulturordnungen beruht. Anthropologic und Psycho-
logic erschienen ihm — auch darin stimmte er mit Dilthey uberein — als die
Grundlagen aller Geisteswissenschaften.
Dabei hatte er freilich eine praktische Psychologie im Auge, wie sie mehr
aus der Beobachtung des Lebens und aus dem Studium von Geschichte und
Literatur stammte, als aus psychophysischen Experimenten. Er war ein aus-
gezeichneter Menschenkenner und besaB eine natiirliche Gabe der Beob-
achtung von Lebensverhaltnissen, die fruhzeitig geschult und fortgebildet
worden war. Die leichte und geschickte Behandlung schwieriger Geschafte
des praktischen Lebens, die Fahigkeit zu organisieren und zu leiten beruhte
ebenso darauf wie die glanzende Gabe, Charakterbilder zu entwerfen, die ihn
als Schriftsteller auszeichnete. Er hatte das Bediirfnis, sich die Menschen
nach ihren verschiedenen Lebenskreisen und Berufen, nach Herkunft und
Bildung, nach Rasse und Nationalitat in bestimmten Charaktertypen vorzu-
stellen, wie er sie zum Teil auch in seinem GrundriB mit wenigen Strichen
meisterhaft gezeichnet hat. Aus solchem Vorstellungsmaterial belebte und er-
ganzte er die historische Uberlieferung naher und ferner Vergangenheit ;
es war ihm zugleich aber auch ein Mittel, die Gegenwart, Menschen und Ver-
haltnisse, zu durchschauen und zu meistern. Seine fuhrende Stellung im Verein
fiir Sozialpolitik beruhte nicht etwa darauf, daB er der scharfste und ent-
schiedenste Vertreter der Reformideen ge wesen ware, sondern darauf, daB er
unter den entschiedenen Anhangern der Reform der maBvollste war, der es
am besten verstand, die auseinandergehenden Meinungen und Wiinsche durch
den Hinweis auf das Gemeinwohl immer wieder zusammenzuhalten, daB er
die relative Berechtigung der einander entgegenstehenden Interessen am klar-
sten zu erkennen und am feinsten abzuwagen wuBte, daB er iiberhaupt ein so
hohes MaB von personlichem Takt und politischem Verstand besaB. Das
war es auch, was ihm und seiner Richtung auf Jahrzehnte eine fuhrende Stel-
lung im Kreise der staatswissenschaftlichen Fachgenossen verschafft hat,
daneben freilich auch noch der Umstand, daB er von jeher von einem so groB-
artigen Vertrauen zur Leistungsfahigkeit der Staatsgewalt und des Beamten-
tums erfiillt war. Mit Staatsmannern wie dem Fiirsten v. Biilow, dem Finanz-
minister Miquel, dem Handelsminister v. Berlepsch, mit hohen Verwaltungs-
beamten vom ersten Range, wie den Ministerialdirektoren Lohmann, Thiel,
Althoff, stand er in vertrauensvollem und einfluBreichem Verkehr. Er war
Schmoller 1 33
seit 1884 Mitglied des preuBischen Staatsrats und vertrat seit 1899 die Berliner
Universitat, deren Rektor er kurz vorher (1897/98) gewesen war, im Herren-
hause. Er hatte selbst etwas von einem Staatsmann, wenn er auch immer ein
Gelehrter blieb und nichts anderes sein wollte. Die Nobilitierung und der
Exzellenzentitel, die ihm in seinen alten Tagen zuteil wurden, waren ge-
wissermaBen das Siegel auf diese hervorragende personliche Stellung, die er
sich errungen hatte. Aber auch eine groBe Anzahl von auswartigen Akademien
und gelehrten Gesellschaften erwahlte ihn zum Mitglied; seit 1899 war er Mit-
glied der Friedensklasse des Ordens »Pour le m£rite«.
Es gehorte zu seinen festesten Uberzeugungen, daB der Staat die groB-
artigste sittliche Institution der Geschichte sei, daB er namentlich in den neue-
ren Jahrhunderten die eigentliche Erziehungsschule der Volker darstelle.
Insonderheit dem Konigtum der Hohenzollern schrieb er den historischen
Beruf zur sozialen Reform zu. Seine preuBischen Geschichtsstudien sind durch
diese Idee wenn nicht geradezu beherrscht, so doch belebt und angeregt wor-
den, ahnlich wie einst die Droysens durch die Idee des Beruf es PreuBens
zur nationalen Einigung Deutschlands. Eingehendere Forschung hat dann
wohl eine ubertriebene Auffassung von der sozialpolitischen Bedeutung der
friderizianischen wie der Stein-Hardenbergschen Epoche auf das richtige
MaB zuriickgef uhrt ; aber die Idee vom sozialen Konigtum, die schon Lorenz
v. Stein vertreten hatte, saB fest im Geiste Sch.s und bildete das Zentrum
seiner politischen Uberzeugungen. Eben darum war er ein so iiberzeugter
.Monarchist, weil er eine starke Monarchic und ein von ihr erzogenes und ge-
leitetes Beamtentum fur das unentbehrliche Mittel hielt, urn die Klassen-
gegensatze von einem neutralen Standpunkt aus zu maBigen und den bru-
talen Klassenkampf, der alle Kultur vernichtet, durch rechtzeitige Reformen
zu verhiiten. Er sah iiberhaupt den Staat mehr unter dem Gesichtspunkt
der sozialen Wohlfahrt und Gerechtigkeit, als unter dem der Macht. Darum
hielt er sich mehr an Friedrich Wilhelm I., den eigentlichen Begriinder der
preuBischen Zucht und Ordnung, als an Friedrich den GroBen; und der Bis-
marck von 1878 bis 1888 war ihm noch inter essanter, als der von 1864 bis
1870. Die Monarchic erschien ihm mehr noch als eine sozialpolitische, wie
als eine machtpolitische Notwendigkeit. Darum war er auch nicht fiir parla-
mentarische Regierungsweise, weil sie im Grunde immer ein Partei- und Klassen-
regiment bedeute. Eine fortschreitende Demokratisierung des Staates aber,
die auch er als eine Notwendigkeit empfand, hielt er fiir wohl vereinbar mit
einer starken monarchischen Regierung.
Der iiberragende EinfluB Sch.s als Haupt der historischen Schule der
Nationalokonomie schuf ihm manche Gegner in den Kreisen derer, die sich
durch ihn in ihrer eigenen Geltung beeintrachtigt glaubten. Im Jahre 1904
unternahm der damals in Tubingen lehrende Verfassungs- und Wirtschafts-
historiker Georg v. Below einen umfassend angelegten Angriff, der darauf be-
rechnet war, Sch. aus seiner dominierenden Stellung in der gelehrten Welt
zu verdrangen. Er beleuchtete umstandlich alle Schwachen der Arbeiten
Sch.s, die darauf zuruckzufuhren waren, daB dieses beruhmte Schulhaupt
selbst niemals eine methodische historisch-kritische Schule durchgemacht
hatte und eigentlich iiberhaupt kein zunftgerechter Historiker war. Der von
personlicher Gehassigkeit getragene Angriff, der freilich auch manches Tref-
134 lw
fende enthielt, blieb unerwidert ; aber bei der schulmaBig-beschrankten und
unfruchtbaren Art der hier geiibten Kritik vermochte er das wissenschaf tliche
Ansehen Sch.s, das doch im Grunde auf dem lebendigen Eindruck einer auBer-
ordentlichen Personlichkeit beruhte, nicht ernstlich zu erschiittern, was sich
vier Jahre spater an den zahlreichen spontanen Kundgebungen zu Sch.s
70. Geburtstag zeigte.
FunfunddreiBig Jahre umfaBt die Berliner Wirksamkeit Sch.s. In stetiger,
unermudlicher Arbeit ist er frisch geblieben bis in das hochste Greisenalter.
Ein Aneurisma war die Ursache des Todes, der ihn anf einer Erholungsreise
in Harzburg, kurz nach dem Eintritt in das achte Jahrzehnt seines I^bens,
iiberraschte. Ein gnadiges Schicksal hat es ihm erspart, den Zusammenbruch
der Ideale und Ordnungen, an die er geglaubt und fur die er gearbeitet hatte,
zu erleben. Sein Lebenswerk gehort einer vergangenen Epoche an. Wissenschaft
und Politik gehen heut andere Wege als die, welche er beschritten hat. An
kleinlicher und gehassiger Kritik seines Wirkens und Wesens fehlt es auch
heute nicht. Aber die Spur seiner fortwirkenden Gedanken und Leistungen
ist fiir den tieferen, vorurteilsfreien Blick auch heute noch wohl erkennbar.
Literatur: Ein Verzeichnis der Schriften Sch.s bis 191 1 findet sich in dem Artikel
iiber ihn im Handworterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl. (191 1), VII, S. 31 iff.
Hinzuzufiigen sind noch die aus seinem Nachlafl herausgegebenen Werke: Die soziale
Frage (Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf), Miinchen und Leipzig, Duncker
& Humblot, 19 1 8 (673 Seiten), und : Deutsches Stadtewesen in alterer Zeit. [Bonner Staats-
wissenschaftliche Untersuchungen, Heft 5], B6nn und Leipzig, Kurt Schroeder, 1922
(428 Seiten).
Der handschriftliche NachlaC wird bei der Preuflischen Staatsbibliothek aufbewahrt. —
Biographische Daten in dem angefiihrten Artikel des Handworterbuchs der Staatswissen-
schaften. — Autobiographisches Fragment von G. Sch. : »Meine Heilbronner Jugendjahre*
in dem Kalender: »Von schwabischer Scholle«, 1918 (Verlag Eugen Salzer, Heilbronn),
mit genealogischen Angaben iiber die Familie Sch., die der Sohn des Verf., Major a. D.
Ludwig v. Sch., Dufilingen bei Tubingen, aus dem NachlaC hinzugefiigt hat. — Viel bio-
graphische Aufschliisse in »Reden und Ansprachen, gehalten bei G. Sch.s 70. Geburtstag*.
Als Handschrift gedruckt 1908. — Biographische Wiirdigungen von O. Hintze in For-
schungen zur brandenburgischen und preuCischen Geschichte XXXI, 2, in den Abhand-
lungen der Preufl. Akademie der Wissenschaf ten , Jahrg. 191 8, Philosophisch-historische
Klasse, in der Historischen Zeitschrift n 8, 3. — Abfallige Kritik des Sch.schen Lebens-
werkes von G. v. Below in Zs. f. Sozialwiss. (herg. v. Jul. Wolf) Bd. VII (1904) und von
Edgar Salin in einer Geschichte der Volkswirtschaftslehre [Enzyklopadie der Rechts-
und Staatswissenschaft, Abteilung Staatsvvissenschaft, hrsg. von Arthur Spiethoff,
XXXIV, Berlin, Julius Springer, 1923]. Dazu H. Herkner im Jahrbuch fiir Gesetzgebung
usw., Jahrg. 47 (1923) : Zur Stellung G. Sch.s in der Geschichte der Nationalokonomie. —
Joseph Schumpeter: Gustav Sch. und die Probleme von heute (Jahrbuch f. Gesetzgebung)
usw., 50. Jahrgang, 3. Heft (1926).
Berlin. Otto Hintze.
Schonleber, Gustav, Maler, * am 3. Dezember 1851 zu Bietigheim a. d. E.
(Wurttemberg) , f am 1. Februar 19 17 zu Karlsruhe i. B. — Seine Jugendzeit,
die 1870 abschlieBt, verlauft im Wechsel von Schulen, Aufenthaltsort und
Tatigkeit. Das ist gewissermaBen symptomatisch fiir sein spateres kiinst-
lerisches Schaffen, mit dem fast von Jahr zu Jahr wechselnden Schauplatz
seiner Studien fiir das Lebenswerk, das sich auf die suddeutsche Heimat, die
Nord- und Ostseekiiste, Italien und ganz Westeuropa erstreckt.
Schmoller. Schonleber Ijc
Die Unterklassen der Lateinschule wurden in Bietigheim besucht (1861 bis
1863), dann das Gymnasium in Stuttgart (1864 — 1866). Hierauf trat Sch.
in die Maschinenbaulehre (1866 — 1868) zu Hemmingen, danach kam er in
die Oberrealschulen zu Ludwigsburg und EBlingen (1868 — 1869) und 1869 an
das Polytechnikum zu Stuttgart, wo die Professoren Kurtz und Conz sein
zeichnerisches Talent erkannten und seine Begabung fur die Kiinstlerschaft
hervorhoben. In den Ferienzeiten waren gelegentlich Studienreisen ins Zaber-
gau, ins Hohenlohesche, nach Bebenhausen und anderen Orten gemacht
worden, deren zeichnerische Ergebnisse in den friihen Skizzenbiichern auf-
bewahrt werden.
1870 wurde der EntschluB gefaBt, sich ganz der Kunst zu widmen. Sch.
kam in der Lier-Schule zum rechten Lehrer und zu den rechten Studien-
genossen (Baisch und Wenglein). Lier hatte bei Dupre* die Leistungen der
Barbizon-Schule kennengelernt und nach Deutschland gebracht. Trotz seiner
Verehrung fiir den Lehrer und der Achtung vor den Strebensgenossen ge-
wann Sch. zunachst nicht allzuviel in der Lier-Schule. 187 1 brachte er aus
StraBburg ein Bild der zerschossenen Stadt, mit dem er gleich Erfolg hatte.
Im Sommer desselben Jahres ging er mit seinem Vetter Conz durch Tirol iiber
den Gardasee nach Verona und Venedig und zeichnete und malte allerhand.
Heimgekehrt, arbeitete er diese Studien zu Bildern aus, mit denen er seine
groBen ersten Erfolge erzielte. Die dekorativen Mannen mit Segelschiffen und
Staff age nebst bedeutendem Hintergrund, in Farbe und Aufbau etwas ganz
anderes als »Heimatkunst«, lenkten die Aufmerksamkeit der Kunstkreise auf
den jungen Maler. Seine Bilder gingen rasch in offentlichen und privaten Besitz
iiber. Das nachste Jahr (1872) brachte Sch. von Genua aus an der Riviera zu
und erwarb sich mit einer »Gasse in Genua « die Medaille auf der Wiener Welt-
ausstellung. Die atmospharischen Verhaltnisse an der Riviera sagten aber
Sch. nur »bei schlechtem Wetter « zu, das ihm die silbrigen Tone, Wolken und
dunkelfarbiges Wasser gab. Deshalb suchte er 1873 die hollandische Kiiste
auf und fand auch bei van der Meer und Mesdag Anregungen fiir seine Kunst,
die sich in Bildern und Zeichnungen von Rotterdam, Dordrecht und Sche-
veningen aussprachen.
In diesem Jahr erhielt er auch den Auftrag der Verlagsbuchhandlung
Ad. Kroner (Stuttgart) fiir Illustrationen zu einem Werk iiber die Nord- und
Ostseekiiste; diese Arbeit beschaftigte ihn, mit Reiseunterbrechungen nach
Italien, zwei Jahre (1875 und 1876). 1877 arbeitete Sch. in Chioggia und 1878
in Nordwestfrankreich und England, wo ihn Werke von Constable und Turner
fesselten. Zuriickgekehrt, studierte er die heimatliche Natur in EBlingen und
erwarb mit dem »Stadtgraben« 1879 in Miinchen die kleine goldene Medaille.
Die rasch sich folgenden offentlichen Erfolge lenkten die Aufmerksamkeit
weiter Kunstkreise auf den jungen, eigenartigen, tiichtigen Maler. Sch. wurde
1880 als Professor fiir Landschaftsmalerei an die Kunstakademie nach Karls-
ruhe berufen. Hier erwarb er durch seine Kunst und seine hervorragende Lehr-
gabe sich den hochsten Ruhm und die treue Anhanglichkeit einer groBen
Schiilerschaft, unter der Namen von hohem Klang zu finden sind. Von nun
an wechseln Sch.s Studienplatze regelmaBig zwischen Holland und Heimat
und auch Italien und Heimat. Den Charakter dieser drei Hauptgebiete hat
Sch. mit zunehmender Klarheit und Wahrheit in den folgenden Jahren immer
136 1917
starker herausgearbeitet. 1880 malte er in Antwerpen und Vlissingen, 1881
in Amsterdam und EBlingen, 1882 in Delft, Overschie und Dordrecht, sowie
in Schwaben, wo er sich 1882 zu EBlingen auch verheiratete.
Nun war der Boden fur die groBen Arbeiten in der Heimat, im Siiden und
im Nordwesten geschaffen. Die achtziger und neunziger Jahre brachten die
groBen, in Raum, Farbe und Stimmung dekorativen Werke, die Sch.s Namen
ilber Deutschlands Grenzen hinaustrugen, aber zugleich auch sein Schaffen
und Leben in Karlsruhe verwurzelten und die eigentliche Heimatkunst vor-
bereiteten. So entstanden Overschie (1882), die Mondnacht am Neckar (1883),
Rom (1884) und Heiligenberg fur den Fiirsten von Fiirstenberg. Dann trat
Italien wieder in den Vordergrund mit Venedig und der Riviera, mit der er
sich mit » Quinto at maren (1886) die groBe goldene Medaille holte. Hierauf
entstanden neben bedeutsamen Kiistenbildern von der Riviera hollandische
Strandbilder aus Vlissingen, Ostende und Amsterdam, deren bewegte Ge-
staltungen das sonst ruhige Schauen und Schaffen Sch.s ins Dramatische um-
bildeten. In die Jahre 1888/89 ^llt der Hausbau Sch.s in Karlsruhe, der nach
eigenen Planen durchgefiihrt und schlieBlich von der Hand des Freundes
W. Volz d. A. an der AuBenf ront mit phantastischen Fresken geschmiickt wurde.
Die tonigen, dramatisch belebten Bilder von der Kiiste der Nordsee, der
Riviera und des Kanals schienen noch einer Steigerung fahig zu sein. Sch.
glaubte diese an Englands Kiistengebieten zu finden und bereiste 1890 die
Siidkiiste, fand aber in dem regnerischen Sommer nur wenige ihm zusagende
Motive. Von Ventnor und Clovelly und Isle Fracombe brachte er Stoff zu
einigen Bildern mit. Die folgenden drei Jahre galten der venezianischen
Lagune (1891) und der Riviera (1892 und 1893). Namentlich der Aufenthalt
auf Castello di Paraggi bei Montefino war ertragreich. Sch. erreichte in diesem
Winteraufenthalt die hochste Steigerung im Farbigen und Dekorativen
(Meeresufer, Castello di Paraggi, Punta di Madonetta, S. Fruttuoso, Bei
Montefino usw.). Aber die nachstfolgenden Jahre boten im Studium der nahen
Heimat ein Gegengewicht gegen diese starkfarbige, oft an Bocklins Farben-
freudigkeit und Stimmungsfulle gemahnende Malerei. Sch. schlagt in den
Jahren 1894 und 1895 erstraals die Tone einer groBziigigen und intimen
Malerei an: die Studien zum Bild »StraBburg i. E. « und »Rothenburg« fur
den Reichstagssaal und zu »Besigheim« entstehen und werden zum Teil aus-
gearbeitet, so daB 1897 »StraBburg« in seiner monument alen und zugleich
mythisch-topographischen Fassung abgeliefert werden konnte. Dasselbe Jahr
lieB auch, nachdem Studien in Neapel, Capri, Sorrent, Amalfi, Rom und
Genua eindringlich intime Werke dieser siidlichen Welt hatten entstehen
lassen, das in Sch.s Heimatkunst entscheidende Werk heranreifen, das 1899 als
» Heimat « den vollen Zauber seiner intimen Landschaftsauf fassung entfaltet.
Die nachfolgenden Jahre sind dem eindringlichen Studium der siiddeutschen
Heimat (Kocher-, Jagst-, Neckar- und Donautal), sowie der flamischen Kiiste
bei La Panne und Sluis gewidmet. Hier vollendet Sch. die wundervoll spre-
chende Darstellung einzelner Schiffskorper, die wie lebende Wesen im Wasser
und im Schlick stehen. Dort werden jene ganz einfachen, naturgegebenen
Motive in die Bildform gebracht, die nur durch die technische Sprache der
bald zeichnerischen, bald malerischen Behandlung in die Poesie des Aus-
drucks gehoben werden. Sch. faBt mit diesen Werken die dichterische Art der
Schonleber 13 7
Uhland, Kerner und Morike in seiner Kunst zusammen; »Zwischen Himmel
und Erde« (1903), Dinkelsbuhl (1903), Sersheim (1904), Friihling in Sersheim
(1906). Wahrend der Studien in der Heimat und in Italien kam der Auftrag
an ihn, die den stromtechnischen Unternehmungen am Oberrhein zum Opfer
fallenden Laufenburger Schnellen noch ins Bild zu retten. Sch. entsprach dem
seitens der badischen Regierung geauBerten Wunsche und gewann nunmehr
dem Oberrhein, den er zu Anfang seiner Kunstlerlaufbahn und auch spater
ohne nennenswerte Bilderfolge besucht hatte, eine Reihe machtvoller Werke
aus der I^aufenburger Gegend ab. Zugleich entstand das im Reichstagsgebaude
aufbewahrte groBe »Rothenburg o. d. T. « (1907). Damit war in gewissem Sinn
ein AbschluB erreicht. Ein beginnendes Herzleiden lieB groBe Reisen nicht
mehr ratsam erscheinen. Nur noch zweimal ging er auf weite Studienf ahrt :
1909 nach Italien (Florenz, Rom, Porto d'Anzio) und 1912 nach Nieuport,
Ostende und Brugge. Sonsthin blieb er in der Nahe, zur Erholung und zum
Studium : Ebersteinburg (1910 und 1911), Baden-Baden (1913) und ins Kocher-
und Jagsttal (1914). Von 1910 — 1914 waren auch eine Reihe groBer Aus-
stellungen zu veranstalten und zu besichtigen (Rom, Stuttgart, Berlin, Weimar,
Jena, Miinchen usw.). Erholungsaufenthalte in Baden-Baden, im Hohenlohe-
schen, in Lichtental und Heidelberg (1913, 1914, 1915 und 1916) fielen da-
zwischen. Aber die Beunruhigungen wahrend des Weltkrieges, der den Sohn als
Arzt in den Lazaretten, den Schwiegersohn an der Front forderte, und die
iiber Karlsruhe haufigen Fliegeriiberfalle lieBen eine dauernde Genesung nicht
mehr zu. Am 1. Februar 1917 erlag Sch. seinem Herzleiden. Gedachtnis-
ausstellungen in Karlsruhe 1917, Stuttgart 1918 usw. offenbarten noch ein-
mal den Reichtum und die Vielseitigkeit des Sch.schen Konnens.
Sch.s Kunst ist eine vollig selbstwtichsige und eigenartige Sache. Man kann
seine Werke weder der Heimatkunst, noch der dekorativen Landschaft, noch
der historischen, stilistischen oder der naturalistischen oder poetischen Land-
schaftskunst zuschreiben, obgleich sie Elemente aus jeder dieser kiinstlerischen
Gestaltungsweisen hat. Es sind, kurz gesagt, durch Form, Farbe und Raum
verklarte Naturbetrachtungen, die ganz aus dem Erleben und aus der Ge-
staltungsweise des Meisters herausgewachsen sind und sich von den zeitlichen
Richtungen und Malweisen fernhalten.
Im Technischen des Bildaufbaues und des Farbenauftrags hat Sch. groBe
Wandlungen durchgemacht, ohne je sein Personliches aufzugeben. Von einem
anfanglich fast breiten und pastosen Farbenauftrag ging er nach und nach
zur sparsamen, hauchartigen und oft zeichnerisch wirkenden, verschmolzenen
Malweise iiber. Aus dem Wechsel und Gegensatz von kalten und warmen
Farben stellte er in jedem Bildzustand eine Harmonie her, die durch die
Ausgewichtung der Massen und Farbflecken wohllautend zum Beschauer
spricht. Beschaulichkeit und Harmonie der Farben sind die Grundsteine der
Sch.schen Kunst.
Sch. war Mitglied der Berliner, Miinchener und Dresdener Akademien. Aus-
stellungsmedaillen erster Klasse hatte er in Berlin, Miinchen und Wien und
auf allerhand kleineren Ausstellungen erhalten.
Von seinen Werken sind in offentlichem Besitz in Berlin (Nationalgalerie, Reichstag),
Breslau (Schles. Museum), Krefeld (Kaiser-Wilhelm-Museum), Darmstadt (L,andes-
museum), Dresden( Galerie), DiisseJdorf (Stadt. Kunsthalle), Frankfurt (Stadelsches
138 1917
Institut), Freiburg i. B. (Stadt. Samnilungen), Hamburg (Kunsthalle) , Hannover
(Provinzialmuseum), Karlsruhe (Landeskunsthalle), Mannheim (St. Kunsthalle),
Miinchen (Neue Pinakothek), (Miinster (Westf. Museum), Stuttgart (Galerie), Wien
(Mod. Galerie). Das meiste ist in Privatbesitz in Deutschland, Osterreich, Italien und
Amerika.
Der kiinstlerische NachlaC befindet sich bei Frau Professor Dr. Sch. in Stuttgart.
Literatur: Beringer, J. A., Bad. Malerei, Karlsruhe 1922. — Monographic: Jos. A.
Beringer, G. Sch., Karlsruhe 1924. — Fr. Pecht, Kunst f. Alle, is.Februar 1891. —
A. Rosenhagen, Velhagen & Klasings Monatshefte 1901. — O. Reutter, Die weite Welt
1901. — W. Schafer, Rheinlande 1906. — A. Spier, Die Kunst unserer Zeit 1909. —
A. Dobsky, Reclams Universum 191 1. — C. Storck, Tiirmer 1912. — A. Dobsky, Leipz.
111. Zeitung 191 3. — A. Spier, Kunst fur Alle 191 5. — J. A. Beringer, Deutsche Kunst
und Dekoration 1917. — H. O. Schonleber, Wiirttemb. Nekrolog, Archiv. — J. A. Be-
ringer, Skizzenbuch II, 1925, Stuttgarter Kunstverlag, sowie die Ausstellungskataloge
191 1 (Karlsruhe), 191 2 (Stuttgart), 191 7 (Karlsruhe) und 19 18 (Stuttgart).
Mannheim. Jos. Aug. Beringer.
Schroder, Richard Karl Heinrich, o. Professor der deutschen Rechtsgeschichte
in Heidelberg, * am 19. Juni 1838 zu Treptow in Pommern, f am 3. Januar 1917
in Heidelberg. — Richard Sch. war neben vier Schwestern der einzige Sohn
des leitenden Richters am Land- und Stadtgericht seiner Heimat, Kreisjustiz-
rat Sch., und dessen Ehefrau Ida, geborene Kolling. Das schwachliche Kind
durchlebte eine gliickliche erste Jugend im sonnigen Elternhause. Der Knabe
besuchte die Stadtschule in Treptow, wo er ein Liebling von Fritz Reuter ward,
der seinem Vater nach Art und Gesinnung verwandt war ; zeitlebens gedachte
Sch. dankbar Fritz Reuters, von dem er die Liebe zur Volkssprache empfing,
die dann in Sch.s Hingabe an die deutschen Quellen des Mittelalters wieder-
klingt. Die Schulzeugnisse ruhmen den FleiB und das musterhafte Betragen
des Schulers. Von 1851 bis 1857 besuchte Sch. das Gymnasium Anklam. Sein
Knabenwunsch war, Naturforscher zu werden. Doch sammelte er schon als
Gymnasiast Miinzen und begeisterte sich fiir die deutsche Vergangenheit am
Nibelungenlied. Abiturient geworden, wollte Sch. anfanglich in Bonn Jura
und daneben bei Simrock deutsche Philologie studieren, wandte sich dann
aber doch ausschlieBlich der Rechtswissenschaft zu. Seine juristischen Stu-
diensemester verbrachte er 1857 bis J868 in Berlin, einzig unterbrochen im
Sommer i860 durch ein Semester in Gottingen, wohin ihn das Seminar von
Georg Waitz lockte. Schon in Berlin hatte Sch. neben den juristischen Vor-
lesungen philologische und historische Kollegien besucht, Gotisch bei H. F.
MaBmann, mittelhochdeutsche Dichtung bei Moritz Haupt gehort. Von des
letzteren Vorlesung iiber die Germania des Tacitus fuhlte er sich besonders
angezogen; noch in spaten Jahren in Heidelberg hat er dieselbe, zusammen
mit dem Philologen Zangemeister, in einem reizvollen Doppelkolleg zu neuem
Leben erweckt. Die wissenschaftliche Grundrichtung nach dem deutschen
Recht hin gewann Sch. bei v. Richthofen, Homeyer und Beseler; Beseler, den
Systematiker des deutschen Privatrechts und warmherzigen Patrioten, be-
trachtete er spater als seinen eigentlichen Lehrer, zu dessen FuBen gleichzeitig
mit Sch. auch Otto v. Gierke (s. DBJ. 1921, S. in) saB. Vor allem aber durfte
Sch. in Berlin Jakob Grimm nahertreten ; von diesem fiel, um mit K. v. Amiras
Worten zu reden, »aus der Abendrote der germanistischen Heroenzeit ein
letzter Strahl auf seine wissenschaftliche Entwicklung«.
Schonleber. Schroder 130,
In Berlin wurde Sch. unter Beselers Dekanat 1861 zum Dr. jut. promo viert.
Es folgte eine zweijahrige praktisch-juristische Lehrzeit in Berlin und Stettin,
das erste Jahr war auBerdem durch den Militardienst als Einjahrig-Freiwilliger
ausgefullt. Schon in diese praktischen Vorbereitungsjahre reichen aber die
rechtsgeschichtlichen Erstlingsarbeiten herein; damals wurde Sch. der Ge-
hilfe von J. Grimm bei der Sammlung der Weistumer. Die akademische Lauf-
bahn erschloB sich dem Funfundzwanzigjahrigen 1863 zu Bonn durch seine
Habitation fur deutsches Recht, in dessen geschichtlichen und praktischen
Fachern. Sie brachte Sch. in raschem Zuge voran. Er wurde 1866 Titular-
extraordinarius und stieg bereits 1870 an der rheinischen Hochschule zum
o. Professor auf . 1872 wurde er als Nachfolger Dahns nach Wiirzburg be-
rufen ; er blieb seiner, der bayerischen Regierung gegebenen Zusage, dorthin zu
gehen, treu, trotzdem ihn unmittelbar darauf Angebote von StraBburg und
selbst von Berlin trafen. Ulrich Stutz berichtet als Zeugnis fiir Sch.s Be-
scheidenheit, er habe im Alter geauBert, »die Rollen seien damals wohl richtig
verteilt worden«. Gluckliche Jahre am frankischen Main waren jedenfalls sein
nachster Lohn. Noch dreimal hat dann Sch. seine Wirkungsstatte gewechselt.
Er zog 1882 doch an die junge Reichsuniversitat StraBburg und folgte 1885
einem Ruf nach Gottingen. Nach der »wunderschonen Stadt« hatte ihn sein
vaterlandisches Herz gelockt, nach Gottingen das Ansehen der Hochschule
und die Erinnerung an die eigene Studentenzeit. In StraBburg war er Heinrich
Brunners mittelbarer Nachfolger und R. Sohms (s. unten S. 150 ff.), seines
naheren Landsmannes, Kollege; in Gottingen ersetzte er H. Tohl, den Be-
griinder des Handelsrechts. Als O. Gierke 1888 von Heidelberg nach Berlin
ging, riickte Sch. an seine Stelle. t)ber 50 Lehrsemester waren ihm hier noch
beschieden. Als »der Heidelberger Schroder « zumal hat er seinen Ruhm be-
grundet, mit Heidelberg und dem geistig regsamen badischen Staatswesen
und Volkstum ist er eng verwachsen. Hier wurde der Vielgewanderte seBhaft.
Tausende junger Juristen horten ihn hier und verehrten ihn. Mitten heraus
aus seinem akademischen Wirken und Schaffen ist Sch. nach kurzem Kranken-
lager zu Beginn 1917 von uns gegangen.
Die Bedeutung Sch.s griindet sich auf den Reiz seiner Personlichkeit, auf
seine Qualitaten als akademischer Lehrer, auf seine rastlose Forschertatigkeit.
Dem Reiz der Personlichkeit erschlieBt sich zuerst der junge Musensohn.
Von Sch. ging dieser Reiz in hohem Grade aus, das ist das ubereinstimmende
Urteil aller. In ihm paarte sich der Ernst des Gelehrten mit der Giite des
Lehrers und der schlichten Art eines frohgemuten Menschen. Mit Gliicks-
giitern zeitlebens nicht gesegnet, muBte Sch. sich seine Stellung im Iveben
durch unausgesetzte Arbeit erringen. Von Anbeginn darum seine ausgedehnte
Lehrtatigkeit. Schon in Bonn wurde sein urspriinglicher Lehrauftrag auf
preuBisches Landrecht erweitert, auBerdem vertrat er mehrere Jahre an der
Akademie Poppelsdorf das Iyandwirtschaftsrecht fiir die angehenden rhei-
nischen Landwirte. In Wiirzburg las er mehrere Jahre auch Kirchenrecht.
Erst das Aufsteigen in bessere Gehaltsstufen machte seine Hande freier fiir
die Forschertatigkeit. Manchmal hat er sich zuviel zugemutet und muBte noch
am Ende seiner Gottinger Zeit infolge Uberanstrengung ein Jahr aussetzen.
Die Freude an arbeitsreicher Pflichterfiillung iibertrug Sch. auf seine Horer.
Dazu kam anderes. Ein warmfiihlendes deutsches Herz in des Germanisten
140 1917
Bnist ist vielleicht eine Selbstverstandlichkeit. Der religiose Grundton seines
Wesens paarte sich in dem iiberzeugten Protestanten, der noch in Heidelberg
Mitglied der badischen Kirchensynode wurde, mit Toleranz gegen Anders-
glaubige; aller Kulturkampferei war er abhold. Seiner politischen Gesinnung
nach war Sen. ein rechtsgerichteter Liberaler burschenschaftlicher Pragung
mit einem SchuB Demokratie, den ihm Fritz Reuter vererbt hatte. Er hielt
schon 1873 in Wiirzburg im Verein fur Volksbildung Vortrage. In Heidelberg
stand er jahrelang an der Spitze der Organisation des Roten Kreuzes zur Heran-
bildung freiwilliger Krankenpfleger.
Sein bescheidenes Wesen wurde durch auBere Ehrungen nicht uberheblich.
PreuBische, badische und bayerische Orden zierten seine Brust. Hoher standen
ihm wissenschaftliche Anerkennungen. Er wurde 1892 korrespondierendes
Mitglied der bayerischen, 1895 auswartiges Mitglied der hollandischen, 1900
korrespondierendes Mitglied der Berliner Akademie, 1909 bei Begriindung der
Heidelberger Akademie, wie sich von selbst verstand, auch deren ordentliches
Mitglied. 1893 verlieh ihm seine alte Gottinger Universitat die Wiirde eines
Dr. phil. h. c, 1908 die Universitat Miinster den Dr. rer. pol. h. c. Daneben
zollten ihm historische und andere Vereine ihren Dank durch Cbertragung der
Ehrenmitgliedschaft.
Niemals Einganger, war Sch. von Jugend auf Optimist in der Beurteilung
seiner Mitmenschen, gern schloB er Iyebensfreundschaften. DaB ihn solche mit
den fuhrenden Mannern seines eigenen Fachs verbanden, war sein besonderes
Gliick. Kein schonerer Beweis fiir seine groBe Auffassung der Freundschaft
als die Tatsache, daB Sch., als er mit H. Brunner (s. DBJ. 1914 — 1916, S. 119 ff.)
im Wettlauf an einer Gesamtdarstellung der deutschen Rechtsgeschichte ar-
beitete, dem Freunde die eigenen Druckbogen zur Verwertung fiir die Zwecke
des Konkurrenzwerkes zugesandt hat.
Aus der religios-sittlichen Grundlage von Sch.s Lebensfiihrung entsprang
jener heitere Frohmut, der Sch. zeitlebens auszeichnete ; darin ganz besonders
fiihlte er sich als Schiiler Reuters. Schon als krankelnder Knabe hatte er die
Schlagfertigkeit des Witzes gelernt, mit dem er das Hanseln seiner Kameraden
quittierte. Zu Heidelberg hob sich in den letzten Jahrzehnten seines Lebens
gegenuber der uberschaumenden Lebenslust der Pfalzer sein niederdeutscher
Humor oft prachtig ab. Im Kolleg und in geselliger Unterhaltung brach er
iiberall durch und erfreute die anderen. Viele Scherzgeschichten von ihm und
iiber ihn machten die Runde und leben heute noch ; selbst wenn sie ans Derbe
und Burleske grenzten, konnte sie ihm niemand veriibeln.
Allem Luxus abhold, liebte der bei einfacher Lebensfiihrung doch so gebe-
freudige Mann zeitlebens die Formen gemiitlicher Geselligkeit. Er war im
iibrigen zufrieden, wenn ihm das Leben fiir des Lebens Notdurft reichte.
Ein riihrender Zug seines treuen Familiensinns spiegelt sich in der Tatsache,
daB er, als sein Vater 1869 infolge einer Biirgschaft wider Erwarten iiber-
schuldet verstarb, jahrelang die nicht groBen Einkiinfte seiner Professur mit
dazu verwandte, diese Schulden des Vaters zu tilgen. Eine seltene Eignung
fiir Hauslichkeit zeichnete Sch. aus. Nachdem ihm seine erste Gattin, eine
Offizierstochter, die er als junger Berliner Student kennengelernt und nach
Jahren brautlichen Wartens 1866 heimgefiihrt hatte, friih gestorben war,
trauerte er der Toten elf Jahre nach und war indessen seinen Kindern ein
Schroder 141
treusorgender Vater. Erst 1895 fand Sch. in der Witwe seines Verlegers Saunier
von Stettin ein zweites Lebensgliick an der Seite einer alten Jugendliebe.
Wiederum war es eine ideale Heirat, die die vaterliche Fiirsorge fur die Stief-
kinder seinem schon vorher nicht leichten hauslichen Pflichtenkreis hinzu-
fiigte.
Fiir jeden Studenten hatte Sch. ein offenes Herz. Er schuf seine Werke
nicht in weltentriickter Einsamkeit eines genialen Geistes; lebensnah blieb
er stets ein Lernender nnd darum ein Freund der Jungen. Darum war er
auch kein Diktierprofessor, sondern schopfte in der Vorlesung mit Vorliebe
frei aus dem Erlebten und in sich Aufgebauten. Dabei konnte es seinem
Temperament passieren, dafl er sich vertat; das genierte ihn nicht, sich vor
seinen Studenten selbst zu verbessern. Da er alien etwas bieten wollte, hielt
er seine Vorlesungen so, dafi sie der Durchschnittsstudent mit Gewinn auf-
nahm. Nur die Unfertigkeit der Verhaltnisse in StraBburg und die Sprodig-
keit der Niedersachsen in Gottingen schien ihm voriibergehend den vollen
Lehrerfolg zu versagen. Ganz als freundlicher Lehrer gab er sich in seinen
Ubungsvorlesungen. Aus ihnen erwuchs eine seiner wertvollsten Veroffent-
lichungen, die »Urkunden zur Geschichte des Deutschen Privatrechts«, die
er in Bonn zusammen mit dem Freunde H. Loersch angelegt hatte und die
1874 als Festgabe fiir Waitz erschien. So besafl Sch. alle Eigenschaften eines
akademischen Lehrers.
Sch.s Forschung baute sich in klarer Gliederung auf. In ihrem AusmaB ist
sie ein Denkmal des Selbstvertrauens, der Beharrlichkeit und nie versagenden
GelehrtenfleiBes. Von einem wichtigen Einzelgebiet der Rechtsgeschichte ging
Sch. aus, als Synthetiker des Fachs beschloB er, vielfach bewahrt, sein reiches
Leben. Obwohl nicht ohne philologische Bildung, beschrankte sich Sch. im
wesentlichen auf die Rechtsgeschichte der deutschen Stamme. Er zog zwar
das angelsachsische Recht in seinem Erstlingswerk mit heran, iiberlieB aber
die Pflege des nordgermanischen Rechts anderen. Seit den Bonner Jahren
zeigte Sch. lebhaftes Interesse auch fiir die westlichen Grenzgebiete, schon
seit seiner Studentenzeit hatte er auf seiner akademischen Wanderung iiberall
Beziehungen zur landesgeschichtlichen Forschung gefunden. Er gehorte von
Anfang an der Gesellschaft fiir rheinische Geschichtskunde an. Er war Mit-
begriinder der Badischen Historischen Kommission, bei der er die Heraus-
gabe der Oberrheinischen Stadtrechte anregte und dabei selbst mitarbeitete.
Seine rechtsdogmatischen Interessen galten vor allem dem deutschen Privat-
recht, nachstdem dem Handelsrecht und Seerecht. Je tiefer er aber ins Leben
hereinkam, um so ausschlieBlicher wurde er ein fiihrender Forscher auf dem
Gebiet der deutschen Rechtsgeschichte.
Eine Preisaufgabe der Berliner Juristenfakultat, von Beseler gestellt, hatte
dem jungen Sch. den Weg zu seiner Forschung liber die Entwicklung des
ehelichen Guterrechts gewiesen. Die Preisaufgabe handelte von der Bedeu-
tung der Dos in den Volksrechten. Unter dem bescheidenen Kennwort
• Lehrstiick ist kein Meisterstiick« hatte sie Sch. der Fakultat eingereicht und
damit den Preis errungen. Die bei seiner Promotion gelieferte Interpretation
vom Sachsenspiegel-Landrecht III, 73, § 1, die dann 1863 in Bonn zur
Probevorlesung erweitert wurde und 1864 unter dem Titel »Zur Lehre von
der Ebenburtigkeit nach dem Sachsenspiegel« erschienen ist, fuhrte Sch. zu
142 1917
den Standefragen und zum beriihmten Rechtsbuch des Mittelalters. Dieser
doppelte Vorgang beleuchtet, wie sehr schon dem jungen Sch. die Fahigkeit
eignete, auf fremde Anregungen einzugehen und darauf weiterzubauen ; es
war jene geistige Beweglichkeit, die Sch. spater zum gewissenhaften Mentor
der Entwicklung einer ganzen Wissenschaft gemacht hat.
Allezeit stand fur Sch. die Herausarbeitung der Forschungsergebnisse un-
mittelbar aus den Quellen im Vordergrund, in zweiter Linie zog er darum
nicht weniger gewissenhaft die Literatur heran. So hatte er es bei Waitz
gelernt. Aber wie niemand Rechtshistoriker sein kann, ohne die Quellen zu
kennen und immer wieder vorzunehmen, so kann sich auch kein Rechts-
historiker der Bereitstellung der Quellen aus dem gedruckten, mehr noch
aus dem ungedruckten Material ganz entziehen, zumal in Sch.s Lebenszeit,
die gerade damit beschaftigt war, eine Fulle unbekannter Quellen aus den
Archiven zu heben. Auch Sch. nahm an dieser Herausgebertatigkeit Anteil,
ja er begann damit sehr friih. Wir vernahmen, wie der junge Doktor den
greisen J. Grimm bei der Herausgabe der Weistiimer, jenen vielgestaltigen
Denkmalern des Rechts von Dorfern und Grundherrschaften, unterstiitzt hat.
Kurz vor seinem Tod handigte Grimm 1863 dem eben nach Bonn ziehenden
Privatdozenten das Material fur Band V der Weistiimer aus. Die damals be-
griindete bayerische Historische Kommission betraute dann Sch. damit, unter
G. L. v. Maurers Leitung das Weistiimerwerk zu Ende zu fuhren. In sechzehn-
jahriger Arbeit hat Sch. das Vermachtnis des groBen Meisters erfullt, zwei
Bande Text und in Band VII die umfassenden Namen- und Sachregister her-
gestellt, die letzteren in ihrer Kleinarbeit der unentbehrliche Schliissel zu dem
reich aufgestapelten Material des Gesamtwerkes. Wiederholt hat Sch. diese
» iiber jede Beschreibung muhseligen Register «, ein Sisyphuswerk von 418 Seiten,
als die starkste Arbeitsleistung seines Lebens bezeichnet. Die Weistiimerarbeit
wirkte in Bonn auch noch nach anderer Richtung; hier gab Sch. Clevesche
und andere niederrheinische Rechtsquellen heraus und kam damit dem hoi-
landischen Quellenkreis und den dortigen Rechtshistorikern nahe. Sch.s Mit-
arbeit an den oberrheinischen Stadtrechten wurde schon gedacht; seit die
badische Historische Kommission 19*10 auch den Plan der Herausgabe badi-
scher Weistiimer faBte, bildete dessen Forderung Sch.s besondere Hoffnung
und Freude ; auf die Arbeit am Rechtsworterbuch, das gleichf alls eine Quellen-
erschlieBung groBten Stiles werden sollte, ist noch zuriickzukommen.
Seinen Namen als Rechtshistoriker von Rang hat Sch. durch zwei Haupt-
werke, die in vier Teilen herausgebrachte »Geschichte des ehelichen Giiter-
rechts in Deutschland« und sein »Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte*,
begriindet. Das erstere Werk ist im ganzen heute noch nicht libertroffen, es
hielt Sch. in Bonn und Wiirzburg neben der Weistiimerarbeit in Atem. Aus-
gebreitete Quellenkenntnis befahigte ihn zu dem Wagnis, von Beseler und
Waitz hatte Sch. den Hinweis auf die hohe Bedeutung der Urkunden, als
Niederschlag der Praxis, gerade fiir die Bearbeitung eines derartigen Gebietes
empfangen. Um Sch.s Rechtsgeschichte des Ehegiiterrechts gerecht zu be-
urteilen, mufl man, worauf Stutz aufmerksam macht, beachten, daft die An-
lage des Werkes zeitlich vor den entscheidenden Forschungen iiber die Ehe-
schlieBung liegt, die durch Friedberg und Sohm veranlaBt wurden. Man muB
auch bedenken, wie ungeklart damals noch die Grundlagen des alteren deut-
Schroder 1 43
schen Schuld- und Haftungsrechts waren, die in EheschluB und Ehevertrag
doch iiberall hineinragen.
Aus der Berliner Preisarbeit war Band I des Werkes, die Zeit der Volks-
rechte umfassend, geworden, 1864 als Habilitationsschrift erschienen. Unter
Verzicht auf die Heransarbeitung eines einheitlichen Urgiiterrechts, stellte
hier Sch. das Gebiet, wie es in der Verschiedenheit der Stammesrechte im
frankischen Zeitalter in die historische Erkenntnis eintritt, dar. Das Mundial-
guterrecht, ein AusfluB der vormundschaftlichen Stellung des Mannes iiber
die Frau, von Sch. nicht ganz glucklich mit dem seitdem herrschend gewor-
denen Ausdruck »Verwaltungsgemeinschaft<< bezeichnet, hatte Sch. in seiner
iiberragenden entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung wohl erkannt. Den
zweiten Teil des Werkes, das deutsche Mittelalter umfassend, gliederte Sch.
bei der Fulle des Stoffes nach Landschaften in drei Unterteile. Davon war
Teil I 1868 erschienen, eine fast vollige Neuschopfung, die das mittelalterliche
Ehegiiterrecht Siiddeutschlands einschlieBlich von Osterreich und der Schweiz
darstellte. In Teil III, 2 (erschienen 1871) behandelte Sch. die frankischen
Rechte mit ihren oberrheinischen Auslaufern; Teil II, 3 beschloB 1873 das
Werk mit der Darstellung der norddeutschen Giiterrechte des Mittelalters
von den Niederlanden bis zum Baltikum. Der ausbleibende buchhandlerische
Erfolg verleidete dem Verleger und Sch. selbst die Ausfuhrung eines urspriing-
lich geplanten III. Teiles, der die Entwicklung des ehelichen Giiterrechts von
der Rezeption des romischen Rechts bis zur Neuzeit behandeln sollte. Sch.
trostete sich mit der relativen Diirre dieser Rechtsperiode der Romanisierung
und der Erstarrung. GewissermaBen als Ausklang bot Sch. ein Gesamtbild in
einer Abhandlung der Historischen Zeitschrift: »Das eheliche Giiterrecht und
die Wanderungen der deutschen Stamme im Mittelalter* (1874). Dagegen
plante Sch. noch 1874 ein dogmatisches Werk iiber das geltende eheliche
Giiterrecht und machte sich begriindete Hoffnung, fur diesen Abschnitt des
Familienrechts in die Kommission zur Ausarbeitung des Biirgerlichen Gesetz-
buchs berufen zu werden. Sch. legte 1874 und 1875 dem deutschen Juristen-
tag Gutachten iiber die zweckmaBigste Ausgestaltung des ehelichen Giiter-
rechts im neuen Reichszivilgesetzbuch vor, erlebte aber dabei eine doppelte Ent-
tauschung: weder fand das von ihm zunachst vorgeschlagene Regionalsystem,
das den einzelnen Landschaften ihr traditionelles Giiterrecht belassen sehen
wollte, allgemeine Billigung; noch auch, als Sch. dem auf nationale und prak-
tische Griinde gestiitzten Drangen nach groBerer Vereinheitlichung des Giiter
rechts nachgab, sein Vorschlag, eine erweiterte Errungenschaftsgemeinschaft
als normalen gesetzlichen Giiterstand in den Mittelpunkt des neuen Rechts
zu stellen. So kam Sch. weder in die Kommission, noch gewann seine sachliche
Auffassung die Oberhand, die »Verwaltungsgemeinschaft« hatte gesiegt. Doch
geht es auf einen Antrag, den Sch. 1876 auf dem Juristentag zu Salzburg ver-
trat, zuriick, wenn das Biirgerliche Gesetzbuch neben dem gesetzlichen Giiter-
stand die anderen Hauptsysteme des deutschen ehelichen Giiterrechts als
sogenanntes dispositives Giiterrecht zur Erleichterung der Ehegatten beim
AbschluB von Ehevertragen gleichfalls normierte. Getreu seiner vornehmen
Gesinnung hat iibrigens Sch. auch weiterhin die Arbeiten am Entwurf zum
Biirgerlichen Gesetzbuch durch Einzelaufsatze befruchtet und es 189 1 auf
dem Juristentag durchgesetzt, daB die Verwaltungsgemeinschaft, statt in der
144 I9I7
romanistischen Gestaltung des sachsischen Biirgerlichen Gesetzbuchs in einer
mehr deutschrechtlichen Formulierung ausgestaltet wurde. Auch der Ein-
biirgerung des neuen Rechts leistete der Meister des ehelichen Giiterrechts
durch eine gemeinverstandliche, wiederholt aufgelegte Darstellung des letz-
teren, wie es Gesetz geworden war, gute Dienste. Aber der Plan einer dog-
matischen Darstellung des geltenden Ehegiiterrechts war von Sch. iiber den
gemachten Erfahrungen endgiiltig begraben worden.
An Fragen des geltenden Rechts interessierte Sch., wie schon angedeutet,
auBer dem ehelichen Guterrecht hauptsachlich das Handels- und Seerecht.
Seine Textausgabe des Handelsgesetzbuches, eine Frucht der Bonner Jahre,
erlebte zahlreiche Auflagen; in zwei derselben lieB er das Buch als ^Corpus
juris civilis fur das Deutsche Reich und Osterreich, erster Teil« hinausgehen
und lieB diesem ersten Teil 1877 in einem Teil 2 die privatrechtlichen Neben-
gesetze beider Reiche folgen. Dem Verfechter des deutschen Privatrechts
schwebte damit der in unseren Tagen wieder aufgenommene Plan vor, durch
solche Zusammenfassung die innere Zusammengehorigkeit des deutschen und
des osterreichischen Rechts zu pflegen. Mit besonderer Liebe, die sich auch
im Handelsrechtskolleg auBerte, gab sich Sch. als Mann von der Waterkant
den seerechtlichen Fragen hin, in deren Nonnenwelt so viel altdeutsches Recht
enthalten ist ; fur W. Endemanns Handbuch des Handelsrechts bearbeitete
er 1882 bis 1884 eine groBere Anzahl seerechtlicher Kapitel in mustergultiger
Darstellung.
Von der Geschichte des ehelichen Giiterrechts aus aber reifte in Sch. das
zweite Hauptwerk, das seinen Namen in den weitesten Kreisen bekannt machte,
das »L,ehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte«. Wohl hat Sch. vor und nach
seinem Erscheinen noch wiederholt rechtsgeschichtliche Einzelfragen behan-
delt, die ihm teils, wie die Abhandlung iiber die Erbsalzer zu Werl (1872),
aus Rechtsgutachten auf landesrechtsgeschichtlichem Gebiet erwuchsen, teils
aber auch wissenschaftlicher Neigung entsprangen: so die Arbeiten (1867 bis
1870), in denen er als Freund der Literaturdenkmaler, einer Anregung
Simrocks folgend, die deutsche Dichtung des Mittelalters in den Dienst der
Rechtsgeschichte zog, oder seine Heidelberger Rektoratsrede iiber die deutsche
Kaisersage (1891); so seine verschiedenen Beitrage zu den Rechtsbiichern
(1869 — ^92)» von denen ihn besonders der Sachsenspiegel und die im Halb-
dunkel der Vergangenheit verschwimmende Gestalt Eikes v. Repkow anzogen.
Zu den komplizierten Fragen der sachsischen Gerichtsverfassung und des
Standewesens nahm Sch. (1884) in einem seiner reifsten Aufsatze Stellung,
der als StraBburger Festgabe fur G. Beseler erschien. Als Otto v. Zallinger die
Standegliederung Eikes in ihrer Realitat in Zweifel zog und darin eine sub-
jektive standerechtlich interessierte Spekulation des Verfassers des Rechts-
buchs vermutete, fand er bei Sch. wohl iiber Gebiihr Zustimmung. Noch in
den letzten Zeiten seines Lebens hat Sch. bei der Neubearbeitung seines Lehr-
buchs fur die 6. Auflage kaum einem anderen Gebiet ein so lebhaftes Interesse
zugewandt, wie den Fragen der sachsischen Standegeschichte und Gerichts-
verfassung. Sch.s lebhaftem Sinn fur Symbol und Wort im Recht entsprangen
seine Arbeiten zur Roland-Forschung (1890 — 1906), in denen es freilich frag-
lich erscheint, ob er der sogenannten Spieltheorie von Heldmann und Jostes
gerecht wurde, sowie seine Aufsatze zur Bedeutung der Marktkreuze, die ihn
Schroder 145
im Streit der Stadtrechtstheorien an die Seite der Marktrechtstheorie und
damit an die Seite seines Freundes Sohm drangten. Zu der Ausgabe von
K. Zeumers frankischen Urkundenformeln steuerte Sch. wertvolle Beitrage
bei (1883 — 1892), die vor allem dem Wirken des Erzbischofs Arno von Salz-
burg galten.
Doch waren alle diese und andere Arbeiten, von denen noch Sch.s Unter-
suchungen zum frankischen Recht, Vorstudien zu einem geplanten Werk
iiber die Franken, genannt seien, die in der Abhandlung »Die Franken und ihr
Recht* (1881) ihre Bekronung fanden, Parerga zu Sch.s Deutscher Rechts-
geschichte. Die Anregung zur letzteren kam ihm schon in den Bonner I^ehr-
jahren von keinem Geringeren als von Friedrich Althoff ; begonnen hat Sch.
mit der Ausarbeitung in StraBburg, in der auptsache fertiggestellt wurde
das Werk in Gottingen, vollendet in Heidelberg.
Es war ein einzigartiges Zusammentreffen, daB, wie schon bemerkt, zwei
so angesehene Forscher, ' . Brunner und Sch., zu gleicher Zeit demselben Ziele
zusteuerten. Sicherlich war von beiden Brunner der groBere und scharfsinnigere.
Aber wahrend dieser von Anfang an auf ein universales Handbuch abzielte,
fur das er dann nur die der germanischen und frankischen Zeit — auch letztere
mit AusschluB des Privatrechts des Zeitalters — gewidmeten Bande vollenden
durfte (s. a. a. O., S. 123), gelang Sch. der Wurf, das Ganze der deutschen
Rechtsgeschichte bis herab zur Schwelle der Gegenwart zu meistern. Wohl
lag auch bei ihm von vornherein das Schwergewicht der Darstellung in den
mittelalterlichen Perioden der nationalen Rechtsentwicklung. In den folgen-
den Auflagen aber beseitigte er immer mehr das Skizzenhafte, das zunachst
seiner Darstellung der Rechtsgeschichte der Neuzeit anhaftete.
Durch sein I^ehrbuch war der Jurist Sch. mit einem Schlag auch in den
Kreisen der Historiker beruhmt, war sein Buch ein unentbehrliches Hand-
werkszeug aller rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung geworden
und hat diese Geltung dank der nie rastenden Verbesserungsarbeit seines Ver-
fassers bis iiber dessen Tod hinaus behalten. Dieses Buch ersetzt »zugleich
die fehlende Bibliographic der deutschen Rechtsgeschichte « bis heute. Wohl
hat Sch.s Schmiegsamkeit gegenliber neuen Forschungsergebnissen, die doch
das schonste Zeugnis seiner wissenschaftlichen Aufgeschlossenheit und Ehr-
lichkeit ist, die Einheitlichkeit der Darstellung allmahlich beeintrachtigt —
Wichtiges steht heute im Anmerkungsapparat, was bei urspriinglicher Beriick-
sichtigung sicherlich im Text Platz gefunden hatte — , als Lebenswerk Sch.s,
und als getreuer Spiegel der reichen Entwicklung des Fachs wird sein Lehr-
buch stets fortleben, mag auch allmahlich die Zeit eine von Grund aus neue
Schopfung ahnlicher Art gebieterisch verlangen. Und noch eines, worauf Ulrich
Stutz mit Recht abhebt: die Neigung mancher Modernen, alles bisher Erarbei-
tete in Zweifel zu ziehen, hat Sch. manchmal verbittert und ihn zum Mahner
und Warner gemacht. Gleichwohl hat er die Grenzen maBvoller Auseinander-
setzung, er, der personlich niemandem bose sein konnte, kaum je iiberschritten.
AuBerungen des Zornes und der Entriistung lieB er miindlich in seinen vier
Wanden verrauchen, stets zur Versohnung bereit und als Vermittler gern
gesehen. v. KiinBberg berichtet, daB er »eine sarkastische Vorrede mit Hor-
nern und Zahnen« noch kurz vor dem Druck abgemildert habe.
Als eine groBe Geldstiftung die Berliner Akademie instand setzte, auf
dbj 10
I46 1917
Heinrich Brunners und K. v. Amiras Vorschlag der Herausgabe eines Worter
buchs der deutschen Rechtssprache naherzutreten, und dam it einem Bediirf-
nis der rechtsgeschichtlichen Forschung abzuhelfen, erschien keiner besser
geeignet, das neue Unternehmen zu leiten, als Sch., der Mann des Lehrbuchs
und der feinsinnigen Forschung, der zugleich durch seine Registerarbeit an
Grimms Weistumern den Befahigungsnachweis zur Bearbeitung eines Rechts-
worterbuchs erbracht hatte. In der Sitzung der Berliner Akademie vom
3./4. Januar 1897 ubernahm Sch. die wissenschaftliche Leitung. »Mit Feuer-
eifer ging der beinahe Sechzigjahrige an die Arbeit «, so berichtet v. KiinBberg,
der ihm bei derselben bald am nachsten stehen durfte. t)ber den Fortgang
der Vorarbeiten, die in rasch anschwellendem Tempo die Schatze der deut-
schen Rechtssprache in die Heidelberger Werkstatt sammelten, erstattete Sch.
seitdem alljahrlich Bericht. Aus der Exzerptorentatigkeit, an der Sch. selbst
ruhrigen Anteil nahm, entstand allmahlich in Heidelberg das Archiv des
Rechtsworterbuchs mit mehr als einer Million Zetteln. Die Vollendung zogerte
sich hin. »Hatten die Freunde urspriinglich gedacht, in zwolf Jahren das
Werk vor sich zu sehen, so auBerten sie nach zehn Jahren nur mehr bescheiden
die Hoffnung, vielleicht den Anf ang noch zu erleben. « Freilich war die Kraft
Sch.s bei herannahendem Alter nicht mehr voll ausreichend, um der Arbeit
am Rechtsworterbuch die fur seinen friiheren AbschluB erforderlichen Im-
pulse zu geben. Sch. selbst lieB wohl den Artikel Weichbild in wiederholter
Bearbeitung als Probeartikel erscheinen. 1912 gab er ein Quellenheft und 1914
sogar ein erstes Heft von Band I des Werkes selbst heraus, starb aber liber
dem durch den Kriegsausbruch verlangsamten Druck des zweiten Heftes.
Die Arbeitsgenossen am Rechtsworterbuch hatten Sch. noch zum 70. Geburts-
tag (1908) mit einer Sammlung »Beitrage zum Worterbuch der deutschen
Rechtssprache « iiberrascht; es war seine groBte Geburtstagsfreude, lieB doch
dieses Heft den Jubilar und die wissenschaftliche Welt »die Fiille und Tiefe
der noch zu hebenden Schatze ahnen«. Aber bei seinem Tod hinterlieB Sch.
in der Hauptsache nur den Torso des gewaltigen Zettelarchivs, dessen Be-
meisterung im engeren Rahmen jetzt geplant ist. Gleichwohl behalt G. Roethe
recht, wenn er dem verstorbenen Freund in den Berliner Sitzungsberichten
nachrief : »Wie er mit ungetriibter SiegesgewiBheit den Gefahren und Schwan-
kungen des Krieges sicheren Herzens zuschaute, so leitete ihn auch bei seiner
Arbeit am Deutschen Rechtsworterbuch ein frohgemutes Zutrauen zum guten
Erfolg, das er auf alle seine Freunde und Mitarbeiter ausstrahlte. Brunner
und er haben als die eigentlichen Vater des Deutschen Rechtsworterbuchs zu
gelten : ihr Name ist mit seiner Geschichte wurzelhaft verwachsen. « Und doch
werden wir schlieBlich Ulrich Stutz darin recht geben, daB Sch. mehr zum
Eigenforscher als zum Organisator geschaffen war, eine Tatsache, die Ulrich
Stutz auch an Hand der Schicksale der Zeitschrift der Savigny-Stiftung illu-
striert, deren deutschrechtliche Abteilung Sch. von 1886 bis 1897 geleitet hat,
ohne daB es ihm gelungen ware, namentlich den Literaturteil zu einer voll-
standigen und hochwertigen Uberschau der Neuerscheinungen zu gestalten.
So wird Sch. in der Gelehrtengeschichte der deutschen Rechtsgeschichte
als Lehrer und als Forscher von Format fortleben. Wohl iiberstrahlt ihn der
Ruhm anderer, die zu seinen Zeiten Bahnbrechenderes auf dem Gebiet der
Deutschen und der Germanischen Rechtsgeschichte geleistet haben. Was ihm
Schroder. Simson 147
aber keiner streitig macht, ist die Schopfung des Gesamtbildes seiner Wissen-
schaft und ihres jeweiligen Forschungsstandes in den sechs Auflagen seines
Lehrbuches, und ist der Reiz einer bedeutenden menschlichen Personlichkeit,
deren Kardinaltugenden Gute, ein mit Frohsinn selten gepaarter Lebensernst
und beharrlicher FleiB gewesen sind.
Literatur: Biographisches iiber Sch.: Karl v. Amira (Jahrb.d.bayer. Akad.d.Wissen-
schaften 1917, S. 80 — 87) ; Ernst Heymann (Deutsche Juristenztg. 1917, Spalte 206 — 208) ;
Eberhard Frhr. v. Kiinflberg (Ztschr.f.d. Gesch. d. Oberrheins, Neue Folge, Bd. 32, 1917,
S. 330 — 334); Ernst Landsberg (Gesch. d. dtsch. Rechtswiss. Ill 2, 1910, S. 898!.);
K. Lehmann (Ztschr. f. d. ges. Handelsrecht, Bd. 80, 1917. S. 439 f.) ; Gustav Roethe
(Sitzungsber. d. Berliner Akad.d.Wiss. 191 7, S. 97); Ulrich Stutz (Ztschr. d. Savigny-
Stiftung f. Rechtsgesch., Germ anist. Ab tig., Bd. 38, 191 7, S. 1 — 45; auch separat er-
schienen Weimar 191 7 mit Bild).
Munchen. Konrad Beyerle.
Simson, Paul, Professor, * am 5. Februar 1869 in Elbing, f am 6. Januar 1917
in Danzig. — Als Sohn wohlhabender Eltern geboren, verlebte S. seine erste
Jugend in dem schonen, freilich gegen Danzig nicht aufkommenden Elbing,
bis Ende der siebziger Jahre seine Eltern nach Danzig iibersiedelten. Die
Sommeraufenthalte in dem reizenden See- und Haffbadeorte Kahlberg gaben
seiner groBen und ihn fur das ganze Leben begleitenden Freude an der Natur
die erste Nahrung. In Danzig, das damals noch von dem jahrhundertealten
Festungsgurtel eingeengt war, erschlossen sich den Augen des Jungen staunen-
erregende Bilder. Die engen malerischen Gassen, die hochgiebeligen Hauser,
die stattlichen offentlichen Gebaude und Kirchen, vor allem die Marienkirche,
alle diese Zeugen einer groBen geschichtlichen Vergangenheit muBten in der
Seele des aufgeweckten Knaben tiefe Eindriicke hervorrufen, die den Sinn
fur die geschichtliche GroBe seiner neuen Heimat wecken und dauernd an-
regen konnten. Es blieb denn auch nicht aus, daB er sich bald mit Gleich-
gesinnten in immer fester sich gestaltender Gemeinschaft im Elternhause zu-
sammenfand, wo man durch schriftliche Arbeiten, Vortrage mit oft recht
stiirmischer Aussprache dem, was die Eindriicke der alten StraBen und ihrer
Vergangenheit in den jungen Seelen angeregt hatten, Ausdruck gab. Diese
geistige Vereinigung iiberdauerte die Schule, ja sie iibte noch in der Studenten-
zeit ihre einigende Kraft auf die zu den Ferien heimkehrenden Musen-
sohne aus.
Seine wissenschaftliche Ausbildung begann im Jahre 1876 im Koniglichen
Gymnasium in Elbing, wurde in Danzig im Koniglichen Gymnasium fort-
gesetzt und fand ihren ersten AbschluB im Jahre 1887, wo er mit dem Reife-
zeugnis die Schule verlieB, um sich dem Universitatsstudium zu widmen.
Welchem Zweige der Wissenschaft, war ihm selber noch nicht recht klar. Es
drangte ihn nur mit elementarer Gewalt hinaus, und der Vater, obgleich
Kaufmann, legte dem mehr zum Gelehrten als zum Handelsleben veranlagten
Sohne keinerlei Schwierigkeiten in den Weg, stellte nur die einzige Bedingung,
daB er sich dem Lehrberufe widmen solle. So entschloB sich S. zum Studium
der Philologie, wobei aber die Geschichte von Anfang an im Vordergrunde
stand. Sein erstes Ziel war Heidelberg, wo er, wie er oft freudig erzahlte, die
schonsten Monate seines Lebens verbrachte, und seine Zeit zwischen fleiBigem
I48 1917
Studium und froher studentischer Ungebundenheit, zwischen Kolleghoren und
Ausfliigen in lustiger Gesellschaft in das bliihende Neckartal oder in den
Odenwald teilte. Die zwei folgenden Semester verbrachte S. in Konigsberg
und folgte auch hier seinem ihn im ganzen Leben treu begleitenden Drange,
fleiBiges Studium, namentlich der Geschichte, mit Wanderungen in der Natur
zu verbinden.
Von Konigsberg aus besuchte er die Universitat Leipzig. Den AbschluB
seiner Studien bildete ein Aufenthalt in Berlin im Jahre 1891. Hier promo-
vierte er mit einer Arbeit aus der Danziger Geschichte, und zwar aus einem
Gebiete, das ihn gleich mitten in das groBe Ringen der Stadt im sogenannten
dreizehnjahrigen Kriege (1454 — 1466) fiihrte.
Nach Beendigung der Studien und Ablegung des philologischen Staats-
examens fiir Geschichte, Geographie und Deutsch, zu denen durch eine Er-
ganzungspriifung im Jahre 1894 auch Lateinisch kam, sowie nach Ableistung
seiner militarischen Dienstpflicht (1892/93) trat er in Danzig am 1. April 1894
als junger L,ehrer beim Stadtischen Gymnasium ein, ging aber schon 1895
zu dem damaligen Realgymnasium St. Petri iiber. Ihm gehorte er dann bis
zu seinem Tode an und unterrichtete da in Geschichte, Geographie und Deutsch
und, soweit sie in Betracht kamen, in den humanistischen Fachern. In beson-
derer Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen wurde ihm schon im
Jahre 1906 der Titel Professor verliehen, obgleich er seinem Alter nach noch
lange nicht an der Reihe gewesen ware.
Alljahrlich schiittelte er, sobald die Schulpforten sich geschlossen hatten,
den Staub der Stadt ab und eilte in die Ferae hinaus, viele Jahre hindurch
wie ein Zugvogel nach den Tiroler und Schweizer Alpen, von denen er nament-
lich die ersteren nach alien Seiten durchstreifte. Andere Reisen fuhrten ihn
durch die freundlichen Stadte Siiddeutschlands, oder die Versammlungen des
Hansischen Geschichtsvereins in den Pfingsttagen nach den Stadten Nieder-
sachsens. Im Friihling 1914 erfullte sich ihm ein langjahriger Sehnsuchts-
wunsch durch eine Reise nach Italien, auf die er sich griindlich vorbereitete,
und die fiir ihn eine Quelle hochsten Genusses wurde, obwohl er durch einen
ungliicklichen Zufall in der Villa Adriana bei Tivoli sich eine Knieverletzung
zuzog, die ihn wochenlang an das Deutsche Krankenhaus in Rom fesselte.
Sein Weg fiihrte ihn bis Neapel, und von der unverganglichen Schonheit der
naheren und weiteren Umgebung dieser Stadt der Freude, von Sorrent, Capri,
Amalfi und den Herrlichkeiten Pompejis konnte er, genuBfahig wie er war,
sich in Erzahlungen nicht genug tun.
Und doch nagte auch an diesem starken Baume ein Wurm, der ihn eher
fallen sollte, als irgend jemand geahnt hatte. Eine schwere Blinddarmerkran-
kung im Jahre 1901, die mehrere Operationen ndtig gemacht hatte, und dauernd
ihre Spuren hinterlieB, scheint auch unter Hinzutritt einer Phlegmone der
Ausgangspunkt seiner todlichen Erkrankung geworden zu sein.
S.s Bedeutung fiir die Danziger Geschichtschreibung ist auch heute noch,
obgleich manche seiner Forschungsergebnisse im einzelnen vielleicht iiberholt
sind, auBerordentlich groB, ja man kann wohl sagen, er ist der erste groBe
Danziger Historiker nach einem Jahrhunderte des Stillstandes geworden. Alle
seine Arbeiten sind der AusfluB zweier grundlegenden Eigenschaften seines
Charakters. Neben durchdringendem Verstande, staunenswertem Gedacht-
Simson I4Q
nisse selbst fiir die kleinste Einzelheit und feinem Gefiihle ftir die inneren
Zusammenhange des geschichtlichen Werdens, eiserner unbeugsamer FleiB,
der vor keiner noch so groBen Arbeit zuriickschreckte, und eine Griindlichkeit
und Gewissenhaftigkeit, die sich nie genug tun, keiner, auch der schlimmsten
Schwierigkeit nicht, ausweichen konnte, sondern jede Frage griindlich priifte,
und darum auch nie vor Bergen von Arbeit zuriickschreckte, die einen anderen
hatten verzagen lassen.
Sein Lebenswerk, die Geschichte Danzigs zu vollenden, ist ihm leider nicht
vergonnt gewesen. Mitten aus der Arbeit heraus hat ihn der Tod abgerufen,
und so ist das groBangelegte Werk ein Bruchstuck geblieben, von dem nur
die beiden ersten Bande (bis zum Jahre 1626) nebst einem Urkundenbande
fertig wurden. Und selbst von diesen ist nur der erste Band und ein Heft des
zweiten bei seinen Iyebzeiten erschienen, der Rest erst nach seinem Tode von
dem Direktor der Stadtbibliothek, Professor Dr. Gunther, und mir nach seinem
Manuskripte herausgegeben worden. Erstaunlich ist die Fiille von Aufsatzen
in den verschiedensten wissenschaftlichen Zeitschriften, die alle die Vorziige
der S.schen Griindlichkeit zeigen. Manche von ihnen konnten getrost als
selbstandige Werke gelten. So der Aufsatz: WestpreuBens und Danzigs Kampf
gegen die polnischen Unionsbestrebungen in den letzten Jahren des Konigs
Sigismund August (1568 — 1872), oder seine Geschichte der Schule zu St. Petri
und Pauli in Danzig. Grundlegend ist noch heute seine Geschichte der Danziger
Willkur, der Artushof in Danzig und seine Briiderschaften, die Banken, sowie
sein grofles Danziger Inventar (als dritter Band hansischer Archive des
16. Jahrhunderts vom Vereine fiir hansische Geschichte herausgegeben). Alles
Werke, von denen jedes allein einem Manne Ehre machen konnte.
Dabei war S. alles eher als ein weltfremder, trockener Stubengelehrter. Im
Gegenteile, sein aufs Praktische gerichteter Sinn lieB ihn auch mit den Lebenden
leben, in den Fragen des Tages seinen Mann stehen, ob er als Stadtverordneter
oder als Mitglied eines politischen Vereins, von dem Vertrauen seiner Mit-
biirger getragen, oder in einem neben rein asthetischen auch sehr praktischen
Fragen dienenden Vereine, wie dem zur Erhaltung der Bau- und Kunstdenk-
maler der Stadt Danzig, als langjahriger Vorsitzender tatig war.
Und wie er als Gelehrter von Einseitigkeit frei, menschlich verstandnisvoll,
eine harmonische Personlichkeit war, so besaB er auch nicht zum wenigsten
als Lehrer der Jugend die Gabe liebevollen Begreifens und Eingehens auf die
Regungen der jugendlichen Seele, verstand er es mit der Jugend jung zu bleiben
und auch ihren Torheiten, wenn sie nur nicht Roheiten waren, freundliche
Seiten abzugewinnen. Dabei war er als Lehrer streng und stellte groBe An-
spriiche an seine Schiiler. Aber wie er ihnen den Stoff interessant zu gestalten
wuBte, so war er auch in seinem Urteile gerecht und unabhangig von person-
licher Ab- und Zuneigung. Darum liebten ihn seine Schiiler auch, wie das
zahlreiche Briefe ehemaliger Schiiler aus dem Felde im groBen Weltkriege
deutlich zeigen.
So lebt S. im Gedenken aller derer, die ihn liebten und verehrten, nicht nur
als hervorragender Gelehrter, sondern auch als Mensch, der, mit reichen Gaben
des Herzens und Geistes ausgestattet, in straffer Selbstzucht sich zur Hohe
wahrer Humanitat emporgearbeitet hatte, fiir alle, die seine Hilfe brauchten,
als stets gewissenhafter Berater und treuer Heifer, der aus dem reichen
150 1917
Schatze seines Wissens selbstlos und verschwenderisch seine Gaben austeilte.
Sein Tod ist auch heute noch ein nicht ausgeglichener Verlust fur die ganze
wissenschaftliche Erforschung der groBen Vergangenheit Danzigs.
Literatur: Kaufmann, Paul S., in den Mitteilungen des WestpreuCischen Geschichts-
vereins, Jahrgang 16, Nr. 2, wo auch eine genaue Bibliographic seines gesamten Schaffens
zusammengestellt ist.
Danzig. Karl Josef Kaufmann.
Sohm, Gotthard Julius Rudolf, Professor der Rechte in Leipzig, German ist,
Kirchenrechtshistoriker, Rechtsphilosoph, * am 29. Oktober 1841 in Rostock,
f am 16. Mai 1917 in Leipzig. — Rudolf S. war im tiefsten Grunde seines Wesens
eine religiose Natur. Religios im zwief achen Sinne : erf ullt von der Liebe und
Hoheit des lebendigen Gottes (Gotteskindschaft, nicht Gottesfurcht!) und be-
seelt vom Glauben, da£ hochste Erkenntnis und reinste Wahrheit aus der
Intuition stammen. Das sind die Grundpfeiler, auf denen S.s Arbeit und Leben
ruhte. Von ihnen ist er niemals abgewichen. Ihnen verdankt er das GroBartige,
wie auch das Einseitige seiner Schopfungen. Alles, was zu diesen Grund-
pfeilern hinzutritt, ist Mauerwerk. Es fullt und macht reicher und vielgestal-
tiger. Aber es andert das Wesen des gesamten Aufbaues nicht.
S.s Vater war Advokat, spater Landesarchivar in Rostock ; dessen Ehef rau,
Auguste Sofie Friederike war eine geborene Walter. Der Spruch, den der junge
Konfirmand bei seiner Einsegnung in der Kirche zu Rostock erhielt, kann als
Leitmotiv fiir sein ganzes Leben angesehen werden : » Verteidige die Wahrheit
und das Recht bis an den Tod, so wird Gott der Herr fiir dich streiten« (Sirach
4» 33)- So war es: S. fuhlte sich als GefaB des Herrn, als ein Kampfer, dessen
Waff en Gott fuhrte. Wer seine kirchenrechtlichen Schriften aufmerksam liest,
wird an dieser Einstellung nicht zweifeln. An Ostern im Jahre i860 machte
er an der »Gro£en Stadtschule« sein Gymnasialexamen, das er mit der Note I
bestand. Bald darauf erkrankte er an einem schweren Typhus, erholte sich
jedoch relativ rasch und konnte im Oktober i860 als Student der Rechte an der
heimatlichen Universitat immatrikuliert werden. Den groBten Eindruck machte
dem Akademiker mit den f rischen klaren Augen der Jurist Wetzell. Im Winter-
semester 1861/62 begab er sich nach Berlin (dort starker EinfluB Bruns), im
Sommersemester 1862 nach Heidelberg (nachhaltiger EinfluB Vangerows),
dann bis 1864 wieder nach Rostock, wo nun Bohlau wesentlich auf ihn wirkte.
In dieser Zeit verfaBte er die von der Juristenfakultat Rostock preisgekronte
Schrift uber »Die Lehre vom Subpignus* (erschienen Rostock 1864). Das ist
kennzeichnend fiir den Gelehrten : das romische Recht zog ihn mit unwider-
stehlicher Gewalt an, sein ganzes Leben lang. Weshalb? Weil S. ein typischer
Vertreter der Begriffsjurisprudenz war. Im Begriff sah er das erlosende Zauber-
wort. »Die Begriffsjurisprudenz allein setzt uns in den Stand, uns des ge-
gebenen Rechts zu bemachtigen, seinen gesamten Inhalt mit einem Blick zu
iibersehen. J a, sie allein setzt uns in den Stand, die Welt der Rechtssatze zu
bewegen: auf den Inhalt zu, den die Gerechtigkeit der Gegenwart verlangt,«
schreibt er einmal spater (t)ber Begriffsjurisprudenz, Deutsche Juristenzei-
tung, Festnummer fiir Leipzig, 1909). Und welches Rechtssystem bietet den
geeigneteren Tummelplatz fiir die Begriffe als das romische Recht? Kein
anderes. —
Simsdn. Sohm
151
Am 13. Juni 1864 bestand S. sein juristisches Doktorexamen in Rostock
mit der Auszeichnung magna cum laude. Schon war der wissenschaftlicheTrieb,
schon war die Gelehrtenlust in ihm erwacht. Aber nicht mehr das romische
Recht, sondern die Entwicklung des deutschen Rechts begann ihn zu fesseln,
und so wandte er sich nach Miinchen, wo damals Paul Roth deutsche Rechts-
geschichte und deutsches Privatrecht las. Er setzte sich wieder auf die Schul-
bank und horte den hervorragenden Germanisten. Seit Waitz und Roth war
das Auge besonders stark auf die frankischen Rechtsquellen gelenkt worden
(f riiher mehr auf die sachsischen) . Roth hatte seine Geschichte des Benef izial-
wesens (1863) bereits geschrieben, ein Werk, das auf unseren jungen Gelehrten
»einen unausloschlichen Eindruck<( machte. Trotzdem habilitierte S. sich nicht
bei Roth, sondern bei der damals noch hannoverschen Juristenfakultat Got-
tingen mit der Arbeit: t)ber die Entstehung der Lex Ribuaria (1866). (S. gab
spater die Lex Ribuaria et Lex Francorum Chamavorum fur die Mon. Germ,
hist. Leges vol. V und fur die Schulausgabe der Leges heraus; Hannover 1883.)
Er schreibt: »Unter den Donnern des Krieges habilitierte ich mich 1866 in
Gottingen f ur deutsches Recht. Bei den Gottinger Professoren f and ich wah-
rend meiner Privatdozentenzeit das freundlichste Entgegenkommen und ge-
noB angeregtesten Verkehr in einem Kreise von gleichstrebenden jungen
Leuten.« Rasch ging's vorwarts. Schon 1870 wurde er auBerordentlicher Pro-
fessor und noch im gleichen Jahre rief ihn die Freiburger Fakultat, nament-
lich auf Betreiben Bindings (s. unten S. 495 ff.) und Degenkolbs, in ihre Mitte.
Unterdessen war sein groBes, von den Ideen Roths stark beeinfluBtes Werk
herangereif t : Die Frankische Reichs- und Gerichtsverfassung, gedacht als
erster Band der »altdeutschen Reichs- und Gerichtsverfassung « (Weimar 1871).
Nun gait es, im neuen Reichsland die besten Krafte zu sammeln. Zu diesen
gehorte bereits Rudolph S. 1872 kam er nach StraBburg, wo er als Fachge-
nossen den bedeutenden, freilich ganz anders gerichteten Heinrich Brunner
(s. DBJ. 1914 — 16, S. 119 ff.) fand. Auch trat er in nahe Beziehungen zu
dem Theologen Holtzmann, der auf seine religiosen Anschauungen starken
EinfluB ausiibte. Dort erlebte er, trotz seiner zunehmenden Schwerhorigkeit,
die Freude, beim zehnjahrigen Jubilaum der Universitat zum Rektor gewahlt
zu werden. Hier spielte sich auch der wissenschaftlich erbitterte Kampf mit
dem evangelischen Oberkirchenrat und mit dem Kirchenrechtslehrer Emil
Friedberg ab. Mit aller Energie griff S. die Behauptung an, die obligatorische
Zivilehe fordere notwendig die Beseitigung der kirchlichen Trauung und die
Verwandlung in eine bloBe kirchliche Segnung. Mit schwerem historischem
fanzer gewappnet und unter der Deckung einer kuhnen juristischen Kon-
struktion (die Wirkung der Ehe zerfalle in zwei Teile, in eine negative und in
^ine positive) stellte er fest, die kirchliche Trauung des spateren Mittelalters
sei keine EheschlieBung, sondern nur der kirchliche Vollzug der bereits ge-
schlossenen Ehe gewesen. Und so stehe es noch heute. (Das Recht der Ehe-
schlieBung aus dem deutschen und kanonischen Rechte geschichtlich ent-
wickelt, Weimar 1875.) Friedberg antwortete und ging in seinem Zorne iiber
S.s These so weit, ihm »Fabrikation von Stellen, zum mindesten Falschung«
vorzuwerfen, ein Vorwurf , der gehassig und unwahr ist. Denn gefalscht hat
S. niemals. Noch einmal griff S. ein und schrieb ein Buch iiber »Trauung und
Verlobung. Eine Entgegnung auf Friedberg « (Weimar 1876). Es war eine
152 1917
heiJ3e Fehde, welche die beiden Gelehrten ausfochten und aus welcher weder
S. noch Friedberg als volliger Sieger hervorging.
Schweres Leid traf ihn im Jahre 1879. Nach einer kurzen Ehe von sechs
Jahren wurde ihm seine Frau, Clara, die Schwester des Dichters Heinricli
Seidel, durch den Tod entrissen. Ein langes Krankenlager brachte Leid und
Entsagung in die Familie. Drei Jahre spater schritt S. zu einer zweiten Ehe
mit Charlotte Kehrhahn, einer sorgenden, treu ergebenen Gefahrtin, die kurz
vor Ausbruch des Weltkrieges im Juni 1914 von ihm schied.
Unterdessen war S. an die Universitat Leipzig berufen worden (1887), und
es begann fiir ihn eine Zeit groBter, einflui3reichster Wirksamkeit, zugleich
aber auch eine Epoche stiller Resignation. In Leipzig entfaltete er vor einem
gewaltigen Horerkreis seine hohe Rednergabe. Die Plastik der Rede, die Kunst
der Formgebung bestrickte alle. Jeder wurde fortgerissen, ob er wollte oder
nicht. Ich hatte selbst noch das Gliick, diesen wissenschaftlichen Kunstler zu
horen und dabei wahrzunehmen, wie er jedes Kolleg neu schuf und dadurch
unendlich lebendig wirkte. Und doch war es nicht dieses dialektische Konnen,
das so sehr fesselte. »Das war nicht nur ein GenuB fiir die Sinne. Das ging
zu Herzen. Das richtete auf. Das drang ins innerste Gewissen. Da stand nicht
der Redner, nicht der Gelehrte vor einem. Der ganze, groBe, reine, fiir Staat
und Recht und Kirche begeisterte Mensch tat sich auf und zog einen in seinen
unwiderstehlichen Bannkreis hinein. Nicht die Formgabe, die tJberzeugung
war das starkste an S. Nicht der geniale Mensch, sondern die ethische, eisen-
hart geschlossene und doch so giitige Personlichkeit strahlte ihren Zauber auf
die Studenten aus und stiftete unendlich reichen Gewinn,« so schrieb ich im
Nachruf von 1917.
Aber auBerhalb des Kollegs wurde es immer stiller urn den groBen Mann.
Sein Gehorleiden steigerte sich von Jahr zu Jahr. Der Verkehr mit ihm wurde
fast unmoglich. Nur mit seiner Familie und mit einem kleinen Kreis ver-
trautester Freunde pflegte er innigere menschliche Beziehungen. Er mied alle
Zerstreuungen und Gesellschaften und wurde immer einsamer. Als seine Gattin
von ihm genommen war und zwei seiner Sohne auf dem Felde der Ehre ihr
Leben gelassen hatten, war er ein gebrochener Mann, fast allein noch getragen
von seinem tiefen, unerschiitterlichen Glauben an Gott und die Richtigkeit
seiner Wege. Es war fiir ihn Erlosung, als er am 16. Mai 1917 sein Leben be-
schlieBen durfte.
Bei dieser seelischen Einstellung und den herben Grenzen, die ihm seine
Gesundheit und das auBere Leben setzten, ist es leicht verstandlich, daB sich
der Gelehrte immer mehr seinem ureigensten Gebiete, seinem lebhaftesten
Begehren zuwandte, der Kirche, ihrem ganzen Wesen und ihrem Rechte. Er
veroffentlichte eine Kirchengeschichte im GrundriB (1887; 19. Aufl. 1917),
einen wundervollen kleinen AbriB. 1892 erschien sein Kirchenrecht, 1. Band:
Die geschichtlichen Grundlagen, in Bindings Handbuch, ein Werk, von welchem
Kahl damalssagte, es sei die hervorragendste kirchenrechtlicheErscheinung der
Neuzeit. 1909 schrieb er iiber » Wesen und Ursprung des Katholizismus« (2. Ab-
druck 1912) und 19 14 gab er Freund und Feind kund, wie er sich grundsatzlich
zum Wesen des Rechts stelle und was ihm die Unterscheidung von weltlichem
Recht und geistlichem Recht ganz allgemein bedeute (Weltliches und geist-
liches Recht, Festgabe der Leipziger Juristen fiir Binding, Miinchen 1914). Im
Sohm 153
Jahre 1915 trat er mit seinem Riesenwerke hervor : Das altkatholische Kirchen-
recht und das Dekret Gratians (in der Festschrift der Leipziger Juristen f iir Wach,
Munchen 1918), das er seinem altgetreuen Freunde Adolf Wach widmete. Im
Vorwort findet sich das bemerkenswerte Gestandnis: »Als ich (seit dem Jahre
1 881) am Kirchenrecht in der Arbeit war und im AnschluB insbesondere an
den ersten Korintherbrief eine Ausfuhrung iiber das religiose Wesen der ur-
christlichen Ekklesia und iiber die daraus folgende leitende Stellung der
Propheten bereits niedergeschrieben hatte, erschien die Didache, und siehe da :
gerade dieses (und natiirlich noch anderes Wichtiges) stand darin. So auch
jetzt. Schon hatte ich iiber die religiose Art auch des altkatholischen Kirchen-
begriffs und die daraus folgende Bedeutung des altkatholischen Sakraments
eine langere Abhandlung ausgearbeitet, als ich noch einmal griindlich in
Gratian und die altesten Summen zum Dekret mich vertiefte, und siehe da:
gerade dieses stand darin. Was sich als der Sinn des altkatholischen Kirchen-
rechts ergab, der ,Meister Gratian' hatte es schon damals bewuJ3t erkannt und
ausgesprochen. « S. eilte also gleichsam der eigenen Forschung voraus. Seine
starke Intuition wies ihm den richtigen, durch die Quellen nachher bestatigten
Weg.
Und dies war noch nicht alles. S. war gestorben unter Hinterlassung eines
reichen kirchengeschichtlichen Materials. Dies erschien so wertvoll, daB sich
zwei seiner Kollegen, Erwin Jacobi und Otto Mayer, entschlossen, es in Buch-
form zu publizieren, namlich des Kirchenrechts 2. Band in Binding-Oetkers
Handbuch (1923). Es ist ein Torso geblieben. Es verarbeitet im wesentlichen
den Stoff des friiher herausgegebenen Dekrets Gratians.
Das, was S. ebenfalls bis zu seinem Lebensende beschaftigte, freilich nicht
mit der gleichen inneren Anteilnahme, das waren seine Institutionen des romi-
schen Rechts. (Mit dem Untertitel: Ein Lehrbuch der Geschichte und des
Systems des romischen Privat rechts, 1887.) Einem Zufall verdankte das Buch
seine Entstehung. S. hatte einst fiir seinen erkrankten Kollegen die Vorlesung
iiber romisches Recht in StraBburg iibernehmen miissen und schrieb damals
seine Institutionen jeweils in der freien Zeit »zwischen zwei Kollegien« nieder.
Darf man dies wirklich einen Zufall nennen ? Ich mochte umgekehrt sagen :
Nur ein Zufall hatte S. abhalten konnen, sich literarisch mit dem romischen
Rechte zu beschaf tigen. Denn wie ich schon sagte, die gesamte logisch-begrif flich
zugespitzte Denkweise des Mannes drangte mit Notwendigkeit dem romischen
Rechte entgegen. So war es denn mit die letzte Arbeit, die S. vollfuhrte: die
Fertigstellung der 16. Auflage seines Lehrbuches. Ein beispielloser Erfolg
war diesem padagogisch so ausgezeichneten, so anschaulich geschriebenen
Werke beschieden (17. Auflage, bearbeitet von Ludwig Mitteis, herausgegeben
von Leopold Wenger, 1924).
Auch die Kodifikation und der Ausbau des biirgerlichen Rechts lag ihm am
Herzen. Seines Leidens wegen wurde er nur zum nichtstandigen Mitglied der
zweiten Kommission fiir das Burgerliche Gesetzbuch ernannt. Am 13. November
1895 hielt er in einer Sitzung dem Kaiser Vortrag iiber die Regelung der
bauerlichen Grundbesitzverhaltnisse. Und spater, 1906, hat er in Hinnebergs
Kultur der Gegenwart eine groBziigige, sehr lebendige Darstellung des ge-
samten neuen Zivilrechts »Das burgerliche Recht « gegeben. Mit Feuereifer
drang er in den Geist der neuen Gesetzgebung ein und seine beruhmte Abhand-
154 igi?
lung iiber den »Gegenstand, ein Grundbegriff des BiirgerlichenGesetzbuches*
(Festgabe fur Degenkolb, Leipzig 1905) beweist, wie stark dieser forschende
Verstand nach den letzten Grundbegriffen innerhalb einer geltenden Rechts-
ordnung suchte. Es war eine Stoffbehandlung von hdchster Warte aus gesehen,
vielleicht das begrifflich Konstruktivste, was S. jemals geschrieben hat.
Einen politischen Kopf kann man ihn nicht nennen. Aber er ging von der An-
schauung aus, da£ das schwere Geschiitz, welches die Welt beherrsche, bei
den Gebildeten zu suchen sei, dafi daher die Universitaten und ihre Lehrer die
Pflicht hatten, ihr Wissen und ihre Uberzeugung fruchtbar zu machen fur den
Staat, das hiefl bei S. fur das Volk. Immer ist sein Herz warm und empfanglich
gewesen fur alle Bewegungen im Volke. Ihm erschien es als Pflicht, die roman-
tische Idee vom christlichen Staat zu stiirzen. Daher forderte er auf dem Kon-
greB fiir Innere Mission in Posen (1895) und ein Jahr spater bei der Griindung
des nationalsozialen Vereins in Erfurt die Trennung der beiden, innerlich ge-
schiedenen Lebenskreise, des geistlichen und des weltlichen. Die Gegenwart
hat ihm recht gegeben. Als Freund und Berater Pfarrer Friedrich Naumanns
(f 1919) half er kraftig am Aufbau des nationalsozialen Vereins mit. Als
sich dieser aufloste, warf er sich auf die Seite der Linksliberalen und begleitete
mit grdfltem Interesse alle Fortschritte der Sozialdemokratie. Das sachsische
Klassenwahlrecht empfand er als schlechtes, langst veraltetes Wahlsystem
und bekampfte es mit offenem Visier. Wo er auftrat, setzte er sich ganz ein.
Wo er eingriff, da fielen scharfe Hiebe, aber immer in vornehmster Art und
mit der Sachlichkeit des edeln Streiters.
In dieser Biographie konnen S.s Werke nicht im einzelnen aufgezahlt und
besprochen werden. Hier seien nur einige der bedeutsamen Grundgedanken,
die S. in seinen umfassenden und zahlreichen Veroffentlichungen niedergelegt
hat, entwickelt.
S.s erstes literarisches Auftreten fiel in eine Zeit, in welcher folgende Gegen-
satze aufeinanderprallten. Die eine Meinung, vor allem vertreten durch Otto
Gierke (s. DBJ. 1921, S. noff.), der 1868 den ersten Band seines »Genossen-
schaftsrechts« herausgab, ging von der Vorstellung aus: es gibt keinen alt-
deutschen Staat. Das frankische Konigtum gleicht einer obersten Grundherr-
schaft des Reiches. Alles ist beherrscht von der Idee der Genossenschaft. Auch
der Staat ist eine solche Genossenschaft. Die Staatsgewalt ist keine besonders
geartete, keine hochste Gewalt, sondern nebengeordnet den anderen genossen-
schaftlichen Gewalten. Die im Staate wohnenden Menschen stehen nicht in
einem personlichen Untertanenverhaltnis. Sie sind nur mittelbar durch das
Medium von Grund und Boden miteinander verbunden.
Dieser genossenschaftlichen Theorie trat S. mit der ganzen Bestimmtheit
seiner Dialektik entgegen und stellte das Vorhandensein echter staatlicher
Einrichtungen und damit eines echten Staates in germanischer und frankischer
Zeit fest. Vor allem wies er die Dingpflicht aller freien Leute nach, eine Pflicht,
die man unmoglich als eine auf Grund und Boden beruhende, rein genossen-
schaftliche Pflicht bewerten konnte. S. arbeitete jene benihmten Gegensatze
heraus, die spater so viele nachgeschrieben und nachgesprochen haben:
Staat im Gegensatz zur Genossenschaft, Konigsgewalt zur Beamtengewalt,
Amtsrecht zum Volksrecht, Hundertschaftsgemeinde zur Wirtschaftsge-
meinde usw. Die Arbeit wirkte auBerordentlich klarend und mancher Grund-
Sohm 155
gedanke S.s steht heute unerschiittert vor uns. Aber schon in dieser Studie
zeigt sich eine methodische Schwache, die ihn durch sein ganzes Leben be-
gleitete: iibertriebene begriffliche Konstruktion des geschichtlichen Stoffes,
ein dialektisches Spiel mit These und Antithese. Auch war der Forscher bereits
stark romisch-rechtlich befangen. Er glaubte den romischen Gegensatz von
jus civile und jus honorarium im frankisch-deutschen Recht wiederzufinden
und baute darauf sein stolzes Gebaude anf .
Getreu dem Glauben, die historische Welt durch die Aufstellung scharf zu-
gespitzter Gegensatze meistern zu konnen, untersuchte S. den Geist der mittel-
alterlichen Rechtswelt. Nach ihm gibt es auf der Welt nur zwei Rechte, fran-
kisches Recht und romisches Recht. Das salfrankische Recht siegt iiber alle
anderen Stammesrechte, schlieBlich auch iiber das sachsische Recht. »Die
mittelalterliche Rechtsgeschichte ist die Geschichte des westfrankischen, also
nach moderner Vorstellung ausgedruckt, des franzosischen Rechts. Das Recht
des deutschen Hochmittelalters ist das Recht des franzosisch-gotischen Stils. «
Nur ein Recht ist ihm ebenburtig: das romische. Der Langobardenstaat hat
zah an romischen Einrichtungen festgehalten und von Italien aus stromen
dann die romischen Rechtsideen auch nach Deutschland hinuber. Das
frankische Recht des Mittelalters erhalt sich nur in Partikularrechten. »Ein
Jahrtausend frankischer Rechtsgeschichte geht mit der vollendeten Rezep-
tiondes romischen Rechts zu Ende.« Wir glauben heute nicht mehr daran,
daB das Problem des Rechts im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa
mit der Gegensatzlichkeit von zwei Rechtssystemen gelost werden konne. Aber
auch hier darf man sagen : Abgesehen von der GroBe der Konzeption wirkte
die These in hohem Grade schopferisch.
Am bekanntesten ist S. geworden durch den dritten groBen Grundgedanken,
den er zwischen Juristen und Theologen, zwischen Protestanten und Katho-
liken, ja in die Mitte aller Gebildeten hineinwarf : »Die Kirche ist rechtlicher
Verfassung unfahig, ja, sie verwirft dieselbe. Das Kirchenrecht steht mit dem
Wesen der Kirche im Widerspruch. « Er glaubte den Kern der protestantischen,
namentlich der lutherischen Kirche in der urchristlichen Gemeinde zu finden.
Wie spater bei Luther, ist in der Urgemeinde das »Volk Gottes« keine auBer-
lich geformte, sondern nur eine geistliche, charismatische Organisation, eine
lose Vereinigung zum Sakrament des Abendmahls und zu den ubrigen Heils-
handlungen. Alles gipfelt in einem rein geistlichen Verbande. Die Umbildung
der urchristlichen Kirche in die katholische Kirche zieht die Umbildung eines
geistlichen Verbandes in einen Herrschaftsverband nach sich. Jetzt stromen
Recht und Zwang ein. Aber: »Was an rechtlicher Zwangsgewalt in der Kirche
wirksam ist, ist durchweg nicht der Kirche zustandig, sondern weltliche Ge-
walt. Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechts ist weltlich.
Die Kirche des Urchristentums (Ekklesia) ist eine rein geistliche, die katho-
lische Kirche eine geistlich-weltliche, die evangelische Kirche im Rechtssinn,
wie sie heute (1892) vor uns steht, eine rein weltliche Organisation. « In seiner
groBen Untersuchung iiber das Dekret stellt er — entgegen aller bisherigen
Forschung — den Satz auf, daB dessen Verf asser Gratian nicht ein Urheber
der neukatholischen Richtung, sondern ein Vollender des altkatholischen
Kirchenrechts war. Alles, was Juristen und Theologen, Katholiken und Pro-
testanten bis dahin verfochten hatten, ist verkehrt. Gratian, als Theologe,
156 1917
bringt das alte Sakramentsrecht zu hochster Entfaltung. Jetzt setzt die Be-
arbeitung des Kirchenrechts durch Juristen ein. Der Neukatholizismus wirft
seit etwa 1170 seine Strahlen aus und bringt sie um 1200 zu voller Entfaltung.
Erst um 1200 wird nach S. die Kirchenverfassung auf die Jurisdiktionsgewalt
aufgebaut. Erst um 1200 lafit sich deutlich die hierarchia jurisdictionis wahr-
nehmen. In seinem nachgelassenen Werke finden sich alle diese groBen Grund-
ideen wieder, und die Kampfansage der Kirche gegen das weltliche Recht
wird mit jugendlicher Frische fortgesponnen. Alle Herrschaft miisse dem
inneren Wesen nach der Kirche fremd bleiben. Seit dem 16. Jahrhundert gebe
es nur noch eine einzige offentliche Gewalt, den Staat. »Nur noch in der Form
des Staates ist das Volk obrigkeitlich verfaBt, nur noch in der Form des Staates
ist das Volk eine selbstherrliche Gemeinschaft, nur noch in der Form des
Staates ist das Volk Rechtsquelle, « lautet eine der wichtigsten Thesen, die
uns so deutlich in die ganze Denkweise des groBen Dogmatikers hineinschauen
laBt. Das Wort Dogmatiker sei bewuBt hierhergesetzt : S. war eben im Grunde
eine dogmatische, keine historische Natur. Immer und immer wieder unterlag
er der Versuchung, das geschichtliche Werden in scharfe begriffliche Kon-
struktionen zu fassen. Und diese Begriffe gewann er weit mehr im Wege der
Deduktion als im Wege der Induktion. Eine deduktive, dogmatisch geartete
Kiinstlernatur ist Rudolph S. gewesen. Und zu diesem Denken und zu dieser
Arbeitsweise trat auf alien Gebieten, welche kirchlichen und kirchenrecht-
lichen Boden beruhrten, der Glaubenseifer einer tief religiosen, enthusiast i-
chen Personlichkeit. Er war ein eminent schopferischer Geist. Am Reichtum
seiner Gedanken werden noch Generationen zehren, noch Generationen weiter-
bauen.
Literatur: AuBer den im Text genannten Schriften S. s. werden noch die folgenden auf-
gefiihrt: Der ProzeC der Lex Salica, Weimar 1867. — Das Verhaltnis von Staat und Kirche
an dem Begriff von Staat und Kirche entwickelt, Tubingen 1873. — Zur Geschichte der
Auflassung. Festgabe fur Thol, Straflburg 1879. — Zur Trauungsfrage, Zeitfragen des
christlichen Volkslebens, Heilbronn 1879. — Die obligatorische Zivilehe und ihre Auf-
hebung, Ein Gutachten, Weimar 1880. — Friinkisches Recht und Romisches Recht, Pro-
legomena zur deutschen Rechtsgeschichte, Weimar 1880. — Die deutsche Genossenschaft,
Festgabe fur Windscheid, Leipzig 1888. — Die Entstehung des deutschen Stadtewesens,
Festschrift fur Wetzell, Leipzig 1890. — Die sozialen Aufgaben des modernen Staates,
Leipzig 1898. — Neue Pflichten der Kirche, Dresden 1906. — Wesen und Voraussetzungen
der Widerspruchsklage, Leipzig 1908. —
Richard Schmidt, Worte zum Gedachtnis an Rudolf S. (Berichte der phil.-hist. Kl. der
Kgl. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. LXIX, S. 1 5 f f .) ; Hans Fehr,
Rud. S., ein Nachruf (Zeitschr. der Savigny-Stiftung fur Rechtsgesch., germ. Abt.
Bd. XXXVIII, S. 1 ff.) ; Karl v. Amira im Jahrbuch der bayer. Akademie d. Wiss, Munchen
1918, S. 8iff.
Bern. Hans Fehr.
Stadler, Toni (Anton) v., Maler, * 9. Juli 1850 in Gollersdorf (Niederoster-
reich), f 18. September 1917 in Munchen. — Sohn eines Wirtschaftsrates im
alten Osterreich, Stiefbruder von Wilhelm Scherer, bestand St. 1868 in Wien
sein Abiturium und studierte zunachst in Wien und Wiirzburg Medizin. Da
er aber von Kindheit an gezeichnet hatte und einen unwiderstehlichen Drang
zur Kunst verspiirte, entschloB er sich 1873, trotz seiner Mittellosigkeit Maler
zu werden und ging nach Berlin zu Paul Meyerheim (s. DBJ. 1914 — 16, S. 151 ff.)
Sohm. Stadler 1 57
und 1878 nach Miinchen, wo er seitdem bis zu seinem Tode geblieben ist. Im
ganzen kann er als Autodidakt angesprochen werden. Von seinen Lehrern
und den Malern, mit denen ihn in der Jugend Freundschaft verband, wirkten
nur Schonleber (s. oben S. 134 if.) und in Miinchen Frolicher und Stabli
auf ihn ein; doch kamen seiner angeborenen Art, die Landschaft anzusehen,
alle diese weniger entgegen als einige alte Hollander wie Ruisdael und der
Haarlemer Vermeer, vor allem aber Hans Thoma. Auch mit Spitzweg ver-
bindet ihn Einiges.
In Miinchen, wo er lange Zeit in dem westlichen Vorort Laim (und zwar
in einem angeblich einst von Agnes Bernauer bewohnten Hause) lebte, ging
es ihm anfanglich nicht gut, und allgemein durchgesetzt hat sich St. erst nach
1900. Sein Leben floB still und ruhig in stetiger Arbeit hin. Studienreisen
fuhrten ihn nach Holland und Rom, von wo eine Anzahl seiner Motive stam-
men; die meisten Bilder aber sind von der oberbayerischen Hochebene, dem
Mangfalltal, den ausgedehnten Moosen der Munchener Umgebung eingegeben,
so daB er auch schon um der Gegenstande willen durchaus der Munchener
Landschaftsschule angehort, deren starken Ausklang er mit dem ihm ver-
wandten Karl Haider bildet. Seit 1900 lebte er in seinem schonen, von Gabriel
Seidl erbauten Hause. Eine Reise nach Agypten, die er in seinen letzten
Lebensjahren aus Gesundheitsriicksichten unternahm, ist fur seine Kunst
ohne Belang geblieben.
St. nahm aber nicht nur als Maler eine bedeutende Stellung im Munchener
Kunstleben ein, sondern auch als Mensch und Kunstfreund. Seine im edelsten
Sinne urbane und vornehme Personlichkeit, sein selbstloses Eintreten fiir
andere, vor allem auch fiir die jungen Kunstler, seine freie und groBziigige
Weltanschauung, die fiir das Echte in jeder Gestalt empfanglich war, seine
uneigenniitzige Giite und Freundschaft machten ihn von selbst zum ausglei-
chenden Mittelpunkt der vielfaltig widerstreitenden Interessen und Richtungen
in Miinchen. Ohne alien Ehrgeiz und ohne sich im geringsten voranzustellen,
kam er zu einer Art Vermittlerstellung, wurde zum Fiirsprecher und Ver-
teidiger der neuen revolutionaren Stromungen (die niemals auf seine eigene
Malweise abfarbten) und zum Vertrauten sowohl der Kunstlerschaft wie des
Staates und der Sammler. Als Kunstkenner hatte er den unfehlbaren Blick
fiir Qualitat. Seine eigenen Sammlungen dehnten sich auf antike Bronzen,
Miinzen und Terrakotten, japanische Stichblatter und Holzschnitte, agyptische
Statuetten, altpersische Teppiche aus. Nach auBen hin wirkte er als Berater
von Sammlern und als langjahriges Mitglied mehrerer staatlicher Kunst-
kommissionen, wo er Schlechtes vermeiden half, auf viel Gutes aufmerksam
machte. Als Tschudi 1908 als Generaldirektor der bayerischen Museen nach
Miinchen kam, wurde er ihm Freund und Ratgeber und starkste Stiitze gegen-
iiber mannigfachen Anf eindungen ; er iibernahm nach Tschudis Tode von 1911
bis 1914 selber als Dkiinstlerischer Beirat im Kultusministerium « seine Nach-
folge im Ehrenamt, bis man in Dornhoffer den leitenden Fachmann gefunden
hatte. In dieser Stellung hat St., ein ganz ungewohnlicher Fall in der Ge-
schichte der Museen, in Gemeinschaft mit Heinz Braune das Werk v. Tschudis
in selbstloser Weise fortgefiihrt, die von ihm begonnenen Ankaufe, vor allem
franzosischer Impressionisten, gesichert und weitere Erwerbungen in seinem
.Sinne gemacht, so vor allem von Arbeiten Hodlers, Liebermanns, Triibners,
158 1917
Leibls, Thomas, Schuchs und Uhdes. Ebenso ist seiner einsichtigen und liebens-
wiirdigen Energie die Umwandlung des Ausstellungsbaus am Konigsplatz —
der bis dahin der Sezession vom Staate tiberlassen worden war — in ein Mu-
seum der neueren Kunst zu verdanken: ein wichtiges Unternehmen, das
freilich nur seiner Besonnenheit und Stellung iiber den Parteien moglich
werden konnte, da gar zu viele Gegenwirkungen in der Kiinstlerschaft zu
iiberwinden waren.
St.s Malerei ist von Anfang an ausschlieBlich der reinen Landschaft ge-
widmet, menschliche Staffage und selbst Tiere haben darin keine Stelle, es
sei denn in winzig kleinem Format der Feme. Er schlieBt den groBen Kreis,
den die Miinchener Landschaftskunst beschrieben hat, auf einer hoheren Stufe
da ab, wo sie begann, so daB hier gewissermaBen eine Spirallinie beschrieben
worden ist. Immer wurde schon das Uberzeitliche bei ihm betont und seine
eigentumliche Mischung von Realismus und Romantik. In allem gehorte er
nicht der impressionistischen Epoche an, in die er doch hineingeboren war,
sondern erinnerte an die Anfange der siiddeutschen Landschaft unter Dillis
und Wilhelm v. Kobell. Ja, wenn man seine Herkunft von Schleich datiert
und an dessen klaren Aufbau, dramatische Steigerung und Trennung der
Griinde, sowie auch an Spitzwegs weite Ausblicke in den grenzenlosen Raum
und stoffliche Pointen erinnert (was namentlich R. Oldenbourg in geistreicher
Weise getan hat), so ist doch an den fundamentalen Unterschied des Male-
rischen zu denken, der ihre Kunst von der plastischen Art Toni St.s
trennt, und seine Herkunft noch weiter riickwarts zu verlegen, in die An-
fange der Miinchener Kunst und deren Vorbilder, die groBen Hollander. Dies
eint ihn durchaus mit Thoma und Haider; alle drei sind lange Zeit verkannt
und miBachtet worden, und schlieBlich hat eine Zeit, die den Impressionismus
iiberlebte, ihren wahren und iiberzeitlichen Wert erkannt und ihnen den ge-
buhrenden Platz als ganz deutsch empfindende Kunstler gegeben. Die Treue
zur Sache und die Klarheit im plastischen Raumaufbau bei ihnen sind uralte
deutsche Eigenschaften, die sie Konrad Witz und Altdorfer naherstellen als
selbst Schleich, Stabli und Spitzweg. Solch ein Gefuhl fiir die tastbaren Werte
der Raumbildung, wie sie vor allem St. besaB, ist angeborene Gabe und
kann durch keine Einfliisse abgelenkt werden ; weshalb denn auch Schonleber
und Neubert, seine eigentlichen Lehrer, wie seine Freunde Stabli und Frolicher,
im Grunde keinen EinfluB auf St. ausiiben konnten, und er seine vorgeschaute
Form sich autodidaktisch bilden muBte.
Diese Form ist durchaus raumanschaulicher Natur, ihre Mittel sind plastisch,
Farbe erscheint als sekundares Hilfsmittel, Stimmung und Romantik als nach-
geordnete Folge. Darum gibt es auch keine eigentliche Entwicklung in seiner
Kunst. Am Anfang kann man noch koloristische Niiancen feststellen (wie in
einem kleinen Bilde des Stadelschen Instituts), bald wird das Kolorit neben-
sachlich, und die Reproduktion gibt das Wesentliche des Originals wieder. In
seiner vollen Reifezeit um 1900 erscheint die Landschaft St.s als einheitliche
Darstellung des Raumes mit zeichnerischen Mittel n. Seine Lithographien, die
mit Einstimmigkeit als Hohepunkt und Quintessenz seiner Kunst betrachtet
werden, fallen in diese Epoche; die friihesten sind 1893, wohl die spatesten
1913 datiert. Aber die Kausalitat ist sicher umgekehrt zu deuten, als es ge-
schieht : nicht, weil er sich graphisch betatigte, sind seine Spatwerke so zeich-
Stadler 159
nerisch geraten, sondern er schuf Lithographien als deutlichste und eindrucks-
vollste Bekenntnisse seiner immer bewuBter werdenden plastischen Gesinnung.
Weil ihm die Farbe als storendes Moment von momentaner Stimmung, als
Luftton, immer weniger bequem wurde, konnte er sein Bestes ohne jene
Hemmung in der einfarbigen Zeichnung, der Lithographie, am sichersten
geben. Es ist ein Irrtum, die Harte seiner Spatbilder als ein Abgleiten dar-
zustellen; just in der plastischen Klarheit dieser Arbeiten gab St. Endgiiltiges,
in vollem Gegensatz zur Entwicklung rings um ihn, wo einerseits der form-
auflosende Impressionismus, andererseits die reine Farbigkeit des »Blauen
Reiters* den denkbar scharfsten Kontrast zu seinem Wollen darstellten. Das
hat ihn nicht gehindert, den Kiinstlern beider Richtungen sein Verstandnis,
ja seine Liebe entgegenzubringen und sie mit hochster Tatkraft zu f order n.
J a, es macht die Besonderheit seiner Grofle aus, daJ3 er die Entwicklung an-
erkannte und ihre Notwendigkeit mit untriiglichem Scharfblick einsah, fur
seine Arbeit aber mit derselben Intensitat ablehnte. DaB Erkenntnis und In-
stinkt in demselben Manne mit gleicher schopferischer Inbrunst lebten, ohne
einander zu widersprechen, ja, mit hoher Spannkraft sich gegenseitig in ihren
entgegenstrebenden Tendenzen bestarkten : dies erscheint wie ein Wunder von
Selbstiiberwindung und flofit das hochste Vertrauen zu den menschlichen
Qualitaten St.s ein.
Von dieser Seite erscheint die Wahl seiner Arbeitsheimat nicht gleichgiiltig .
Miinchen ist der Mittelpunkt einer Landschaft, die mehr plastischen als
malerischen Charakter besitzt, deren Atmosphare und geologische Gestaltung
dem raumlich bildenden Sinn starke Anziehungspunkte bietet. Etwas Ahnliches
ist es mit der romischen Campagna, aus der manche St.sche Bilder stammen.
AUes, was dazwischen liegt, vor allem die hollandischen Diinen, hat er in
seinem Sinne erfafit: das Wesentliche sind und bleiben in seiner Kunst die
riesigen Flachen, von fernen Bergen abgefangen, von einem unbegrenzten
Himmel mit Schrittmacherwolken iiberwolbt, wie er sie in der oberbayerischen
Hochebene vorfand; oder Bodenwellen, die sich im Vordergrunde greifbar
emporwolben und Sehnsucht wecken, ihre Hohe zu tiberwinden, um ins
Grenzenlose zu schauen. Dies ist seine dramatische oder romantische Span-
nung: die Befriedigung im Endlosen oder die Sehnsucht aus dem Beschrankten
hinaus ins Unendliche, das immer und iiberall als wolkeniiberspannter Himmel
schlieflt. Ob er das plastisch Geformte als Hiigel an die Erde, oder an den
Himmel als wunderbar geballten Wasserdampf versetzt, gilt ihm gleich:
wichtig ist nur ihre Funktion, dem Raumgefuhl der Unendlichkeit als Sprung-
brett zu dienen ; tastbare Meilensteine und Merkmale der Tiefendimension zu
sein. Erst aus dieser Spannung heraus entsteht im Betrachter das roman-
tische Gefuhl der Sehnsucht, die sich iiber die Erde hinausschwingen mochte.
Vielleieht war sie das primare Motiv in der Seele des Kiinstlers; bestimmt
erreicht sein Bild diese Wirkung, aber nicht mit sentimentalen Mitteln, son-
dern sehr sachdienlich, sehr herbe mit rationellen Formen aus dem Arsenal
der Raumdarstellung ; ein Arsenal urdeutscher Geisteshaltung.
Auch seine Arbeitsart weist eindeutig auf diese Bestimmung. Vor der Natur
wurde lediglich gezeichnet, Einzelheiten mit sorgfaltiger Exaktheit notiert.
Seine Bilder entstanden im Atelier; ein wunderbar geschultes Gedachtnis er-
machtigte ihn dazu. Die Geschlossenheit und GleichmaBigkeit seiner Raum-
i6o 1917
form und die lyrische Kraft im Ausdruck der Landschaft sind darauf zuriick-
zufuhren, und hier beriihrt er sigh mit alien wahrhaft gestaltenden Deutschen,
nicht blofl Landschaftern, sondern vor allem auch mit Marees und Bocklin;
denn nur aus der Vorstellung wird die leidenschaftliche Selbstherrlichkeit
einer so ganz personlichen Form geboren.
St.s Lithographien entstanden in den neunziger Jahren und nach 1910.
Seine Liebe zur Einsamkeit und GroBe der menschenfernen Natur konnte sich
in der graphischen Form am unmittelbarsten aussprechen ; selbst die Vor-
zeichnungen kommen nicht an die Kraft der Steindrucke selber heran. Er
arbeitete sie nur fur seine Freunde, ohne alien Ehrgeiz des Graphikers; sie
wurden in kleiner Auflage sorgfaltig gedruckt und sind von Anfang an Selten-
heiten gewesen, die dem Sammlerpublikum unbekannt blieben. Die einzige
vollstandige Sammlung, 32 Blatter einschliefilich aller Versuche, nebst der
einzigen Radierung, besitzt das Dresdener Kupferstichkabinett. Hier bevor-
zugte St. die hollandische Diinenlandschaft und die Verlassenheit der wetter-
gepeitschten Ebene, und er steigerte das Gefiihl der Weite oft bis zum Hero-
ischen. Die Lebendigkeit der bewegten Atmosphare ist ohnegleichen. Wenn
auch von irgendeiner Nachahmung nicht die Rede sein kann, so erinnern diese
Blatter wohl am starksten an die groBen Hollander des 17. Jahrhunderts: das
gleiche allumfassende Gefiihl fiir kosmische Verbundenheit von Erde und
Himmel, das iiber beide in die Unendlichkeit Hinausweisende, lebt in ihnen.
Die Einfachheit der Mittel, die im Fortlassen und Andeuten bestehen, wird
nur durch die Technik des Herausschabens von Lichtern mit Messer oder
Nadel unterbrochen, wodurch plastische Unmittelbarkeit gewahrt wird.
Ein sorgfaltiges Verzeichnis der Graphik stellte F. W. Bredt in den Mit-
teilungen zu den Graphischen Kiinsten, Bd. 38, S. 34 ff . auf .
Gem aide von St. finden sich in den Museen von Bremen, Elberfeld, Frank-
furt a. M. (Stadel), Graz (Joanneum), Leipzig, Miinchen (Neue Pinakothek),
Prag (Rudolphinum), Wien (Staatsgalerie) .
I,iteratiir: Eine zusammenfassende Darstellung iiber St. fehlt, und auch er selbst.
der als Erzahler in Freundeskreisen beliebt war, hat sich leider nie dazu bewegen lassen,
seine Memoiren zu schreiben. Wichtigere Aufsatze und Abschnitte iiber ihn finden sich in :
Dresdener Jahrbiicher I, 1905, S. 191 ff. (Lehrs), Kunst fiir Alle 21, 1905/06, S. 73 ff.
(F. v. Ostini) ; Zils, Geistiges und kiinstlerisches Miinchen, 191 3; Die Graphischen Kiinste,
Bd. 38, 191 5, S. 58 ff. (F. W. Bredt); Die Kunst, Bd. 33, 1917/18,8. 225 ff. (A.L.Mayer);
Kunstchronik N. F. 28, 1917, S. 525 f. (A. L. Mayer); Uhde-Bernays, Munchener Land-
schaftsmalerei, 1921, S. 113 ff.; Kunst und Kiinstler, Bd. 16, 1917/18, S. 74 f . (A. L.
Mayer); Kunstchronik, Bd. 29, 1917/18, S. 364 (H.Heyne); Die bildenden Kiinste II,
1919, S. 15 ff. (R. Oldenbourg).
Berlin. Paul F.Schmidt.
Steinhausen, Heinrich, Dichter und ev. Theolog, * am 27. Juli 1836 zu Sorau,
f am 26. Mai 1917 zu Schoneiche (Mark). — St. war der Sohn eines Bataillons-
arztes des 12. Infanterieregiments, seine Mutter eine geborene Naphtali. Er
genoB eine ausgesprochen evangelische, heiter-harmonische Erziehung, deren
Wirkung bei ihm wie bei seinem um zehn Jahre jiingeren Bruder, dem Maler
Wilhelm St., lebendig spiirbar blieb. Nach der i6jahrig bestandenen Reife-
priifung studierte St. in Berlin, dem neuen Standorte des Vaters, Theologie
Stadler. Steinkausen x6l
und Philologie. Unter seinen akademischen Lehrern iibte der Asthetiker und
Dichter Carl Werder den groBten EinfluB auf inn, Lehrer und Schuler blieben
in Lebensfreundschaft verbunden. Theologisch hat spater das Werk und Wesen
Soren Kierkegaards St. stark und nachhaltig beeindruckt. Von i860 bis 1868
war St. Erzieher im Kadettenkorps in Potsdam und Berlin, dann wurde er
Pfarrer in Bliithen bei Perleberg, in Lindow, in Beetz bei Kremmen, schlieB-
lich in Podelzig bei Frankfurt a. Oder. 1906 trat er in den Ruhestand und lebte
seitdem in Schoneiche bei Friedrichshagen. Er war mit Helene Juliane Thieme
verheiratet und besaB aus dieser Ehe neun Sonne, von denen sich einer im
Reichskolonialdienst, einer als Komponist ausgezeichnet hat.
Sein erstes dichterisches Werk war die mittelalterliche Klostergeschichte
» Irmela «, einer der wenigen Romane, die auf der Bahn von Scheffels »Ekkehard «
liegen, ohne in Nachahmung zu verf alien oder nach dem Muster des archao-
logischen Bildungsromans den dichterischen Stoff durch undichterische Zutat
zu strecken. Die Erzahlung war gewissermaBen der eigene Beleg zu St.s ein
Jahr vordem erschienener, humor istisch iiberglanzter Polemik gegen eben jenen,
damals modischen, archaologischen Roman, dessen Hauptvertreter Georg
Ebers St. in der Schrift » Memphis in Leipzig* (1880) bekampfte, die Verklei-
dung von Menschen mit gegen wartigem Lebensgefiihl in agyptisches Gewand
tiberlegen nachweisend. Die von keinem Zeiterfolg geblendete Selbstandigkeit
dieser Satire bewies St. auch in seinen spateren Dichtungen, mit denen er die
rasch beriihmt gewordene » Irmela « mannigfach iibertraf. Tont in der wie die
Szenen eines Lustspiels voriiberziehenden, von Ferdinand Avenarius besonders
warm geruhmten Geschichte »Herr Moffs kauft sein Buch« (1885) die Polemik
noch mit leisem Begleitakkord mit, so kommt in der »Neuen Bizarde« (1890),
insbesondere aber in der schalkhaften, mit sehr feinem Ohr allmahlich ge-
steigerten Kleinstadterzahlung »Markus Zeisleins groBer Tag« (1883) St.s aus
still beobachtender Menschenliebe quellender Humor zu einer, bei aller Ver-
haltenheit befreienden kiinstlerischen Aussprache. Wo er nicht mitspielt, wie
im »Korrektor« (1885), fehlt St. die sonst immer wieder erreichte letzte Lebens-
nahe. Aber iiberall meidet er, auch im Idyll, ein schonfarberisches Idyllisieren
und enthiillt, etwa in »Gevatter Tod« (1882), zumal im Kinde und in denen,
die gleich dem Kinde einfaltigen Herzens geblieben sind, die sozusagen unter-
irdische Wirkung der feinen und zarten Gegenkrafte gegen die herabziehenden
Machte einer sich mechanisierenden Welt. Er gehort gerade in diesem Betracht
zu Wilhelm Raabe, ohne dessen aus scharferem Temperament und groBerer
Tiefe stammenden lodernden HaB gegen die »Canaille«, aber mit derselben
Nahe zu den Grundkraften deutschen Wesens. Stilistisch steht St. den nord-
deutschen Kleinrealisten vom Schlage Heinrich Seidels oder den Berliner
Alterswerken Julius Rodenbergs (s. DBJ 1914 — 16, S. 84) naher. Die bewuBte
Bergung in der GewiBheit christlichen Glaubens gibt ihm neben dem Braun-
schweiger Meister wie neben den Berlinern das eigene Gesicht, sie spricht sich
freier in den aus seinem NachlaB veroffentlichten Gedichten »Ausklang«
(1917) aus.
Theologischem Richtungshader hielt St. sich fern, griff aber auch in kirch-
liche Angelegenheiten freimiitig ein, wie er denn im Jahre 1881 die Zeit-
schrift »Das Pfarrhaus« begriindete. Mit Rudolf Kogel, Ernst Dryander
(s. 1922), dem Pfarrer und Poeten Emil Frommel war er befreundet und
DBJ 11
162 1917
hielt mit ihnen geistigen Austausch. Moltke zahlte zu seinen warmsten Ver-
ehrern. Mannhaft bekampfte St. von der Griinderzeit an, damals einer der
Rufer in derWiiste, Scheinkultur, zivilisatorisclies Gehaben, Bildungshochmut,
Refonnwut, so in der unter dem Decknamen Veracus Rusticus erschienenen
Flugschrift »Meletemata ecclesiastical. Veroffentlichungen uber das Bauern-
haus brachten ihn in die Arbeitsgemeinschaft mit Avenarius (f 1923), dessen
Kampf fur eine neue, gewachsene Ausdruckskultur im Diirerbunde St. fuhrend
mitmachte. Seine publizistische Tatigkeit nach dieser Richtung war ebenso
weit, wie das immer aus der christlichen Mitte gespeiste Kraftfeld der geistigen
Interessen des charaktervollen, unabhangigen Mannes, Dichters und Seel-
sorgers.
Literatur: H.St., Wie »Irmela«, entstand.Eckart VI. — M.Necker.H. St., Grenzboten
1886. — R. Weitbrecht, H. St., Lit. Echo IV. — F. Avenarius, Vorrede zur St.-Schrift des
Diirerbundes, Miinchen 1906. — H. Spiero, Einl. zu H. St.s Erzahlungen, Stuttgart 1926.
Berlin. Heinrich Spiero.
Trubner, Wilhelm, Maler, * am 3. Februar 1851 in Heidelberg, fam2i. De-
zember 1917 in Karlsruhe. — Zwischen dem nationalen und dem kunst-
lerischen Aufschwung der einzelnen Volker bestehen unverkennbar Zusammen-
hange. Welt- und Kunstgeschichte liefern sichere . Beweise dafiir. Einen der
kraftigsten bietet das Aufbliihen der deutschen Kunst nach der Wieder-
aufrichtung des deutschen Kaiserreiches. Genau wie das politische Ereignis
bereitete sich auch der Aufstieg der Kunst jahrzehntelang vor. Niemals hat
es in Deutschland eine so stattliche Reihe grofler Maler gegeben wie in der
Zeit zwischen i860 und 1890, und ebenso wenig fehlte es an hervorragenden
Bildhauern und Architekten. Von bemerkenswerter Wichtigkeit war der
Wiedergewinn aller zur Austibung dieser Kiinste erforderlichen technischen
Fahigkeiten und Praktiken. Die Begriffe Malerei und Plastik erfuhren eine
neue Formulierung, und daraus ergab sich eine Umwertung aller kunstlerischen
Werte, in die die Allgemeinheit nur mit groBem Widerstreben und nach
heftigem Kampfe sich fand, weil zahllose Publikumslieblinge dabei gestiirzt
wurden. Man hatte in einer Gefiihlswelt gelebt und fand sich nun von der
Kunst einer Wirklichkeit gegenubergestellt, die man der kunstlerischen Wie-
dergabe nicht fur wurdig hielt, weil sie zu alltaglich schien. Bei dieser gegen-
satzlichen Einstellung zog die Kunst zunachst den kiirzeren. Maler wie Leibl,
Thoma, Klinger, Liebermann wurden mit ihren ersten Werken geradezu ver-
hohnt, und der deutscheste von ihnen, Wilhelm T., mit seinen vorziiglichsten
Bildern einfach iiberhaupt nicht beachtet. Es hat Jahrzehnte gewahrt, bis
das Publikum anderen Sinnes wurde und Verstandnis dafiir gewann, dafl es
in diesen Kiinstlern groBe Meister zu verehren habe, Maler, die ihre Kunst
als solche machtig vorangebracht und mit ihren Schopfungen jetzt Zeugnis
ablegen fiir die einstige Machtstellung des deutschen Kaiserreiches. Auch mit
Wilhelm T.s Art hat die offentliche Meinung sich allmahlich abgefunden,
recht begriffen aber eigentlich niemals, dafi er der weitaus selbstandigste und
originellste Kiinstler jener groBen Periode gewesen ist. Von Rechts wegen
hatte man ihn ebenso hochstellen miissen wie den Franzosen Cezanne, dem
er an urtumlicher Kraft weit iiberlegen ist, woraus der SchluB gezogen werden
Steinhausen. Triibner 1 63
darf, daB bei der Begeisterung fiir diesen ein gutes Stiick Heuchelei und
torichte Fremdenanbeterei mitwirkt. Erst spatere Geschlechter werden zu der
Tjberzeugung gelangen, daB dem problematischen Franzosen in T. ein voll-
kommener Meister gegenubersteht, eine »Natur« im Goetheschen Sinne.
Wie die Kunst aller groBen Maler, laBt auch die T.s sich nicht aus den
Anregungen erklaren, die er in seinem Leben von anderen erhalten. Sind seine
Friihwerke in Verbindung zu bringen mit den Schopfungen seines ersten
Lehrers Canon? Kaum! Spurt man Leibl, dessen Kreis er zugezahlt wird, in
den Arbeiten des Einundzwanzigjahrigen? Auch nicht oder doch hochstens
in der Sorgfalt, mit der er Hande gemalt hat. Von Beginn seiner Kiinstler-
tatigkeit an ist der junge Heidelberger ein Original, dessen Bildvorwiirfe,
dessen Art zu malen mit denen keines anderen Kiinstlers innerliche oder auBer-
liche Ahnlichkeit haben. Einzig, daB er wie fast alle Maler damals seinen Bil-
dern die Atelieratmosphare gibt, und als er zwanzig Jahre spater, dem Zuge
der Zeit folgend, Freilichtbilder malt, haben diese auch nicht das geringste
gemein mit dem, was die Pleinairisten von damals schufen. Kaum ein zweiter
Maler hat eine so hohe Vorstellung von der gottlichen Kraft der Kunst be-
sessen wie T. Er glaubte fest daran, daB die Kunst imstande ware, alles das
schon, vornehm und kostbar zu machen, was in der Wirklichkeit haBlich,
gemein und verachtlich ist, und hat sich von Anfang an bemuht, mit seinen
Schopfungen Beweise dafur zu lief era. Sehr zu seinem Schaden; denn seine
Bilder wurden hauptsachlich darum von dem Publikum und der Kritik ab-
gelehnt, weil er mit Vorliebe ungewohnlich haBliche Menschen malte. DaB er
dabei wahre Wunder von schoner Farbe und herrlicher Malerei schuf, wurden
nur wenige gewahr, weil die meisten keinen Unterschied zu machen wuBten
zwischen dem Naturschonen und dem Kunstschonen und sich nicht ent-
schlieBen konnten, Bilder eingehend zu betrachten, die sie rein gegenstandlich
schon abschreckten. Es darf nicht vergessen werden, daB T. mit Bildern
dieser Art gerade in einer Zeit hervortrat, die in den Idealen der Renaissance
schwelgte und von jedem Kiinstler verlangte, daB er ihre asthetischen Emp-
findungen respektierte. Und dann das Erdenfeste, Handlungslose, Stilleben-
artige von T.s Bildern. Man wollte Bilder haben, bei denen man sich etwas
denken konnte, die einen unterhaltsamen Inhalt hatten, iiber die sich sprechen
lieB; ein bloBes Augenerlebnis hatte fiir die Menschen von damals nicht den
geringsten Reiz, und vom Handwerklichen der Malerei hatte man keine
Ahnung. T. aber war in alledem der Zeit weit voran. Sein hochster Ehrgeiz
war, schone Malerei zu machen, wie sie die GroBen der Kunst, die Rubens,
Frans Hals oder Velazquez hervorgebracht, und Farben sollten auf seinen
Bildern leuchten, wie von den Altartafeln der alten deutschen Maler und von
gotischen Glasfenstern. In gewissem Sinne war er das deutsche Gegenstiick
zu Manet. Er wollte auch nicht malen, wie andere beliebten, zu sehen, son-
dern wie es ihm richtig erschien. Aber wahrend Manet die Fahigkeit besaB,
auch als Maler sich zu objektivieren, suchte T. die individuelle Malerei. Das
heiBt, er brauchte sie gar nicht zu suchen, sie war ihm angeboren; er sah
schon individuell. Es existiert von ihm eine Kopie nach Rubens, die er in
Briissel gemalt, und sie beweist, daB er nicht nur die Wirklichkeit auf seine
besondere Weise sah, sondern auch Kunstwerke ; denn diese Rubens-Kopie ist
in Auffassung, Malerei und Farbe ein echter T. geworden. Obwohl der Maler
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bereits in seiner Jugend nach Anerkennung hungerte und viele, ja endlose
Jahre hindurch keine andere fand als die von Kollegen, wie Leibl, Schuch,
Hans Thoma, und die einiger Freunde, wie des Dichters Martin Greif, des
Philosophen Du Prel und der Kunsthistoriker Bayersdorfer und Eisenmann,
hat er doch an dem Grundsatze festgehalten, Kunst um der Kunst willen zu
machen und sich nicht den Anspriichen des Publikums zu beugen. Er konnte
einfach gar nicht anders; denn auch als er den Versuch unternahm, genre-
hafte, mythologische und phantastische Bilder zu malen, stellte er das rein-
kiinstlerische Moment so stark in den Vordergrund, daB das Publikum tiber-
zeugt war, der Maler wolle mit diesen Bildern iiber den allgemeinen Geschmack
sich lustig machen. Die Unerschiitterlichkeit seiner Art und seiner Uber-
zeugungen aber macht T.s GroBe aus und laBt ihn als einen wiirdigen Nach-
kommen der alten deutschen Meister erscheinen, deren handwerkliche Tiichtig-
keit, deren Treue gegen sich selbst heute so lebhaft bewundert werden.
Wilhelm T. kam am 3. Februar 185 1 als Sohn des Juweliers und spateren
Stadtrats Georg T. in Heidelberg zur Welt. Ohne Frage war die Umgebung,
in der er aufwuchs, bestimmend fur seine Entwicklung. Die alte, an Erinne-
rungen reiche Stadt, ihre herrliche Lage, die Wohlhabenheit im elterlichen
Hause, die Tatigkeit des Vaters, die so eng verbunden war mit schonem
Material und sorgfaltiger und solider Arbeit, haben offenbar den Sinn des
jungen Menschen schon fruhzeitig beeinfluBt. Kiinstlerische Neigungen, die
vom Vater aber aufs entschiedenste abgelehnt wurden, zeigte bereits der
Knabe. In seinem dritten Sohne wollte der alte T. namlich sich einen Nach-
folger fiir sein Geschaft erziehen. Deshalb wurde der junge Mensch nach Ab-
solvierung der Schulzeit ohne weiteres nach Hanau geschickt, um dort die
notige kunstgewerbliche Ausbildung zu erhalten. Immer wieder besturmte der
Sohn den Vater vergeblich, ihn doch Maler werden zu lassen. Erst als die
Mutter, die immer auf der Seite ihres Kindes gestanden, darauf bestand, daB
man doch wenigstens einmal einen Maler fragen mochte, ob Wilhelm wirklich
Talent genug besaBe, um den Beruf des Malers zu ergreifen, entschloB sich
der Vater, die Arbeiten des Sohnes dem beruhmten Anselm Feuerbach vorzu-
legen, der damals gerade zum Besuch bei seiner Mutter in Heidelberg weilte.
T. hat dem Meister niemals vergessen, daB sein warmes Eintreten dem Gold-
schmiedssohn den Weg zur Kunst freigemacht und nunmehr dessen heiBer
Wunsch, die Kunstschule in Karlsruhe besuchen zu diirfen, erfullt wurde.
Ein Jahr, vom Fruhling 1868 bis 1869, blieb er dort, um dann auf den Rat
seines Lehrers, des Schlachtenmalers Feodor Dietz, nach Miinchen sich zu
begeben, wo er zunachst in das Atelier des Piloty-Schulers Alexander Wagner
eintrat. Die bald darauf stattfindende Eroffnung der internationalen Aus-
stellung im Miinchener Glaspalast aber, in der so bedeutende Erscheinungen
des Auslandes, wie Courbet, Millet und Manet zum ersten Male vor die deutsche
Offentlichkeit traten, die ferner die teilweise besten Werke von Feuerbach,
Victor Miiller, Leibl, Makart, Griitzner, Bocklin, Iyindenschmit, Piloty, Canon,
Franz Adam und anderen Malern enthielt, brachte ihm zum BewuBtsein,
daB man das Beste doch nur von den besten Kiinstlern, niemals in einer
Massenerziehungsanstalt erlernen konne, er also falsch am Orte sei. Der Aka-
demiebesuch wurde also aufgegeben, und, da T. den Maler Hans Canon
bereits in Karlsruhe kennengelernt hatte, dessen Bilder gut gefunden und ihn.
Triibner 1 65
als Lehrer hatte riihmen horen, entschloB er sich kurzerhand, diesem, der
damals von Karlsruhe nach Stuttgart iibersiedelte, dorthin als Schuler zu
folgen. T. hatte nicht besser wahlen konnen; denn obwohl Canon nicht be-
sonders originell war, beherrschte er doch das Handwerk und dessen Aus-
drucksmoglichkeiten in ganz iiberragender Weise. Er lenkte des jungen Kiinst-
lers Aufmerksamkeit auf die besten Vorbilder und lehrte ihn, die Malerei als
hohe Kunst treiben. Die leuchtende Farbe T.s, die representative Haltung
seiner Bildnisse, seine groBe Auffassung gehen unzweifelhaft auf Canon zuriick,
ebenso auch seine Vorliebe fiir Rubens. Canon muB ein sehr schnell fordernder
Lehrer gewesen sein; denn in seinem Atelier malte T. im Winter 1869/70
das jetzt in der Karlsruher Galerie hangende Bild der beiden Alten »in der
Kirche«. Fiir einen Neunzehnjahrigen eine iiberraschend gute Leistung. Im
Sommer 1870 schickte der Meister den Schuler auf Galeriestudien nach Frank-
furt, Kassel, Weimar, Gotha, Braunschweig, Dresden und Berlin, und im
Herbst des Jahres zog der junge Maler wieder nach Munchen, wo er auf Rat
Karl Pilotys in das eben eingerichtete Atelier von Wilhelm Diez als Schuler
eintrat. Das Vorbild von Wilhelm Diez bestarkte ihn in seiner von Canon
schon erweckten Vorliebe fiir die Kunst der alten Hollander und Flamen.
Eine starke Anregung gab ihm auBerdem der Verkehr mit dem Wiener Maler
Charles Schuch, dessen Beispiel ihn verlockte, Landschaften zu malen. Durch
ihn machte er auch die Bekanntschaft Wilhelm Leibls, der, nachdem er T.s
Arbeiten gesehen, dem jungen Kiinstler riet, die Schule zu verlassen und auf
eigene Hand weiterzuschaffen. Hatte T. Leibl schon langst bewundert, so
entschied er sich jetzt, ihn zu seinem Fiihrer in der Malerei zu erwahlen. Am
liebsten ware er dessen Schuler geworden; aber darauf liefl Leibl sich nicht
ein, und so beschrankte das Verhaltnis der beiden sich darauf, dafi T. ein
Bild Leibls — den » Jungen mit der Halskrause* — erwarb, um die Malweise
Leibls recht genau studieren zu konnen. Mit seiner Begeisterung fiir den groBen
Kiinstler steckte er eine ganze Reihe von anderen jungen Malern an, aus
denen der sogenannte » Leibl- Kreis« — es gehorten auBer T., Schuch und
Lang, die Maler Hirth, Alt, Sped, Schider, Sattler, Wopfner und Hans Thoma
dazu — sich zusammensetzte. Man traf sich im Cafe Probst, beim Letten-
bauer oder im Orlando di Lasso, wo auch Leibl einzukehren pflegte und den
Mittelpunkt der Gesellschaft und der Gesprache bildete.
T. war eine zu starke Individuality, als daB es ihm moglich gewesen ware,
ganz auf Leibls Art sich einzustellen. Er sah ihm in der Tat nicht viel mehr
als gewisse handwerkliche Gewohnheiten, wie das alia prima-Malen, die ge-
wissenhafte Wiedergabe von Handen und den Aufbau des Bildes aus farbigen
Flachen ab, eine Malweise, die er selbst im Laufe der Zeit immer weiter aus-
bildete und die fiir ihn iiberaus charakteristisch geworden ist. Wie wenig er
an Selbstandigkeit durch die Bewunderung fiir Leibl eingebiiBt, bezeugen
die Bilder » Junge am Schrank«, das »Madchen auf dem Kanapee« und »Im
Atelier «, die mit den in Konkurrenz mit Hans Thoma gemalten »Raufenden
Buben« samtlich im Jahre 1872 entstanden sind. Auch das Bildnis seines
Tauf paten, des » Burgermeister Hof meister « in Heidelberg, entstammt diesem
Jahre. Im Herbst 1872 traf er in Venedig mit Schuch zusammen, um mit
diesem Italien zu bereisen. Nachdem sie die wichtigsten Galerien des Landes
gesehen, lieBen die Freunde sich in Rom nieder, um die gewonnenen Erf ah-
i66 1917
rungen — fiir T. die reichere Farbe aus dem Studium der italienischen Ko-
loristen und der handfeste Luminarismus der Spanier — in eigenen Bildern
zu verwerten. Aus dieser Zeit stammen die drei Bilder eines Mohren, ein paar
Aktstudien, das Bild »Beim romischen Wein« und der kniend »Singende
Monch*. Im Herbst 1873 kehrte T. nach Heidelberg zuriick, malte in Er-
innerung an Velazquez die Bildnisse der Eltern, das einer Cousine mit Facher,
mehrere Selbstbildnisse, das Interieur »Im Heidelberger Schlofl« und vier
Wildstilleben, die Schuch erwarb, um sie als Vorbilder fiir seine eigene Stilleben-
malerei zu benutzen.
Der Fruhling 1874 findet die beiden Freunde in Briissel, von wo aus sie
Belgien und Holland bereisen, Galeriestudien machen und wo sie schlieBlich
ein Atelier mieten, um festzustellen, was sie bei ihrem Studium profitiert
haben. T. malt in drei Abwandlungen einen »Christus im Grabe« in kuhner
Verkiirzung von den Fiifien her gesehen, eine Mischung aus Erinnerungen an
Mantegna, Rubens, Ribera und Rembrandt und ein genrehaft gehaltenes
Bildnis des mit ihnen reisenden Malers Hagemeister, dem eine junge Dame
eine Schale mit Friichten anbietet. Fiir den Sommer setzen sich die Freunde
am Chiemsee fest, wo die ersten, bereits vollig meisterhaften Landschaften
T.s, zwei auf Grau und ein dunkles Griin gestimmten Bilder des Schlosses
auf der Herreninsel, der »Dampfersteg« und ein Bild des Sees entstehen. Vom
Herbst 1874 bis ebendahin 1875 absolviert T. seine einjahrige Dienstpflicht
beim 3. Badischen Dragonerregiment in Karlsruhe, malt in dieser Zeit nur
einige Selbstbildnisse und vereinigt sich danach wieder mit Schueh zu gemein-
samer Arbeit in Miinchen. Es kommt nun zu wahrhaften Meisterleistungen
auf dem Gebiete der Bildnismalerei, als deren hauptsachlichste die »Dame
in Grau«, »Maler Schuch «, »Dame in Braun«, »Dichter Martin Greif «, » Blonde
Dame mit Hut und Pelz«, » Brunette Dame mit Pelz« und »Mann mit rotem
Bart« genannt seien. Diese Iyeistungen stehen als Malerei weit iiber allem, was
sonst in dieser Zeit an Bildnissen hervorgebracht worden ist, und zeigen, was
ein begabter Mensch von Rubens, Velazquez und Hals lernen kann, ohne sie
nachzuahmen. Und doch hatte T. mit solchen Prachtstiicken in dieser Periode
der falsch verstandenen Renaissance nicht den geringsten Erfolg, was ihn sehr
niederdriickte. Ein Vierteljahrhundert spater rissen sich indessen die deutschen
Galerien um die verkannten Meisterwerke, und heute weiJ3 man, daB sie zum
Besten gehoren, was die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts hervorgebracht
hat. T. trostete sich nun wieder mit Landschaftsmalen am Wefilinger See,
wo einige seiner am meisten geschatzten Bilder, der »Badeplatz«, der »Zimmer-
mannsplatz« entstanden, denen dann in Bernried noch ein paar Waldbilder
und der »Kartoffelacker« folgten. Nachdem im Herbst 1876 Schuch von ihm
sich getrennt und in Miinchen der sogenannte Leibl-Kreis sich aufgelost
hatte, packte T. die L,ust, seinen Munchener Widersachern nun einmal auf
ihren eigenen Gebieten Konkurrenz zu machen. Er malte eine Anzahl heute
zum Teil verschollener Genrebilder, wie die »Kunstpause« in einer Tischler-
werkstatt, »Leichte Kavallerie«, »Modellpause«, » Munchener Wachtparade«,
ferner Phantasiebilder, wie die drei Bilder mit Zentaurenpaaren, »Mars und
Venus <(, Giganten- und Lapithenkampfe, die I^iebessunderinnen aus i>Dantes
H611e«, eine » Amazonenschlacht «, eine »Kreuzigung« und eine » Wilde Jagd«,
sodann Historien, wie »Gefangennahme Friedrich des Schonen«, »Tilly reitet
Triibner 167
in einen Dom«, und endlich gar Theaterszenen wie »Adelheid und Franz*,
♦Lady Macbeth*; aber auch mit diesen Schopfungen hatte er keine Erfolge,
teils weil das Gegenstandliche auBerhalb seiner Begabung lag, teils weil er
das Reinmalerische zu stark in den Vordergrund gestellt hatte oder zu viel
Wirklichkeitsgefuhl gezeigt, wodurch er den Anschein erweckte, er verspotte
auf seine Weise das, was andere Kiinstler gemacht. Ganz verzagt, begab er
sich 1884 zum Besuche von Verwandten nach London, wo er einige Bildnisse
malte und »Ludgate Hill«, die Strafle, in der das Geschaftshaus seines Onkels
lag, dessen beruhmte Biichersammlung er 1885 als Vermachtnis des Verstor-
benen der Heidelberger Universitatsbibliothek iiberbrachte. Durch das Erbe
seiner inzwischen ebenfalls verstorbenen Eltern in eine vollig unabhangige
Lage versetzt, war er jetzt nahe daran, die Malerei einfach aufzugeben und
ganz seiner Sammlerneigung zu leben ; doch da er die Sommer auf dem Lande
zu verbringen pflegte, erwachte nach kurzer Pause wieder seine Lust an der
Natur und am Landschaftern. In Paris, das er 1889 besucht, hatte er die
Bemiihungen der Maler gesehen, die Natur hell, in naturlichen Farben und im
Lichte der Sonne wieder zugeben, und er versuchte nun, am Chiemsee es ihnen
nachzutun. Sehr bezeichnend fiir diese Bemiihungen ist die »Landschaft mit
der Fahnenstange« von 1891. Ein Jahr spater lafit er sich in Seeon nieder,
wo er eine Reihe ausgezeichneter Bilder des Klostergebietes und des Sees
malt. Dann folgen Landschaften vom Bodensee und aus dem Schwarzwald,
und da er sich jetzt wieder ganz in Form fuhlt, betatigt er sich auch wieder
als Bildnismaler, portratiert eine Anzahl mehr oder minder schoner bekannter
Damen und Modelle, und zweimal den »Schottenjungen«. Auch schriftstelle-
risch tritt er hervor, indem er in einer zunachst anonym erschienenen Bro-
schiire »Das Kunstverstandnis von heute« dem schlechten Geschmack des
Publikums und den ihm immer trostloser erscheinenden Kunstzustanden in
Deutschland zu Leibe geht. Um seine Ansichten iiber das, was er in der Kunst
fiir gut hielt, in die Praxis zu ubertragen, richtete er in der GroBen Berliner
Kunstausstellung von 1895 Kollektiworfuhrungen von Werken Leibls, Hans
Thomas, Victor Mullers und eigener Arbeiten ein, die starke Beachtung fanden
und den Ausstellenden mit einem Schlage zur Beriihmtheit verhalfen. Die
wichtigen deutschen Galerien begannen nun, sich allmahlich mit Werken T.s
zu versehen. Nur in Miinchen lieB man ihn immer noch nicht gelten. Aus
diesem Grunde verlieB er die ihm so wenig wohlwollende Kunststadt 1896
und begab sich nach Frankfurt a. M., wo sein alter Freund Hans Thoma
wirkte. Er wurde nach einiger Zeit Lehrer an dem Stadelschen Kunstinstitut
und entwickelte als solcher eine ungewohnlich fruchtbare Tatigkeit. In aller
Stille vollzog sich hier die Wandlung zum Freilichtmaler, und nachdem es
ihm gelungen war, seine Landschaften auf helle Farben und Harmonien zu
stimmen, versuchte er, die neue Anschauungsweise auch auf das Figurenbild
und das Portrat zu ubertragen. Zunachst malte er einige Akte im Griinen,
wobei er die warme, durch Rot bestimmte Farbe des Fleisches durch den
Gegensatz kuhler griiner Reflexe sehr wirkungsvoll zu heben wuBte. Diese
Aktstudien gehen unter den Titeln: »Adam und Eva«, »Urteil des Paris «,
♦Susanna im Bade«, » Salome « u. a., fanden jedoch wenig Beifall beim Publi-
kum, weil den malerischen Vorziigen durchaus keine geistigen zur Seite
standen. Um so mehr Erfolg hatten die bald darauf entstandenen Reiter-
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bildnisse, weil fiir den Reiter das Freilicht das Natiirliche ist, weil T.s breite
Malerei dem Gegenstande angemessen erschien und sein Gefuhl fiir das Re-
presentative hierbei zur schonsten Geltung kam. Diese Reiterbildnisse ge-
horen nicht nur zu des Kunstlers originellsten Schopfungen, sondern auch
zu den eigenartigsten in der Malerei des 19. Jahrhunderts. Sie stellen mit ihrem
leuchtenden Rotbraun, smaragdenen Griin und den bunten Uniformen das
auBerste an Farbe dar, was seit den Tagen der alten deutschen Meister in
Bildern gezeigt wurde, und sind als prachtvolle Malerei nicht genug zu be-
wundern.
Im Jahre 1900 vermahlte T. sich mit seiner begabten Schulerin Alice
Auerbach, deren reifes und sicheres Kunsturteil er schatzen gelernt hatte.
Drei Jahre spater folgte er dem Rufe seines Landesherrn, des GroBherzogs
Friedrich I. von Baden zur Ubernahme eines Lehramtes an der Karlsruher
Akademie. Er wirkte dort sehr anregend als Lehrer sowohl wie auch als Maler.
Er, den man in Munchen so griindlich miBachtet hatte, portratierte nun, wie
Lenbach, Fiirsten und groBe Herren. Seine Bildnisse des GroBherzogs von
Baden, des GroBherzogs von Hessen, des Hamburger Burgermeisters Moncke-
berg stehen turmhoch iiber dem Ublichen und Gewohnten. Auch Wand-
gemalde wurden ihm in Karlsruhe iibertragen. MiBgliickt sind ihm im allge-
meinen allerdings die vielen Freilichtbildnisse, die er in dieser Zeit malte. Im
Portrat will man vor allem den darzustellenden Menschen, das Positive der
Erscheinung, nicht zufallige Zustande, wie sie das Spiel, das Sonnenstrahlen
auf dem Gesicht erzeugt. Den Irrtum, dem T. in dieser Beziehung sich hin-
gab, hat er allerdings reichlich ausgeglichen durch die wundervollen, von
starker Empfindung fiir die Natur und die Herrlichkeit ihres Farbenkleides
zeugenden Landschaften, die er in Amorbach, Hemsbach, am Starnberger See
und im Stift Neuburg malte. Sie stehen in ihrer festen Form, die nicht ver-
hindert, daB Licht und I^uft voller Leben erscheinen, in ihrer reichen Farbig-
keit und Leuchtkraft in der deutschen Kunst unerreicht da. Sie sichern dem
Namen Wilhelm Triibner Unsterblichkeit, soweit diese nicht schon durch die
meisterhaften Schopfungen der Fruhzeit begriindet wird.
T.s Schriften »Das Kunstverstandnis von heute«, »Die Verwirrung der
Kunstbegrif f e « und »Personalien und Prinzipienc sind mehr oder minder ge-
lungene Versuche, der Allgemeinheit klarzumachen, was er in seiner Kunst
erstrebt hat und erreicht zu haben glaubt, versehen mit Seitenhieben auf
die akademischen Richtungen, denen das Publikum allezeit eine ungleich
groBere Beachtung geschenkt hat als den wirklichen Meistern, den individuell
Schaffenden. Fiir einen solchen sich zu halten, hatte T. vollkommen recht,
und daB er der Kunst selbstlos gedient, ist kein Zweifel; aber eine gewisse
Starrheit der Empfindungsweise und geistige Unbeweglichkeit verhinderten
ihn, zu so tieferregenden Wirkungen zu kommen, wie sie von den Schopfungen
Diirers, Holbeins, Frans Hals', Rembrandts oder Velazquez* ausgehen. Als
Maler schlechtweg indessen steht er als ein Ebenburtiger neben den Aller-
groBten, und was in ihm als Anlage steckte, hat er zur hochsten Vollendung
gebracht. Von wie wenigen Kiinstlern laBt das sich behaupten! Und noch
eines darf von ihm gesagt werden : Seine gerade und einf ache Natur, die durch
nichts zu erschiitternde Hingabe an seine Ideale, die Ehrlichkeit und Sauber-
keit im Handwerklichen seiner Kunst kennzeichnen ihn als den deutschesten
Triibner. Veith l6o
aller Maler, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht. Sein Schaffen bildet
den einstweiligen AbschluB der nihmreichen Periode jener deutschen Kunst,
deren grofiartige Leistungen aus dem 16. Jahrhundert in die Gegenwart
heriiberleuchten.
L,iteratur: Eigene Schriften: Das Kunstverstandnis von heute, Miinchen 1892, Casar
Fritsch; Die Verwirrung der Kunstbegriffe, Frankfurt a. M. 1898, Riitten & Iyoening;
Personalien und Prinzipien, Berlin 1907, Bruno Cassirer; Van Gogh und die neuen Rich-
tungen der Malerei. Kunst f. Alle, Januar 191 5; Der Krieg und die Kunst, Frankfurter
Zeitung, 21. Januar 1916; Der Wert deutscher und franzosischer Kunst, Woehenschrift
der Berliner Neuesten Nachrichten, 8. April 191 7. — Monographien : Hans Rosenhagen,
Nr. 98 von Velhagen & Klasings Kiinstlermonographien, 1908, Bielefeld und Leipzig;
Georg Fuchs, W. T. und sein Werk, 1908, Georg Miiller, Miinchen; Jos. Aug. Beringer,
Klassiker der Kunst XXVI, 1917, Stuttgart. — Schriften: Karl Voll, Zeitschrift fur Bil-
dende Kunst, 1901, Leipzig; Georg Hermann, Siidwestdeutsche Rundschau, 1902, Frank-
furt a. M. ; Hans Rosenhagen, Kunst fur Alle, 1902, Miinchen; L,. Brieger-Wasservogel,
Kunst der Neuzeit Nr. 10, 1903, Strafiburg; Hans Rosenhagen, t)ber Land und Meer, 1907,
Stuttgart; Benno Ruttenauer, Propylaen, 1908, Miinchen; ders., Westermanns Monats-
hefte, 1909, Braunschweig; Hans Rosenhagen, DaheimNr. 14, 1909, Bielefeld und Leipzig;
Wilhelm Michel, Ausstellung in Brackls Kunsthandlung, 19 10, Miinchen; J. A. Beringer,
Triibner- Ausstellung in Karlsruhe 191 1, Leipzig, Kunstchronik ; Karl Scheffler, Kunst und
Kiinstler, 191 1, Berlin; Robert Breuer, Reclams Universum XXVII, 191 1, Leipzig;
Georg Jak. Wolf, Jugend Nr. 4, 191 1, Miinchen; J. A. Beringer, Kunst fur Alle, 191 1,
Miinchen; E. Bender, Kunst und Jugend, 191 1, Stuttgart; Albert Geiger, Der Turmer,
191 2, Stuttgart; Hans Rosenhagen, Kunst unserer Zeit, 1909, Miinchen; Wilhelm Schafer,
Deutsche Maler, 1910, Diisseldorf ; J. A. Beringer, Deutsche Kunst und Dekoration, 1916,
Darmstadt; Paul Kiihn, Ulustrierte Zeitung, 1909, Leipzig; Emil Waldmann, Vorwort
zur II. Auflage von Personalien und Prinzipien, Berlin; Willy F. Storck, Katalog zur
Triibner- Ausstellung Basel 1927; Wilhelm Gobel, ebendort, 1927. — Kunst geschichten :
Richard Muther, Springer-Osborn, Lubke-Semrau-Haack, Alfred Koppen, Meier-Graefe,
Rosenberg-Rosenhagen, Richard Hamann, Wilhelm Hausenstein.
Berlin. Hans Rosenhagen.
Veith, Rudolph Hugo, * am 1. Juni 1846 in Bobischau, Kreis Habelschwerdt,
t am 13. Marz 1917 in Berlin. — Nachdem Rudolph V. die ersten Kind-
heitsjahre in Bobischau verlebt hatte, wurde sein Vater, von Beruf Steuer-
beamter, nach Breslau versetzt. Der kleine Rudolph besuchte dort zuerst die
Elementarschule, spater — von 1856 ab — das katholische Gymnasium zu
St. Matthias, das er 1865 verlieB, um ein Jahr lang als Maschinenbau- und
Hutteneleve in Malapane die praktischen Grundlagen fiir den von ihm er-
wahlten Beruf des Maschineningenieurs zu erwerben. Auf der Provinzial-
Gewerbeschule in Schweidnitz legte er 1867 die Reifepriifung ab, arbeitete so-
dann in der Maschinenbauanstalt des »Fabrikenkonimissarius« F. G. Hofmann
(Maschinen- und Olfabrik Koinonia) sowie in den Werkstatten der Oberschle-
sischen Eisenbahn bis zum 1. Februar 1869 praktisch und trat hierauf zur Ab-
leistung seiner Dienstpflicht als Maschinistenapplikant bei der Maschinen-
kompagnie der Kaiserl. Werftdivision ein. Sein Dienstjahr verlangerte sich un-
erwartet durch den Ausbruch des Deutsch-Franzosischen Krieges, wahrend-
dessen er anfangs auf der Panzerfregatte »Friedrich Karl«, spater — als dienst-
tuender Maschinist — auf dem Aviso »Adler« kommandiert war.
Nach Kriegsende bezog V. im Oktober 187 1 die Konigl. Gewerbeakademie
in Berlin, wo er sich dem Studium des Schiffsmaschinenbaufachs widmete. In
170 1917
der Studienzeit lieBen ihn sein reger FleiB, sein Streben nach Vervollkommnung
seines Wissens und Konnens selbst in den Akademief erien nicht f eiern ; er nutzte
sie, um in verschiedenen Berliner Konstruktionsbureaus sich zeichnerisch und
konstruktiv zu betatigen. Aber auch sonst fiillte ihn das Studium allein nicht
aus. Im akademischen Verein »Hutte«, dem er allezeit ein treues und eifriges
Mitglied gewesen ist, beteiligte er sich an alien wissenschaftlichen Unterneh-
mungen, und sein den Lernstoff tief durchdringender, das Wesentliche stets
scharf erfassender Verstand trieb ihn schon damals dazu, im Verein mit geistig
hochstehenden Freunden die Bearbeitung eines fiir Studienzwecke bestimmten
Lehrbuchs der technischen Mechanik zu ubernehmen und damit auch weniger
begabten Kommilitonen die Erreichung ihres Ausbildungszieles zu erleichtern.
Nach Ablegung der Diplomprufung am 27. Juli 1874 tat er zunachst bei der
Stettiner Maschinenbau-A.-G. Vulcan in Stettin-Bredow als Maschinenbau-
ingenieur Dienst, um jedoch bald in gleicher Eigenschaft in das Konstruktions-
bureau der Markisch-Schlesischen Maschinenbau-A.-G. vorm. F. A. Egells,
Berlin, iiberzusiedeln, wo er unter der trefflichen Anleitung des damaligen
Direktors dieser Firma, Jungermann, wertvolle Anregungen erhielt.
Am 15. April 1875 trat Rudolph V. in den Dienst der damals noch kleinen,
aber in langsamem Aufbluhen begriffenen deutschen Kriegsmarine ein. Er
wurde zunachst zur » probe weisen Beschaftigung« als Marine-Maschinenbau-
Ingenieuraspirant der Kaiserl. Werft in Wilhelmshaven iiberwiesen, wo er sich
schnell die Zuneigung und das Vertrauen seiner Vorgesetzten erwarb. Schon die
ersten Qualifikationsberichte heben seine hervorragende Befahigung, seine um-
fassenden Kenntnisse und seinen regen Diensteifer hervor, und der Vorschlag,
ihn zum Marine-Maschinenbau-Unteringenieurzu befordern, brachte zugleich —
ein gewiB seltener Fall — den Antrag an die Berliner Zentralbehorde heran,
ihm »in Anerkennung seines FleiBes« eine besondere Belobigung zu erteilen.
So arbeitsreich diese Zeit war, so engte sie doch seinen angeborenen, ihm bis ins
hohe Alter treu gebliebenen Frohsinn nicht sonderlich ein. In jugendlicher Un-
bekummertheit durchstreifte er damals im Kreise gleichgesinnter Kollegen die
Stadtchen und Dorfer der Umgegend, und so manche Geschichte aus dieser
Zeit, so mancher Jugendstreich lebte spater in seinen Erzahlungen wieder auf
zur Freude aller, die das Gluck hatten, ihm in solchen Stunden geruhsamer Er-
holung zuhoren zu diirfen.
Am 19. Juli 1878 verheiratete er sich mit Fraulein Katharina Asmus; mit
innigem Verstandnis fiir die Eigenart des mit Arbeit und Verantwortung tiber-
lasteten, dabei zu immer hoheren Wiirden aufsteigenden Gatten hat diese Frau
ihm allezeit treu zur Seite gestanden und Freud' und Leid mit ihm geteilt.
Nachdem V. 1883 zum Maschinenbau-Ingenieur befordert worden war, wurde
er 1885 als Baubeaufsichtigender fiir Torpedoboote zur Firma F. Schichau nach
Elbing kommandiert. Mit diesem Kommando erhielt sein Leben eine entschei-
dende Wendung. Schon damals genofl Schichau im Torpedobootsbau Weltruf,
und an dieser Statte eines grofiziigigen, alle Moglichkeiten bis zur auBersten
Grenze erschopfenden konstruktiven Wirkens konnte V. am besten den Grund
zu der Fiille von Sonderkenntnissen und -erfahrungen legen, die ihn spater zu
hohen Leistungen auf dem Gebiete des Torpedobootsbaues befahigten. Fiinf
Jahre lang hat er in dieser Stellung gearbeitet und — gelernt. Eine Reihe lite-
rarischer Arbeiten, die in der Marine- Rundschau abgedruckt wurden, legt
Veith I yx
Zeugnis ab von dem Geiste, mit dem er die damals gewonnenen Eindriicke fur
die weitere Entwicklung im Interesse der Marine nutzbar zu machen be-
strebt war.
1890 wurde V. als Marine-Maschinenbaumeister der Kaiserl. Werft in Kiel
zugeteilt. Nach voriibergehender Beschaftigung im Maschinenbauressort er-
nannte man ihn nebenamtlich zum technischen Beirat des Torpedoressorts und
iiberwies ihn nach der 1891 erfolgten Beforderung zum Marine-Maschinenbau-
Inspektor dem letztgenannten Ressort zu hauptamtlicher Beschaftigung. Von
hier aus wurde er 1893 »zum Studium des Baues und Betriebes der Thornycroft-
Wasserrohrkessel fiir Torpedoboote bzw. auf Torpedobooten « nach England
geschickt, wo er Gelegenheit erhielt, aus eigener Anschauung die Arbeitsstatten
kennenzulernen, die zu jener Zeit im Kriegsschiffbau fiihrend waren. Wenn
sich die deutsche Marine-Maschinenbautechnik in der Folgezeit sehr bald auf
eigene FiiBe gestellt und den englischen Lehrmeister zum mindesten erreicht,
wenn nicht iiberflugelt hat, so durfte — neben den Maschinenbaubetrieben der
groBen deutschen Werften und ihren Iyeitern — V. einen erheblichen Anteil an
dieser Entwicklung fiir sich in Anspruch nehmen.
An ein mehrjahriges Kommando zur Dienstleistung in der Konstruktions-
abteilung des Reichsmarineamts zu Berlin, wahrenddessen er unter der Ober-
leitung des durch seine Verdienste um die wirtschaftliche Weiterentwicklung
der Schiffs-Dampfkolbenmaschinen und die Einfiihrung der Wasserrohrkessel
in die Marine bekannten Geh. Admiralitatsrats Langner eine verantwortliche
Stellung innehatte und daneben auch noch die Baubeaufsichtigung fiir die
Maschinenanlagen der damals beim Stettiner Vulcan in Bau befindlichen
Kriegsschif f e ausiibte, wurde dem inzwischen zum Marinebaurat und Maschinen-
baubetriebsdirektor Beforderten die technische I,eitung bei der Kaiserl. In-
spektion des Torpedo wesens in Kiel iibertragen. Hier riickte er 1898 zum
Marine-Oberbaurat, 1899 zum Geheimen Marinebaurat und Maschinenbau-
direktor auf.
In dieser Stellung, die ihm zum ersten Male eine selbstandige schopferische
Tatigkeit ermoglichte, hat V. Leistungen vollbracht, die seinen Ruf auch nach
auBen hin fest begnindeten. Die Weiterentwicklung der groBen Torpedoboote,
die mit erheblichen konstruktiven Schwierigkeiten verbundene Anlage ge-
"trennter Maschinenraume, die Beseitigung der anfangs sehr unangenehm in
Urscheinung getretenen Vibrationen dieser Boote waren neben vielem anderen
sein Verdienst. Mit weitem Blick alle Zukunftsmoglichkeiten erfassend, rasch
aus der Fiille des Angebotenen das Aussichtsreiche herausschalend, bei allem
Wagen doch nie das Wagen auBer acht lassend, fand er zur rechten Zeit mit
genialer Sicherheit den Ubergang zur Dampf turbine, deren Einfiihrung einen
neuen Abschnitt in der Geschichte des Schiffsmaschinenbaus einleitete. Auch
die Bedeutung des Olmotors als Schiffsantriebsmaschine hat er schon damals
erkannt. In jahrelanger, an Fehlschlagen nicht armer, aber trotzdem von un-
beugsamer Zuversicht erfiillter Arbeit, stets in engster Fiihlung mit der ein-
schlagigen Industrie, hat er die ersten brauchbaren Unterseebootsmotoren
Dieselscher Bauart mit entwickeln helfen, wie ja auch die Entwiirfe zu den
ersten deutschen Unterseebooten damals unter seiner I^eitung entstanden.
Es konnte nicht ausbleiben, daB die groBen Fahigkeiten, die V. als technischer
Leiter des Torpedo- und Unterseebootsbaus bewiesen hatte, die Aufmerksam-
172 1917
keit der ihm vorgesetzten Dienststellen auf ihn lenkten, als es sich danim
handelte, die Stelle des Chefs der Maschinenbauabteilung im Konstruktions-
departement des Reichsmarineamts neu zu besetzen. 1906 in dieses Amt be-
rufen und damit an die Spitze des gesamten Marine- Maschinenbaus gestellt,
trat V. nunmehr seine hochste und erfolgreichste Dienststellung an, in der er
zunachst zum Geh. Oberbaurat, bereits 1909 zum Wirklichen Geheimen Ober-
baurat mit dem Range der Rate I. Klasse aufstieg.
In die zehn Jahre, wahrend deren es Rudolph V. vergonnt war, in dieser
Stellung tatig zu sein, drangte sich eine gewaltige Ftille von Entwicklungsarbeit
groBen Stils zusammen. Die schon in ziemlich vorgeschrittenem Bauzustande
befindlichen Dampfzylinder der GroBen Kreuzer »Scharnhorst« und »Gnei-
senau« wurden ausgebohrt und damit zu hoherer Leistung befahigt, eine Kiihn-
heit, die nur durch die auf den Torpedobooten gewonnenen Erfahrungen er-
klarlich war. Schnell kam dann der Ubergang zur Dampfturbine, zuerst bei den
Kreuzern, dann auch bei den Linienschiffen. GroBter Wert wurde von V. auf
wissenschaftliche Griindlichkeit bei der Weiterentwicklung dieses Maschinen-
typs gelegt, und er scheute sich gar nicht, Wissenschaftler der Technischen
Hochschulen zur Mitarbeit heranzuziehen, wo er sich davon eine sachliche
Forderung seiner Ziele versprach. Damit baute er auch die gewaltigen Lei-
stungen von mehr als 100 000 PS, die in den Maschinenanlagen unserer Schlacht-
kreuzer kurz vor dem Kriege untergebracht waren, auf fester Grundlage auf und
konnte die Verantwortung fiir Schiffsturbinenanlagen selbst von 300 000 PS,
wie sie wahrend des Kriegs, unter Einschaltung von Zahnradgetrieben hohen
Wirkungsgrades, entworfen wurden, aber des unglucklichen Kriegsendes wegen
leider nicht mehr zur Ausfuhrung kamen, getrost iibernehmen. Selbstverstand-
lich hat es dabei an Schwierigkeiten nicht gefehlt. Aber seine zahe Beharrlich-
keit, die ein als richtig und erstrebenswert erkanntes Ziel nie mehr aus den
Augen lieB, uberwand alle Hindernisse, die sich seinem technischen Wollen in
den Weg stellten. Die Schiffsolmaschine hat ebenfalls in ihm einen energischen
Forderer gefunden. Beweis dafiir sind die beiden je zwolftausendpferdigen
Dieselmotoren, die auf seinen Antrag schon 1909 bzw. 1910 bei der Maschinen-
fabrik Augsburg-Niirnberg bzw. bei der Fried. Krupp A.-G. Germaniawerft
bestellt wurden und die als Mittelmaschinen fiir die L,inienschiffe » Prinzregent
Luitpold« bzw. »Sachsen« bestimmt waren. Diese Groflolmotoren, die ersten,
die je gebaut worden sind, haben nach Beseitigung groBer Schwierigkeiten 1917
ihre Abnahmeerprobungen erfolgreich beendet, und wenn sie ihrem Bestim-
mungszweck nicht mehr zugefuhrt werden konnten, so lag das lediglich an den
Kriegs- und Nachkriegsverhaltnissen in Deutschland. Aber es unterliegt keinem
Zweifel, daB Bau und Erprobung dieser Motoren eine Ingenieurleistung ersten
Ranges waren und bahnbrechend sowie vorbildlich fiir den gesamten Schiffs-
olmaschinenbau gewirkt haben. Handelte es sich hierbei um groBe, langsam-
laufende Dieselaggregate, so wurde andererseits unter V.s I^eitung auch der
Grund zur Entwicklung kleinerer und leichter, bordbrauchbarer Schnellaufer-
Dieselmotoren gelegt, wie sie wahrend des Krieges in den deutschen Untersee-
bootsmaschinen das Staunen und den Neid aller Volker erweckt haben. Und
schlieBlich hat er durch sein Wirken als Prasident des Preisgerichts in den
beiden Kaiserpreiswettbewerben um den besten deutschen Flugzeugmotor auch
der Flugmotorenindustrie die Wege zu einer zielbewuBten Entwicklung ebnen
Veith. Wagner 1 73
helfen. Nach der Schlacht vor dem Skagerrak, in der sich die deutschen Kriegs-
schiffbauten vorziiglich bewahrt haben, wurde ihm das Eiserne Kreuz I. Klasse
als Anerkennung seiner Iyeistungen zuteil. Zahlreiche Ehrenamter hat er be-
kleidet, stets mit gleichem Erfolge, wie ihn iiberragende Klugheit und wohl-
begriindete Autoritat zu verbiirgen pflegen. Der Verein Deutscher Ingenieure,
der ihn zu seinen Ehrenmitgliedern zahlte, hat ihm die Grashof-Denkmunze,
die Schiffbautechnische Gesellschaft ihre goldene Medaille verliehen. Die
Technische Hochschule zu Darmstadt verlieh ihm die Wiirde eines Doktor-
Ingenieurs ehrenhalber.
Sein ganzes dienstHches Leben hindurch war V. ein trefflicher Vorgesetzter.
Pflichttreu bis zum Letzten, stellte er zwar an seine Mitarbeiter hohe Anforde-
rungen, lieB ihnen aber, sobald er Vertrauen zu ihnen gewonnen hatte, in ihrem
Arbeitsbereich groBe Selbstandigkeit und erhohte gerade dadurch ihre Arbeits-
freudigkeit in hohem MaBe. Zu den fuhrenden Mannern der Industrie hielt er
stets enge Beziehungen aufrecht. Mogen auch sein gesellschaftliches Talent,
seine stets humorvolle Erzahlungskunst zu dieser Beliebtheit ein gutes Teil
beigetragen haben, die Hauptursache lag doch in seinem immer von sachlichen
Gesichtspunkten getragenen dienstlichen Verhalten. Einen schonen Beweis
ihrer Zuneigung hat ihm die Industrie anlaBlich der Feier seines 70. Geburts-
tages gegeben, indem sie ihm einen groBeren Geldbetrag zu beliebiger Ver-
wendung zur Verfiigung stellte. Er bestimmte dieses Geld zu einer Stiftung,
deren Verwaltung er der Schiffbautechnischen Gesellschaft iibertrug und aus
der unbemittelten Studierenden des Schiffbau- und Schiffsmaschinenbaufachs
nicht nur das Studium, sondern auch nach dessen AbschluB der Ubertritt ins
berufliche Leben erleichtert werden sollte. Leider ist diese »Veith-Stiftung«
durch die Inflation zum groBten Teil vernichtet worden.
Literatur: Die aratlichen Akten des Reichsmarineamts. — Ein vom gleichen Verfasser
geschriebener Nachruf in der Zeitschrif t : Der Olmotor, Heft 12, vom Marz 19 17.
Berlin-Iyankwitz. Wilhelm L,audahn.
Wagner, Adolf, Dr. phil., o. Professor der Nationalokonomie und Statistik
^n der Universitat Berlin, Wirkl. Geh. Rat, Exzellenz, * 25. Marz 1835 in
Brlangen, f 8. November 19 17 in Berlin. — Adolf W.s Leben und Wirken hat sich
ganz im Rahmen der Universitat abgespielt. Ein Jahr nach seiner Promotion
wurde er Professor und 59 Jahre ist er als solcher tatig gewesen. Es wird nicht
viele Professoren gegeben haben, die diese Ziffer erreichten.
Adolf W.s Professorenzeit zerfallt in zwei ungleiche Teile: eine Zeit der
akademischen Wanderschaft von 12 Jahren und eine Zeit von 47 Jahren in
Berlin. In der kurzen ersten Periode lernte W. das Ausland, allerdings iiber-
"wiegend das benachbarte und stammverwandte Ausland, in Wien und Dorpat
mit einer Griindlichkeit kennen, wie es bis dahin einem deutschen Professor
der Nationalokonomie noch nicht vergonnt gewesen war. Bedeutsame Inter-
nationale Vergleiche drangten sich ihm von selbst auf und machten ihn zum
ersten grundsatzlichen Vertreter der vergleichenden Methode. Die lange Periode
in der Reichshauptstadt umfaBt die Jahre von 1870 bis 1917, also fast die
ganze Zeit des neuen deutschen Kaisertums, fast ein halbes Jahrhundert. Auch
das diirfte seinesgleichen kaum finden.
174 lw
Wie das auBere Leben, zeichnete sich auch sein innerer Verlauf , trotz leiden-
schaftlicher Kampfe, durch grofie Stetigkeit aus. Es steht ganz unter dem
Zwang einer inneren Logik. Adolf W. ist als Spezialist in die Wissenschaft
eingetreten; man konnte ihn in der ersten Zeit seiner Laufbahn geradezu
den ersten ausgesprochenen Spezialisten unter den deutschen Nationaloko-
nomen nennen. Dann aber erwuchs aus dem Spezialistentum ein immer starke-
rer innerer Erweiterungstrieb, so daJ3 man am Ende seiner Laufbahn fast
sagen konnte, es habe unter den Zeitgenossen von Adolf W. keinen deutschen
Professor gegeben, der die eigentliche Nationalokonomie in solcher Voll-
standigkeit erfaBte. Nur Alfred Marshall ist ihm vergleichbar.
Unter den deutschen Nationalokonomen, die in voller Manneskraft die
Griindung und den Ausbau des Deutschen Reiches erlebt haben, nimmt
Adolf W. auch ins6fern eine besondere Stellung ein, als sich die deutsche Ge-
samtentwicklung kaum in dem Wirken eines anderen Gelehrten so bedeut-
sam spiegelt. Das erklart sich auBerlich aus der schon erwahnten Tatsache,
daB W. die Entwicklung des neuen Deutschen Reiches von Anfang an bis
tief in den Weltkrieg hinein in einer fur die Beobachtung und Anteilnahme
bevorzugten Stellung erlebt hat; und es erklart sich sachlich daraus, daB W.
als Vertreter eines Faches, das mit den Wandlungen der letzten Jahrzehnte
vielleicht starker als ein anderes verkniipft war, seine Gelehrtenarbeit stets
als einen Doppeldienst fur Wahrheit und Vaterland auffaBte und niemals
zauderte, mit seiner ganzen Personlichkeit fur das einzutreten, was er fiir
richtig hielt. Weil er ein Professor im urspninglichen und hochsten Sinn dieses
Wortes war, treten in seiner Personlichkeit die groBen Probleme, die die Zeit
bewegten, besonders eindrucksvoll in die Erscheinung.
Adolf W. entstammt einer ausgesprochenen Professorenfamilie. Schon sein
Vater (Rudolf) und sein Onkel (Moritz) waren bekannte Professoren gewesen,
und auch sein B ruder (Hermann) und sein Schwager (Benndorf) sind es ge-
worden. Auch fiir ihn selbst diirfte die akademische Laufbahn fruh festge-
standen haben. Anfangs widmete er sich der Rechtswissenschaft ; wahrend
aber in der spateren Generation viele erst im reifen Lebensalter den Ubergang
zur Volkswirtschaftslehre vornahmen, wandte er sich ihr schon auf der Uni-
versitat ganz zu. Mit dieser Umsattlung hangt es wohl zusammen, daB W.
nicht nur sein Studium lange ausdehnte, sondern auch wahrend seiner Studien-
zeit noch nicht zu einer rechten Selbstandigkeit in seinen wissenschaftlichen
Anschauungen gelangte. Karl Heinrich Rau hat ihn vielmehr in Heidelberg
in die Lehre der englischen Schule von der freien Konkurrenz eingefuhrt, die
sich damals in Deutschland, trotz Friedrich List, einer fast unbestrittenen
Herrschaft erf reute. Er war nicht der Mann tiefer Problemerorterung. W. scheint
daher die ihm iibermittelte Lehre zuerst einfach iibernommen zu haben und
erst spater, als er dem personlichen EinfluB seines Lehrers entriickt war, haben
sich starkere Zweifel bei ihm herausgebildet.
Auch bei seinem Gottinger Lehrer, Georg Hanssen, liegt es ahnlich. Zwar
hat W. immer mit groBer Hochachtung von ihm gesprochen ; aber man kann
heute nickblickend Hanssen geradezu als einen Gegensatz zu W. bezeichnen.
Er war kein Theoretiker, kein Politiker, kein Kampfer; er war eine stille, in
erster Linie der Vergangenheit zugewandte Gelehrtennatur, die ganz in ihren
feinsinnigen Forschungen aufging. Hanssen wTie Rau sind daher ohne dauern-
Wagner I nc
den EinfluB auf W.s wissenschaftliche Personlichkeit geblieben ; aber auBerlich
sollten beide sein Leben entscheidend beeinflussen.
Was Hanssen zunachst anlangt, so ist er es allem Anschein nach gewesen,
der W. bei der Wahl des Themas zu seiner Gottinger Dissertation behilflich
war. Diese Wahl ist fur W. zum groBen Gliick geworden. Er wurde durch sie,
als erster in Deutschland, mit dem praktisch und theoretisch bedeutsamen
Material bekannt, das aus AnlaB der Reform des englischen Banknotenwesens
zusammengebracht worden war und sich nicht nur aus Berichten und Verneh-
mungen, sondern auch aus einer hochstehenden Streitschriftenliteratur zu-
sammensetzte. Die theoretischen Auseinandersetzungen zwischen der Banking-
School und der Currency-School standen im Vordergrund, Auseinander-
setzungen, wie sie so tiefgriindig ein Gesetzgebungswerk noch nicht begleitet
hatten.
W. schloB sich in seiner Erstlingsschrift der Banking-School, die in Fullarton
ihren hervorragendsten Vertreter hatte, an. Er bekannte sich also als Gegner
der Grundprinzipien, auf denen die Peelsche Bankakte aufgebaut worden war,
und iibte insbesondere an den Ausfuhrungen des Hauptes der Currency-School,
Lord Overstone, eine scharfe, teilweise noch doktrinare Kritik. Er oflenbarte
sich noch ganz als Anhanger des Laissez-faire. Er glaubte ein »stetiges Fort-
schreiten zu freierer Gestaltung feststellen zu konnen« und sprach sich fur
Bankenfreiheit aus. Charakteristisch ist das Motto, das er seiner Arbeit vor-
ansetzt: Free trade in banking is not synonymous with free trade in swindling.
Der Verfasser ist in dieser Erstlingsarbeit unzweifelhaft mit den schwierigen
Problemen und dem iiberreichen Tatsachenmaterial innerlich und auBerlich
noch nicht fertig geworden. Und doch lenkte sie, als er sie 1857 stark erweitert
unter dem Titel: »Beitrage zur Lehre von den Banken« herausgab, die Auf-
merksamkeit in ungewohnlichem MaBe auf den jugendlichen Verfasser. Denn
sie zeigte ihn vertraut mit einer auslandischen Literatur, deren groBe allge-
meine Bedeutung jedem damals einleuchtete, und oflenbarte sich auBerdem
deutlich als ein erster Schritt auf einem weiten Wege. Der Eindruck, daB die
angeschnittenen Probleme den Verfasser so bald nicht wieder loslassen wiirden,
wurde entscheidend. Denn die Entwicklung, die das Wahrungswesen, zum Teil
infolge des Krimkrieges, in mehreren Festlandsstaaten Europas genommen
hatte, hatte einen gewissen Haussebedarf fiir gut geschulte Geld- und Bank-
theoretiker entstehen lassen. Voran stand zunachst Osterreich. Es war mitten
in erregten Erorterungen tiber die Wiederherstellung seines zusammengebroche-
nen Geldwesens. Als gerade damals die Handelsakademie in Wien ins Leben ge-
rufen wurde, lag es deshalb nahe, den jungen Gottinger Gelehrten fiir sie zu
gewinnen. W. wurde mit 23 Jahren an der neuen Anstalt Professor der Natio-
nalokonomie und Finanzwissenschaft. Das war der zweite groBe Glucksfall in
seinem Leben. Denn in Wien boten sich die Probleme, die er bisher nur aus
Buchern kannte, dem geschulten Blick in der wirtschaftlichen Praxis dar, und
der ubergliickliche junge Professor zogerte nicht, sich auf sie alsbald mit aller
Wucht zu sturzen. Erst dadurch wurden seine ubernommenen Lehrmeinungen
zu lebendigen Anschauungen. Erst in Wien rang er sich zu wissenschaftlicher
Selbstandigkeit durch.
Dazu hat unzweifelhaft auch die groBe Wirtschaftskrise von 1857, ^^e m
England zum zweitenmal zu einer Suspension der Peelschen Akte notigte, viel
176 1917
beigetragen. Sie machte W. an der bisher vertretenen Lehre von der Banken-
freiheit irre. Er sab ein, daB das Vielbankensystem in Krisenzeiten eine wirk-
same Kredithilfe schwer leisten kann. Er blieb zwar Gegner der Currency-
School und der Peelschen Bankakte, wurde zugleich aber zum iiberzeugten
Freund der Zentralisierung der Notenbanken. Das war die erste scharfe Ab-
wendung von der individualistischen Freiheitslehre, die er bei Rau gelernt hatte.
Von gereifteren Gesichtspunkten aus trat er so noch einmal an dasThema seiner
Dissertation heran. In einem neuen Buch liber die Geld- und Kredittheorie der
Peelschen Bankakte legte er 1862 in ausfuhrlicher theoretischer Begriindung
den Problemkomplex der englischen Notenbankgesetzgebung dar; noch ein-
dringlicher als bisher verfocht er das System der bankmaBigen Deckung der
Noten gegeniiber den Grundsatzen der Peelschen Bankakte und erweiterte
seine Darlegungen zu einer »Schrift liber Geld- und Kreditwesen im allge-
meinen«. Dabei vermied er es streng, zu den brennenden Wahrungsproblemen
Osterreichs ausdriicklich Stellung zu nehmen ; er iiberlieB es dem Leser, selbst
die notigen praktischen Folgerungen zu ziehen. In groBeren und kleineren
Artikeln, unter denen der in der Tubinger Zeitschrift erschienene »Zur Ge-
schichte und Kritik der osterreichischen Bankozettelperiode« besonders her-
vorgehoben zu werden verdient, befaBte er sich mit den einschlagigen oster-
reichischen Fragen ausdriicklich. Mit diesen Studien erweiterte er sein Ge-
sichts- und Arbeitsfeld. Hatte sein Bemuhen bisher der Frage gegolten, wie
man das Banknotenwesen am gesundesten aufbauen konne, so befaBte er sich
jetzt auch mit den Krankheitsproblemen des Wahrungswesens. Aufs sorgsamste
arbeitete er die wesentlichen Sonderheiten der Papiergeldwahrung aus. AUer-
dings sollten diese Arbeiten erst auf russischem Boden zu vollem AbschluB ge-
langen.
1864 vertauschte W. Wien mit Dorpat. So gern er nach Wien gezogen war,
Dorpat empfand er etwas als Verbannung. Trotzdem wandte er sich auch hier
sogleich den Studien der russischen Geldverhaltnisse zu. Die besonderen russi-
schen Probleme scheinen ihn sogar, trotz der Sprachschwierigkeiten, noch
starker als die osterreichischen gepackt zu haben. Die Hauptfrucht seiner
wissenschaftlichen Arbeit war hier das Buch »Die russische Papierwahrung«,
das 1868 erschien und von dem spateren russischen Finanzminister Bunge
in das Russische iibersetzt wurde. Damit war W.s Lehre vom Papiergeld, die
als Agiotheorie bekannt geworden und von ihm selbst auch »Kaufkraft-
Bewegungs-Theorie« genannt worden ist, ausgereift. Sie ist mit Recht als ein
»Musterbeispiel der Verbindung der Induktion und Deduktion« (Altmann)
bezeichnet worden und ist alsbald in der deutschen und russischen Literatur,
vor allem von A. SchafHe und von Robert v. Mohl angenommen worden. Erst
damit war W. der deutsche Sachverstandige fur die Fragen des Geld- und
Bankwesens geworden ; es war daher auch natiirlich, daB ihm die einschlagi-
gen Artikel im Handworterbuch der Staatswissenschaften von Rentzsch an-
vertraut wurden, wie er auch schon vorher mehrere im Staatsworterbuch
von Bluntschli und B rater abgefaBt hatte.
Da brachte das Jahr 1868 eine unerwartete Wendung. Der ordentliche Pro-
fessor der Nationalokonomie v. Mangoldt, der in Gottingen, als W. dort
studierte, Privatdozent war und mit dem W. 1862 eine kleine Studienreise nach
England unternommen hatte, starb plotzlich am Herzschlag. Sein j lingerer
Wagner I yj
Freund, der sich in diesen Jahren nationalen Aufschwungs immer mehr in die
deutsche Heimat zunickgesehnt hatte, wurde sein Nachfolger. Auch auf dem
deutschen Boden standen zunachst die Probleme des Geld- und Bankwesens
fur ihn im Vordergnind. Er hatte alsbald ein Gutachten iiber die Banknoten-
frage in Baden zu erstatten, nnd zwar von dem Standpunkt aus, wie sich der
Staat zum Banknotenwesen zu verhalten habe. Aus diesem Gutachten ist ein
neues Werk, das vielleicht bedeutendste von Adolf W., hervorgewachsen. Es
ist das allerdings erst 1873, schon in W.s Berliner Zeit, erschienene umfang-
reiche » System der Zettelbankpolitik«. Es erganzt die friiheren theoretischen
Erorterungen aus dem Jahre 1862 durch eine wirtschaftspolitische Monographic,
wie sie so geschlossen und vollstandig auch die englische Literatur noch nicht
aufzuweisen hatte. In ihr wendet W. zuerst ganz umfassend die vergleichende
Methode an. Er behandelt neben Deutschland, das er jetzt auch griindlich
studiert hat, England und Schottland, die Vereinigten Staaten, Frankreich,
Osterreich und RuBland und verwendet zum erstenmal eingehend die kurz vor
dem Deutsch-Franzosischen Kriege veranstaltete franzosische Bankenquete
und insbesondere den bemerkenswerten SchluBbericht ihres Generalbericht-
erstatters de Lavenay. Zum Teil gestiitzt auf die hier gemachten Ermittlungen,
bietet W. im Rahmen dieses groBen »Handbuchs« die erste zusammenfassende
wissenschaftliche Bearbeitung der Diskontpolitik. Auch alle anderen Fragen
des Notenbankwesens, die fur den Staat Bedeutung haben, erfahren eine zum
Teil sehr eingehende Behandlung. Das Werk sollte zugleich ein »Nachschlage-
buch« fiir Manner der Wissenschaft und der Praxis des Geschaftslebens und
des Staatsdienstes sein. Es zeigt, wie die eingehenden Vergleiche W.s praktischen
Blick geschult haben und ihn zu reifen Anschauungen iiber das Verhaltnis von
Theorie und Praxis gelangen lieBen. Es hat fiir die Regelung des Banknoten-
wesens im Deutschen Reich eine grundlegende Bedeutung gewonnen.
Stellt dieses Buch den auBeren AbschluB der Studien aus der Jugendzeit
dar, so haben doch die Fragen des Geld- und Bankwesens nie aufgehort, W.
zu beschaftigen ; erst spat sind sie jedoch zu einer groBen Gesamtdarstellung
zusammengefaBt worden. Diese Verspatung hangt u. a. mit einem wissen-
schaftlich-politischen Streit zusammen, den W. in Berlin mit groBer Leiden-
schaftlichkeit viele Jahre lang gefuhrt hat. 1877 hatte namlich der beriihmte
Wiener Geologe Ed. SueB (s. D. B. J. 1914 — 16, S. 93) eine aufsehenerregende
Schrift »Die Zukunft des Goldes« erscheinen lassen. In ihr gelangte er zu sehr
pessimistischen Ergebnissen iiber die Goldversorgung der WTelt, und den Aus-
fuhrungen des Geologen schloB sich W. als Volkswirt an. Er zeigte, wie man
die Schwierigkeiten des Ubergangs zur reinen Goldwahrung in Deutschland
unterschatzt habe, und zogerte nicht, aus der neuen Erkenntnis auch alsbald
die praktische Konsequenz zu ziehen, indem er in den achtziger und neunziger
Jahren sich, gegeniiber dem Doktrinarismus einzelner Goldwahrungspolitiker,
zu einem zu weitgehenden AnschluB an die bimetallistische Stromung hinreiBen
lieB. Wenn W. spater diesen Standpunkt wieder aufgegeben und sich ausdriick-
lich von der Doppelwahrung abgewendet hat, so bedeutet das aber keineswegs
einen Widerruf fruher von ihm vertretener theoretischer tJberzeugungen. Die
Erklarung dieser Meinungsanderung liegt vielmehr im Bereiche der Tatsachen.
Die bergbauliche Praxis widerlegte die geologische These von der zu kurzen
Golddecke. Sobald das feststand, zog W. daraus mit derselben Unerbittlichkeit
dbj 12
178 1917
seine Folgerungen, wie seinerzeit aus dem Warnnife von Suefl im Vertrauen
auf die Autoritat desselben.
Sogleich zu erwahnende andere Aufgaben sind es dann in erster Linie ge-
wesen, welche die angekiindigte lehrbuchartige Darstellung des gesamten Geld-
wesens lange nicht zustande kommen lieBen. In einer anderen als der ursprting-
lich geplanten Form ist sie erst 1909 als letzte groBe Veroffentlichung von Adolf
W. erschienen. Es ist das die nahezu 700 Seiten umfassende »Sozialokonomische
Theorie des Geldes und des Geldwesens«. Aui3erlich ist sie ein Teil der zweiten
Abteilung von W.s theoretischer Sozialokonomik ; in Wahrheit stellt sie eine
groBe Monographic des Geldwesens dar, die nur mit dem 1873 erschienenen
Hauptwerk von Knies und dem 1903 veroffentlichten Buch von Karl Helfferich
iiber das Geld verglichen werden kann. Hat W. es auch etwas gewaltsam in
seinen urspriinglich ganz anders angelegten »GrundriB« hineingezwangt, so
sucht er doch eine Eigengesetzlichkeit im Bereich des Geld- und Kreditwesens
darzustellen und geht auf die Verkniipf ung mit dem gesamten Wirtschaftsleben
nur so weit ein, als es die Geldlehre erfordert. Damit sind die Gesichtspunkte,
welche in der Inflationszeit in den Vordergrund traten, nicht, wie man wohl
gemeint hat, in unzulanglicher Weise beriihrt worden. Sie finden vielmehr in
der isolierenden Betrachtung Beachtung, und daB diese Betrachtungsweise,
wie anderswo, auch hier den Vorzug der Fruchtbarkeit hat, kann wohl nur in
Zeiten der Wirrnis iibersehen werden. Allerdings findet die Quantitatstheorie
unter ihrem Namen keine eingehende Behandlung. Unter dem EinfluB von
Tooke war W. anfangs ihr Gegner. Im Grunde aber hat er sich immer nur gegen
ihre Ubertreibungen und Unvollstandigkeiten gerichtet. Sein Eintreten fur
bankmaBige Notendeckung beruht auf quantitatstheoretischen Erwagungen,
und er zuerst hat in der deutschen Literatur Entwertung gegeniiber dem
Metallgeld und Wertverminderung gegeniiber alien anderen Waren scharf von-
einander gesondert. Fiir W. war es selbstverstandlich, daB er in seinem SchluB-
werk das Wertproblem als »das wichtigste okonomische Problem « des Geld-
wesens bezeichnete und, wie schon in seinen ersten Schriften, auch hier wieder
betonte : nicht Stoff und nicht Bezeichnung bestimmen den Geldwert, sondern
die Funktion des Geldes. Das hat er mit besonderem Nachdruck gegeniiber
Knapp hervorgehoben, dessen 1905 erschienene »Staatliche Theorie des Geldes«
er als »miBlungenen Versuch, in iiberkiinstelter Terminologie, unter zu weiter
Zuriickdrangung der wirtschaftlichen Ausgangspunkte jedes Gelds, mit t)ber-
spannung des staatlichen Einflusses auf Geld und mit falschen Deduktionen
aus im iibrigen langst bekannten Vorgangen in reiner Papierwirtschaft« be-
zeichnet. Leider sind W.s Darlegungen nicht zu der ihnen gebiihrenden Wirkung
gekommen. Daran ist zum Teil unzweifelhaft die besonders schwerfallige Dar-
stellung dieses Alterswerkes schuld, zum Teil aber auch die Tatsache, daB
Knapp die Erorterung allzusehr in theoretisch nicht uninteressante, aber im
Grunde doch unfruchtbare Nebenbahnen hineingedrangt hatte.
ZWISCHEN dem Geldwesen, zumal dem kranken, und dem staatlichen Finanz-
wesen bestehen mannigfache Beziehungen, die sich im staatlichen Anleihe-
wesen zu konzentrieren pflegen. Es lag daher in der Logik der Dinge, daB W.
in Wien von der Geld- und Wahrungspolitik zum Staatsschuldenwesen gelangte,
und von ihm aus fiihrte der Weg von selbst weiter zu den staatlichen Finanzen
im allgemeinen. Denn die groBe Hauptfrage ist stets, wann sind Anleihen ge-
Wagner 1 79
rechtfertigt und wann miissen Steuern erhoben werden. Schon Karl Dietzel
hatte diese Frage 1855 in seinem »System der Staatsanleihen « nach der Dauer
der Wirkung der Ausgaben beantwortet/ Im AnschluB daran griff 1863 der
28jahrige W., nachdem er drei Jahre vorher schon iiber »das neue Lotterie-
anlehen und die Nationalbank« in Osterreich eine Druckschrift herausgegeben
hatte, mit einer Arbeit iiber »die Ordnung des osterreichischen Staatshaushalts
mit besonderer Riicksicht auf den Ausgabe-Etat und die Staatsschuld « in die
Erorterung ein und machte, im AnschluB an eine klarende theoretische Dar-
legung, viel beachtete praktische Reformvorschlage. Auf dem Gebiete der Fi-
nanzwissenschaft ging W. also, im Gegensatz zu seinen Geld- und Bank-
studien, von brennenden Problemen der finanziellen Praxis aus und gelangte
erst von ihnen zur Theorie. Von vornherein stellte er hier eine enge Verbindung
zwischen Theorie und Praxis dar, wie er sie im Geld- und Bankwesen erst spat
und nie so vollig erreicht hat. Das hat viel dazu beigetragen, daJ3 W. hier noch
schneller als im Bankwesen zum anerkannten Sachverstandigen wurde. Es
war daher auch nicht auffallig, daB W. 1870 an die Berliner Universitat berufen
wurde, als man Roscher nicht fur sie zu gewinnen vermochte, und daB der alte
Rau noch vorher die Fertigstellung der neuen Auflage seines Lehrbuches der
Finanzwissenschaft W. iibertrug. Das war der Punkt, wo dieser Lehrer be-
deutsam in W.s Leben eingriff. Die neue Aufgabe, die er ihm anvertraute,
wurde fur W. zur eigentlichen Hauptaufgabe seines Lebens.
Die Finanzwissenschaft war bekanntlich im Ausland ein Teil der gesamten
Volkswirtschaftslehre geblieben, in Deutschland dagegen — dank den Kame-
ralisten — zu weitgehender Selbstandigkeit losgelost worden. Diese Isolierung
war ihrem wissenschaftlichen Charakter zunachst nicht forderlich gewesen. Rau
hatte es sich zur Aufgabe gestellt, das dadurch zu iiberwinden, daB er die L,ehren
der Finanzwissenschaft, nach einer griindlichen Sichtung, mit der englischen
Wirtschaftslehre von der freien Konkurrenz in Verbindung zu bringen suchte.
Ihm war unzweifelhaft ein Fortschritt zu danken. Denn die Finanzwissenschaft
wurde damit aus den engen Banden bloBer Routine herausgelost ; grundsatz-
liche Erorterungen konnten jetzt an die Stelle einseitiger Erfahrungsregeln
treten; eine Finanztheorie, insbesondere Steuertheorie wurde moglich. Rau
nutzte aber diese Moglichkeiten nicht aus. Er beschrankte sich auf eine ziem-
lich auBerliche Verbindung der beiden verschiedenen Bestandteile, von denen
die kameralistischen nach wie vor das Ubergewicht behielten ; die theoretische
Herausbildung der Probleme gelangte bei ihm nicht zu ihrem Recht.
Zum Teil wegen dieses unproblematischen Grundcharakters, zum Teil aber
auch trotz der wissenschaftlichen Schwache hatte sich das Rausche finanz-
wissenschaftliche Lehrbuch seit dem Beginn seines Erscheinens im Jahre 1832
in immer neuen Auflagen auf dem wissenschaftlichen Markte erhalten. Es hatte
anfangs eine Konkurrenz nur im Roscherschen Lehrbuch, das von ahnlichem
Vermittlungsstreben beherrscht war und seine wissenschaftlichen Vorziige in
zahllosen Anmerkungen versteckte. Das hatte sich jedoch neuerdings geandert.
i860 hatte Lorenz v. Stein sein Lehrbuch der Finanzwissenschaft herausge-
geben, das, in denkbar scharfstem Gegensatz zu Raus Darstellung, alles mit
ziigelloser Dialektik zum Problem machte und von Auflage zu Auflage die er-
staunlichsten Veranderungen aufwies.
Angesichts dieser Lage war die von W. ubernommene Aufgabe sehr schwierig.
i8o 1917
Die Neuherausgabe muBte eine griindliche Umarbeitung werden, und zwar
gait es, besonnen eine Mittellinie zwischen Rau und v. Stein zu verfolgen. Wie
sonst in der Wirtschaftswissenschaft, muBten auch hier die Probleme heraus-
gearbeitet und durch sorgsam gesichtete und verglichene Tatsachen, moglichst
von internationalem Umfang, untermauert werden und verlangte auch die
internationale wissenschaftliche Literatur griindliche Beriicksichtigung. Das
alles ist W. alsbald bei seinen ersten Arbeiten klar geworden. Die Veranderung,
die notig wurde, war so groB, daB er sich 1879 mit Recht entschloB, den Namen
des Lehrers aus dem Titel fortzulassen. Aber so klar er auch das zu verfolgende
Ziel erkannte, iiber die Schwierigkeiten seiner Erreichung hat er sich griindlich
getauscht. Sein ganzes langes I^eben hat nicht ausgereicht, sie zu iiberwinden.
Zwar ist W.s Finanzwissenschaft, die in vier starken Banden von rund
3300 Seiten vorliegt, von v. Heckel mit Recht »ein Monumentalbau, wie die
finanzwissenschaftliche Weltliteratur keinen zweiten aufzuweisen hat«, genannt
worden, aber dieser Bau ist unfertig geblieben. Auch konnen die vorliegenden
Bande im ganzen nicht als eine reife Frucht bezeichnet werden. Sie fallen in
zwei so verschiedene Bestandteile auseinander, daB sie eigentlich nur durch
den Titel zusammengehalten werden.
Die ersten beiden Bande sind der wesentliche Kern des Werkes. Sie sind der
Theorie des Finanzwesens gewidmet und stellen W.s bleibende groBe Leistung
auf dem Gebiet der Finanzwissenschaft dar. Ihre Grundgedanken sind in drei
Auflagen mit emsigstem FleiB und sorgsamster Selbstkritik immer starker
herausgearbeitet worden. Nur ein Vergleich mit dem Voraufgegangenen gibt
fur diesen Bestandteil den gerechten MaBstab.
W. hat in diesen beiden ersten Banden den Bereich der Finanzwissenschaft
erweitert. Er hat insbesondere zuerst die privatwirtschaftlichen Einnahmen
des Staats in sie umfassend hineingezogen und vor allem die Verstaatlichung
der Eisenbahn griindlichster Erorterung gewiirdigt. Er hat weiter die Finanz-
verwaltungslehre zu einem wissenschaftlichen Bestandteil der gesamten Fi-
nanzwissenschaft zu erheben gesucht.
Wichtiger sind die Anderungen grundsatzlichen Charakters. W. ist es, nach
Lorenz v. Stein, in erster Linie gewesen, der die Finanzwissenschaft an die
vornehtnlich in Deutschland entwickelte organische Auffassung vom Staat
angepaBt hat, und er hat wirksamer als ein anderer die Volkswirtschaftslehre
und Finanzwissenschaft, unter Beibehaltung ihrer auBeren Trennung, zu einer
groBen geistigen Einheit zusammengefiigt. Davon ist sogleich noch zu handeln.
Hier muB nur hervorgehoben werden, daB W. aus der speziellen Steuerlehre
die allgemeine Steuerlehre, die bei Rau sich kaum in Ansatzen und bei v. Stein
in vagen Allgemeinheiten vorfindet, zu einem der wichtigsten Teile der ge-
samten Finanzwissenschaft entwickelt hat.
Dieser erste Hauptteil des groBen finanzwissenschaftlichen Werks wird
weiter dadurch gekennzeichnet, daB W. zuerst in die Finanzwissenschaft und
Finanzpolitik den sozialen Gedanken hineinzubringen gesucht hat. Hatte man
bisher fur die Finanzgebarung nur das Ziel der zweckmaBigsten Deckung der
offentlichen Ausgaben ins Auge gefaBt, so stellt W. jetzt daneben das neue Ziel
der Minderung steigender Ungleichheiten in den Einkommen; der Staat soil
nach ihm befugt sein, mit Steuern »regulierend und veranderad« in die Ein-
kommens- und Vermogensverhaltnisse der einzelnen einzugreifen. Hier ist der
Wagner l8l
Punkt, wo W. die scharfsten Angriffe erfahren hat, und sie gehen zum groBen
Teil iiber einseitige Interessenpolitik weit hinaus. Heute wird man einerseits
anerkennen miissen, daB der mutig verfochtene soziale Grundgedanke W.s
richtig war. W. vor allem ist es zu danken, daB heute bei der Verteilung einer
gegebenen Steuerlast die Beriicksichtigung der Leistungsfahigkeit der ein-
zelnen Steuerzahler als selbstverstandlich erscheint, obwohl auch mit diesem
Grundsatz der Steuerprogression Gefahren des MiBbrauchs verbunden sind.
Mit dem Vorschlag, dariiber hinaus die Steuer als Mittel der Sozialpolitik zu
verwenden, ist W. aber andererseits auf iiberwiegende Ablehnung gestoBen.
Denn in der »sozialen Auffassung« liegt ein Moment der Willkiir, das lahmend
auf Unteraehmungslust und Kapitalbildung wirken kann; und mit Steuern
kann weder die Verteilung der Einkommen noch ihre Verwendung direkt be-
einfluBt, sondern nur nachtraglich eingegriffen werden. Demgegeniiber ist
eine Politik der Prevention vorzuziehen.
Der zweite Teil, der aus dem 3. und 4. Bande besteht, bietet Finanzgeschichte.
Einer einheitlichen Skizze iiber die Steuergeschichte von den fruhesten Zeiten
bis 1800 (200 S.) folgen fur das 19. Jahrhundert Sonderdarstellungen : zunachst
auf kurzem Raum (140 S.) fur England, dann ganz ausfuhrlich (549 S.) fur
Frankreich, dessen Steuerwesen W. das gewaltigste nennt, das die Welt bis-
her gesehen hat, und in dem er auch fiir die Gegenwart ein »Lehrexempel
groBten Stils « sieht, endlich nicht minder ausfuhrlich (850 S.) fiir Deutschland.
Es soil ten noch andere Lander folgen, insbesondere die Vereinigten Staaten.
Dazu ist es nicht mehr gekommen.
Auch dieser geschichtliche Teil ist eine erstaunliche Leistung. Aus der ganzen
deutschen Literatur kann ihm kein zusammenfassendes Werk der Finanz-
geschichte zur Seite gestellt werden. Und doch iiberwiegt der unbefriedigende
Eindruck. Diese umfangreichen geschichtlichen Darstellungen sind, wie W.
mit starkem Nachdruck betont, » nicht aus dem Gesichtspunkt des Historikers*
geschrieben worden ; sie sollten — um den schweren Mangeln des Lehrbuchs
von Lorenz v. Stein zu entgehen — die notige feste Tatsachengrundlage fiir
die spezielle Steuerlehre liefern und nur »Vorbereitungen fiir die Losung der
eigentlichen finanzwissenschaftlichen Aufgabe« darstellen. Diese groBe Auf-
gabe einer vergleichenden »Steuerwissenschaft« ist aber nicht mehr zur Losung
gebracht worden und konnte auch von einem einzelnen — miissen wir heute
sagen — nicht zur Losung gebracht werden. Es lag in der selbst gestellten
Aufgabe, daB nicht mehr als ein eindrucksvoller Torso gewonnen werden
konnte. Wohl ist in den beiden starken Banden manche wertvolle Frucht miih-
seliger Sammelarbeit enthalten ; im ganzen ist aber nicht zu leugnen, daB auch
W.s Kraft und FleiB an der Aufgabe gescheitert sind. Sie hat auch heute noch
keine Losung gefunden und wird sie auch kaum bald finden.
Da W. in den geschichtlichen Vorarbeiten seine Kraft verzehrt hat, ist sein
finanzwissenschaftliches Hauptwerk auch auBerlich unvollendet geblieben.
Die beiden SchluBbande, welche die spezielle Steuerlehre und die Staatsschul-
denlehre behandeln sollten, sind nicht mehr geschrieben worden. Aber fiir
diese fehlenden Bande ist teilweise ein gewisser Ersatz vorhanden. W. hat
namlich in dem der Finanzwissenschaft gewidmeten Teil des von Schonberg
herausgegebenen Handbuchs der politischen Okonomie die spezielle Steuer-
lehre, soweit sie die sogenannten direkten Steuern, insbesondere die Ertrags-,
182 1917
Personal-, Einkomraen- und Vermogenssteuer betrifft (215 S.), und ferner die
Ordnung der Finanzwissenschaft und den offentlichen Kredit (116 S.) behan-
delt. Natiirlich war das Geplante etwas von Grund aus anderes.
AM Schicksal der Finanzwissenschaft von Adolf W. war noch etwas Weiteres
beteiligt. Die Losung der Hauptaufgabe, Finanzwissenschaft und Volkswirt-
schaftslehre in Einklang miteinander zu setzen, war verhaltnismaBig leicht,
wenn die Volkswirtschaftslehre etwas Feststehendes war, wie Rau es noch
glaubte. Im selben MaBe, wie man von der individualistischen Lehre der
englischen Klassiker abwich, wuchsen die Schwierigkeiten. Dann war die Auf-
gabe nur losbar, wenn man vorher darlegte, was man im einzelnen unter Volks-
wirtschaftslehre verstehe. Dann muBte also der Darstellung der Finanzwissen-
schaft eine zusammenfassende Darstellung der theoretischen Volkswirtschafts-
lehre vorausgehen. So gelangte W. mit logischem Zwang zur Abfassung einer
allgemeinen theoretischen »Grundlegung«. Er dehnte dementsprechend die
Ubernahme des Rauschen Lehrbuchs 1872 auf die ganze »politische Okono-
mie« aus. Natiirlich dachte er nicht daran, das Ganze allein zu bearbeiten.
Ihm lag zunachst nur an der »Grundlegung« fiir das groBe, die Finanzwissen-
schaft mit einschlieBende Werk. Fiir die iibrigen Teile hatte er urspriinglich
Erwin Nasse und nach dessen Tode Heinrich Dietzel, A. Buchenberger und
Karl Biicher gewonnen. Wahrend bezeichnenderweise nur Buchenberger mit
der iibernommenen Bearbeitung des Agrarwesens und der Agrarpolitik fertig
wurde, Dietzel nach einer Teilveroffentlichung die Bearbeitung der theoreti-
schen Volkswirtschaftslehre auf gab, um Pohle, der auch in den Vorarbeiten
stecken blieb, Platz zu machen, und Biicher nicht einmal bis zu den Anfangen
des von ihm iibernommenen Gewerbe- und Handelswesens gelangte, stiirzte
sich W. selbst sogleich mit aller Kraft auf die »Grundlegung«, so dafl diese
Unteraufgabe bald zur Hauptaufgabe fiir ihn wurde. So entstand dasjenige
Werk, das man als das wissenschaftliche Hauptwerk W.s zu betrachten
pflegt und das am meisten dazu beigetragen hat, seine finanzwissenschaftlichen
Studien zu verzogern.
W. war schon in Wien bei seinen Studien iiber die Peelsche Bankakte in
einzelnen Punkten an der iiberkommenen Lehre der Klassiker irre geworden.
Er hatte dann in Dorpat im AnschluB an die 186 1 erfolgte Aufhebung der russi-
schen Leibeigenschaft seine Aufmerksamkeit auf den Agrarkommunismus
in RuBland gerichtet, und damit war er zuerst auf das Grundproblem des
Eigentums gestoBen, das ihn dann sein Leben lang beschaftigt hat. So war
im kleinen der Boden vorbereitet fiir die Lehren dreier Manner, von denen
er immer wieder dankbar hervorgehoben hat, daB er von ihnen »mehr und
tiefere und forderlichere Anregungen erhalten habe als von irgendeiner an-
deren Seite«. Alle drei waren zugleich Manner, fiir die W. unzweifelhaft auch
darum immer wieder so warm eingetreten ist, weil ihre Bedeutung in der
zeitgenossischen Wissenschaft seiner Meinung nach nicht richtig gewiirdigt
wurde.
Zeitlich voran stand Robert v. Mohl. Er war unzweifelhaft unter den Uni-
versitatslehrern W.s die Personlichkeit, die ihm am meisten ahnlich war.
Schon die Unermudlichkeit, mit der er, 55 Jahre lang, mutig zu den Fragen
seiner Zeit Stellung nahm, fast alles, das er las und dachte, literarisch ver-
wertete und ruhelos immer an sich selbst besserte, hatte etwas mit W. Ver-
Wagner 1 83
wandtes. Trotzdem hat er erst nach seiner Studienzeit v. Mohls Bedeutung
richtig erfaBt. Er wurde aufmerksam auf seinen 1835 in Raus Archiv er-
schienenen Aufsatz, der den bezeichnenden Titel tragt: »Uber die Nachteile,
welche sowohl den Arbeitern selbst als dem Wohlstand und der Sicherheit der
gesamten biirgerlichen Gesellschaft von den fabrikmaBigen Betrieben zugehen,
und iiber die Notwendigkeit griindlicher Vorbeugungsmittel«. Hier war von
einem deutschen Professor zum erstenmal auf die schadlichen Wirkungen
der neuen Produktionsmethoden fiir die gewohnlichen Fabrikarbeiter und
auf die »drohenden Folgen« hingewiesen und dem iiblichen Optimismus die
Ansicht gegeniibergestellt worden, es sei »fiir den Wohlstand und fiir die Ruhe
von Europa eine Gefahr zu besorgen, wie sie das rdmische Reich durch den
Sklavenkrieg, Deutschland durch die emporten Bauern zu Anfang des
16. Jahrhunderts kennenlernte«. Mohl zog aus dieser Auffassung auch weit-
gehende Folgerungen. Was die Wissenschaft anlangt, so rief er aus: »Jede
Stimme, welche sich erhebt zur Bekampfung dieser tief unsittlichen und mate-
riell hochst gefahrlichen Folge unserer Konkurrenz-Nationalokonomie, ist als
eine Wohltat anzusehen«; und was die Politik anlangt, so hielt er »eine wesent-
liche Anderung in dem ganzen sozialen Gebaude« fiir notig; Selbsthilfe geniige
nicht; »hier ist eine Hilfe von seiten der Staatsgewalt so unerlaBlich als ir-
gendwo«; Fabrikgesetzgebung, Gewinnbeteiligung, Arbeiterfortbildung seien
die wichtigsten Aufgaben des Tages. Diese schrillen Warnrufe, die v. Mohl —
gleichsam als erster Kathedersozialist — noch vor Rudolf Hildebrand er-
schallen lieB, haben auf W. urn so tiefer eingewirkt, als sie sonst merkwiirdig
unbeachtet geblieben waren; selbst Roscher hat in seiner Geschichte der
Nationalokonomik in Deutschland 1874 von ihnen keine Notiz genommen.
Um so dankbarer hat W. in v. Mohl den ersten gesehen, der ihn in seinen ur-
spriinglichen individualistischen Anschauungen von Grund aus erschiitterte.
Starker noch hat Karl Rodbertus auf ihn gewirkt. W. wurde in Freiburg
auf seine Arbeit iiber die Kreditnot des Grundbesitzes, deren erster Teil 1868
erschien, aufmerksam. »Erst jene Schrift — so sagt er selbst — hat mir wie
seiten eine wissenschaftliche Arbeit imponiert und mein ,Damaskus' gegeniiber
der herrschenden Smithschen Wirtschaftslehre mit zum Durchbruch gebracht. «
Mit einem Schlage wurde W. jetzt klar »die Einseitigkeit der bisherigen Natio-
nalokonomie mit ihrer Annahme des bestehenden Rechts als etwas Selbstver-
standlichem und im wesentlichen Unveranderlichem«. Er ging den fruheren
Schriften von Rodbertus nach und fand, daB er schon 1837 vorgeschlagen
hatte, die natiirliche Freiheit durch ein » System staatlicher Leitung« zu er-
setzen; nur dadurch, daB der Staat sich zum »leitenden Organ « im Wirt-
schaftsleben aufschwinge und die Volkswirtschaft mehr als bisher zur Staats-
wirtschaft mache, konne das dringend notige »KompromiB« zwischen der be-
stehenden Gesellschaftsordnung und den herandrangenden sozialistischen Be-
strebungen erreicht werden. Dieser nationale und monarchistische Sozialist,
der wie kein anderer die Staatsidee gegeniiber dem Individualismus betonte
und zum Schutze des Staats und der Monarchic seine sozialistischen Lehren
ersann, machte auf W. einen so starken Eindruck, daB er ihn als den »Ricardo
des okonomischen Sozialismus« neben v. Thiinen und Hermann stellt. Er ist
mit ihm in Briefwechsel getreten und hat dann die Herausgabe seines literari-
schen Nachlasses zeitweise geleitet. Soweit W. »Staatssozialist« ist, ist er es
184 x9i7
durch Rodbertus geworden, und in mehreren Einzellehren, wie insbesondere
in seiner Kapitallehre, steht er deutlich unter seinem starken EinfluB.
In mancher Hinsicht ein Gegengewicht gegen Rodbertus war der dritte Ge-
lehrte, dem sich W. besonders verpflichtet gefuhlt hat: Albert Schaffle. Ihm
hat er 1901 zum 70. Geburtstag den 4. Band seiner Finanzwissenschaft »in
dankbarer Verehrung des Schulers« gewidmet, und er hat hinzugefugt, daB
er sich bewuBt sei, »vielfach in seinen Spuren gewandelt zu haben«. Das bezieht
sich, wie er selbst angibt, in erster Iyinie auf die »Grundlegung«, und zwar
diirfte das in doppelter Weise der Fall sein. Erstens nimmt Schaffle als Kritiker
des Sozialismus eine besondere Stellung ein ; kein anderer Deutscher hatte bis-
her einen so besonnenen wissenschaftlichen Versuch gemacht, in den Ideen
des Sozialismus Wahres und Irriges voneinander zu scheiden, wie er in seinen
1870 veroffentlichten Vortragen iiber Kapitalismus und Sozialismus. Diese
Vortrage sollten zugleich »zur Versohnung der Gegensatze von Lohnarbeit
und Kapital« dienen. Der Kritik entsprach eine positive Darlegung, die sich
zu einer allgemeinen Theorie der Gemeinwirtschaft ausreifte. In diesem Doppel-
streben begegneten sich W. und Schaffle starker als irgendwelche zeitgenossi-
schen Nationalokonomen, so sehr sie auch in der Technik des wissenschaftlichen
Arbeitens voneinander abwichen. Zeitweise sind sie auch auBerlich in der
Schriftleitung der Tiibinger Zeitschrift fiir die gesamten Staatswissenschaften
miteinander verbunden gewesen.
Unter diesen vielfaltigen Einfliissen hat sich W. — zuerst in einer 1870 er-
schienenen Schrift: »Die Abschaffung des privaten Grundeigentums« — von
der »bequemen StrauBenpolitik des optimistischen Manchestertums« abge-
wendet und die neueren theoretischen Anschauungen herausgebildet. Er hat
sie zuerst in seiner »Grundlegung der politischen Okonomie«, die 1876 zum
erstenmal erschien und in dritter und letzter Fassung 1893 und 1894 in zwei
starken Banden herausgegeben wurde, zu einem System zusammengefaBt.
Spater ist noch aus einem 1900 zuerst angefertigten VorlesungsgrundriB die
»Theoretische Sozialokonomik oder Allgemeine und theoretische Volkswirt-
schaftslehre« hervorgegangen, welche die Grundlegung durch die »Aus-
fuhrung«, die urspriinglich von Dietzel und dann von Pohle geliefert werden
sollte, in kurzerem Umfang erganzen sollte und von der 1907 ihr erster, hier
in Betracht kommender Band erschien und 1909 ihr zweiter iiber das Ver-
kehrswesen, der vor allem von der bereits besprochenen groBen Monographic
iiber das Geldwesen gebildet wird, wahrend der vorgesehene dritte Band iiber
»Kredit und Kredit- (Bank-) Wesen, Versicherung und Versicherungswesen,
Konsumtion usw. « nicht mehr fertig geworden ist.
Die starke Wandlung W.s in seinen grundlegenden Anschauungen war an
sich nichts Besonderes. Sie kann geradezu als eine Erscheinung der Zeit be-
zeichnet werden. Ahnlich war z. B. Schmoller (s. oben S. 124 ff.), wie er 1870
in seinem Buch »Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahr-
hundert« bekannt hat, »fruher zu optimistisch nach der hergebrachten Ansicht
der liberalen Nationalokonomie« gewesen. Auch im letzten Ergebnis waren
beide nicht sehr verschieden. Beide waren gegen den »Absolutismus der
Losungen«, wie ihn die extremen Befiirworter des » Laissez-faire « vertraten,
und hielten eine Erganzung der Theorie durch Tatsachenermittlung fiir ge-
boten; beide verurteilten den »schonfarbenden Optimismus« der bisher herr-
Wagner 185
schenden Lehre, konnten sich den »mancherlei nachteiligen Folgen fur die
Verteilung des gesamten Giiterertrages unter die bei der Produktion betei-
ligten Personen« nicht verschlieBen und traten dafiir ein, dafl neben wirt-
schaftlichen Gesichtspunkten auch ethische Beriicksichtigung fanden; beide
haben daher auch bei der Begriindung des Vereins fiir Sozialpolitik wichtige
Rollen gespielt. W. hat sogar durch einen kraftvollen Vortrag iiber die soziale
Frage, den er kurz nach seiner Ubersiedlung nach Berlin 1871 hielt, die An-
grifle der Gegner der Sozialpolitik, deren Wortfuhrer H. B. Oppenheim war,
auf sich konzentriert und so, als »das lohnendste und mustergultigste Exemplar
der ganzen Gattung« des Professorentums, den unmittelbaren AnstoB zur
Pragung des neuen Ausdrucks »Kathedersozialismus« gegeben. Spater ist er
allerdings aus dem Verein fur Sozialpolitik zeitweise wieder ausgeschieden,
und zwar teils urn voile Freiheit im Verfolgen seiner Ziele zu haben, teils aber
auch, weil er, im Gegensatz zu den Fuhrern des Vereins, der Ansicht war, daft
die wiinschenswerte Vereinigung wirtschaftlicher und ethischer Gesichts-
punkte nicht bereits in der Wirtschaftslehre, sondern erst in der Praxis des
Wirtschaftslebens zu erfolgen habe. Darum wollte er das protestantische
Christentum fiir den sozialen Gedanken zu gewinnen und eine evangelisch-
soziale Arbeiterbewegung, als Gegenstiick zu der groBen katholischen, ins
Leben zu rufen helfen. Aufs lebhaf teste nahm er an dem Evangelisch-sozialen
KongreB und seinen Arbeiten teil und schloB sich sogar, obwohl er anfangs dem
rechten Fltigel der Nationalliberalen oder dem linken der Freikonservativen
angehorte, Adolf Stocker an, um mit seiner Hilfe die konservative Partei, die
dem Christentum am nachsten stand, mit sozialpolitischem Geist zu erfullen.
Er hat kurze Zeit auch (1882 — 1884) als ihr Mitglied dem Reichstag angehort.
Die Gegensatze zwischen W. und der Historischen Schule, deren Fuhrung
sich immer mehr in Schmollers Hand vereinigte, gingen aber noch tiefer. Wah-
rend die neue historische Schule sich von der klassischen nicht nur in einzelnen
Lehren, sondern im ganzen abwandte und in der abstrahierenden und deduk-
tiven Methode den Hauptmangel der bisherigen Lehre erblickte, verbrannte
W. nicht, was er bisher angebetet hatte. Er wollte die Lehre der englischen
Klassiker nicht preisgeben, sondern weiter entwickeln und bekampfte nicht
die Abstraktion und die Deduktion an sich, sondern ihre falsche Verwendung.
Nach ihm handelt es sich nicht um die Alternative Theorie oder Tatsachen-
kunde, sondern ist beides aufs engste zu verbinden. Noch ehe von einer neuen
historischen Schule die Rede war, ist W. in dieser Frage zu bemerkens-
werter Klarheit gekommen. Er fuhrte schon 1868 in seinem Buch iiber die
russische Papierwahrung das Folgende, das 50 Jahre spater auch ein Max
Weber hatte sagen konnen, aus: »Die sozialen und wirtschaftlichen Organismen
unterstehen, wie alles Menschliche, zwei Gesetzen, dem Gesetz der gleich-
artigen Gestaltungstendenz der Erscheinungen im ganzen und dem Gesetz
der individuellen Verschiedenheiten der zu einer Erscheinungsgruppe ge-
horigen Vorgange im einzelnen. Die Vereinigung beider Momente, nicht die
ausschlieBliche Beriicksichtigung bloB des einen oder des anderen ist das
Richtige und damit auch die wahre Aufgabe der gelauterten Theorie. Aber
begreiflich ist es, daB die Theorie zu leicht geneigt ist, nur das Gleichartige,
die Praxis nur das Verschiedene der Erscheinungen zu beachten.« Der Theo-
retiker muB, »um eben auf das schlieBlich doch die Entwicklung der Erschei-
i86 1917
nung nachhaltig beherrschende Gesetz zu kommen, von den modifizierenden
Umstanden abstrahieren. Aber er darf hinterher bei der Wiederanwendung
der Theorie fiir die Praxis, d. h. eben fur die jeweilige Wirklichkeit oder die
Welt des Individuellen nicht vergessen, daB er abstrahiert hat . . . Der Prak-
tiker aber miifite bedenken, daB seine Routine im Grunde stets ebenfalls auf
einer Theorie . . . beruht«, die aber »in der Regel eine falsche Abstraktion
des Gleichartigen in den Erscheinungen ist . . . Der rat ion e lie Praktiker,
welcher nicht Routinier sein will, muB sich dieser theoretischen Einsicht fiigen,
sonst baut er fiir den Moment, wo zufallig die Bedingungen wirksam sind,
welche er fiir bleibend wirksam halt, nicht fiir die dauernde Zukunft.«
Auf Grund dieser Erwagungen betrachtete es W. als seine Aufgabe, »zwar
das Gleichartige in den Erscheinungen nicht zu tiberschatzen und das Ver-
schiedene nicht zu verkennen, aber dennoch von diesem Gleichartigen aus-
zugehen und die gewonnenen allgemeinen Grundsatze zur Richtschnur auch
bei der konkreten Frage zu nehmen«. Danach hat er auch stets gehandelt.
Von diesem Stand punkt aus ist er zugleich zu einem Verteidiger der Klassiker
geworden. Gegeniiber den Vorwiirfen eines kalten Utilitarismus und oden
Schematism us betonte er den hypothetischen Charakter jeder Abstraktion
und Deduktion. So fuhrte er aus, daB es, »rein okonomische Beweggriinde nur
in der Hypothese gibt«, im Leben haben ihnen sittliche Pflichten, wie sie aus
Vermogen, Bildung und gesellschaftlicher Stellung erwachsen, zur Seite zu
treten. Aber er halt es, wie schon angedeutet wurde, fiir falsch, daraus die
Folgerung zu ziehen, daB die Theorie sich nicht wie bisher der isolierenden
Methode bedienen diirfe. Ohne Isolierung sei sie nicht moglich; sie schaffe des-
halb immer nur »Annaherungswerte«, »Gestaltungstendenzen« und bedurfe
immer im konkreten Einzelfall der Erganzung durch Tatsachenermittlung.
Die Forderung miisse also heiBen : den hypothetischen Charakter der Theorie
nicht vergessen! Nicht in der Theorie selbst, in ihrer Anwendung liegt der
Mangel !
Es war nur eine natiirliche Konsequenz dieses Standpunktes, daB W. sich
auch der osterreichischen Schule der Volkswirtschaftslehre nicht so ablehnend
gegeniiberstellte wie fast alle Anhanger der historischen Schule. Er bekannte
ausdriicklich, ihr viel zu verdanken, ohne sich freilich »durchaus auf ihre Seite
zu stellen«. Vor allem Bohm-Bawerks groBes Werk (s. DBJ. 1914 — 16, S. 3 ff.)
riihmt er als »ausgezeichnete« Leistung. In dem heftigen Streit zwischen
Schmoller und Menger (s. DBJ. 1921, S. 196 ff. und oben S. 128) steht er sach-
lich Menger naher, aber innerlich hat er trotzdem Schmoller gegen die »pam-
phletistische Polemik« des Wiener Kollegen in Schutz genommen. Im ganzen
hat jedoch auch W. mit der osterreichischen Schule nahere Fuhlung nicht
gehabt. Wahrend er sich sonst stets mit Andersdenkenden ausfuhrlich aus-
einandersetzte, versagte er hier zum groBen Teil. Er hat auch nie eine richtige
Vorstellung von der auBerordentlichen Verbreitung der Grenznutzenlehre
auBerhalb Deutschlands gewonnen.
Auch in bezug auf die Untermauerung der Theorie mit Tatsachenmaterial
war urspriinglich ein Unterschied vorhanden, der freilich im Laufe der Zeit
etwas verblaBte. Die historische Schule stellte die Vergleiche verschiedener
Zeiten und Entwicklungsphasen eines Volkes in den Vordergrund. W\ dagegen
erstrebte »ahnliche Vergleichungen im Raume, bei gleichzeitig lebenden ver-
Wagner 1 87
schiedenen V61kern«. Es ist klar, daJ3 diese international vergleichende Me-
thode und die geschichtliche Methode sich nicht ausschlieBen. W. meinte aller-
dings, Vergleichungen der zweiten Art hatten, insbesondere fur praktische
Zwecke, »mehr Wert, weil die einwirkenden Faktoren sicherer zu iibersehen
und die Starke ihres Einflusses eher zu ermessen sei«. Er betrachtete insbeson-
dere das statistische Verfahren als »das relativ vollkommenere Induktions-
verfahren«. Aber wenn auch, wie er meinte, beim historischen Verfahren die
Isolierung der Ursache schwieriger ist, so war er keineswegs gegen wirtschafts-
geschichtliche Untersuchungen. Er hat ja selbst sehr dicke Bande mit ihnen
gefullt. Nur die Identifizierung der Wirtschaftsgeschichte mit der Wirtschafts-
theorie lehnte er scharf ab ; in ihr sah er einen » VerstoB gegen die Forderungen
der Logik in der Methodologie, Systematologie und Aufgabebestimmung der
Wissenschaft«. »Nicht das eine oder das andere, sondern das eine und das
andere!« Nur keine AnmaBung einer »Alleinherrschaft«!
Trotz der umfangreichen wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten W.s bleibt es
Tatsache, daB er sich mit der Statistik sehr viel lieber befaBt hat. Es ging das
zum Teil auf Wappaus zuriick, der Professor in Gottingen war und in dem er
den »hervorragendsten Vertreter des Lehramts der Statistik deutscher Zunge«
erblickte. Aber auch Qu£telet hatte auf W. groBen Eindruck gemacht. Theo-
retisch und praktisch interessierten ihn die statistischen Probleme. Er hat
daher schon 1863 ein Buch iiber die »GesetzmaBigkeit der scheinbar willkiir-
lichen Handlungen« herausgegeben und ist dabei in dem Engel und Wappaus
gewidmeten zweiten Teil auf die Statistik der Selbstmorde aufs griindlichste
eingegangen. Wie diese stoffreiche Arbeit unter den statistischen Privatarbeiten
jener Zeit eine ruhmliche Stellung einnimmt, so war auch W.s Artikel »Sta-
tistik« in Bluntschlis und Braters Staatsworterbuch lange die umfassendste
Bearbeitung dieses Themas. W. ist dann auch in Dorpat Professor nicht nur
der Nationalokonomie, sondern ausdriicklich auch der Statistik gewesen, und
er wurde, als er nach Berlin berufen wurde, Mitglied des PreuBischen Statisti-
schen Bureaus. Er ist als Gutachter in statistischen Fragen verschiedentlich
tatig gewesen und hat auch in seinen iiberwiegend theoretischen Arbeiten
mehrfach eingehende statistische Ausfuhrungen eingefugt, so in seine Sozial-
okonomische Theorie des Geldes die auBerordentlich ausfuhrliche »historische
Statistik der Edelmetalle «.
Nicht minder wichtig als die Unterschiede in der Methode sind die in den
behandelten Objekten. Insbesondere einer ist von groBter Bedeutung. Wahrend
namlich Schmoller in seinem 1900 — 1904 erschienenen »GrundriB der allge-
meinen Volkswirtschaftslehre « dem Sozialismus keinen groBeren Abschnitt
gewidmet hat und demgemafi auch in der Schmoller als Festschrift zum 70. Ge-
burtstag iiberreichten »Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im
19. Jahrhundert« keine der 40 Arbeiten den Sozialismus besonders behandelt,
wahrend auch der Verein fiir Sozialpolitik sich bis zum Kriege mehr um die
einzelnen praktischen Forderungen der Sozialdemokratie als um die Grund-
ideen des Sozialismus bekummert hat, ist fiir W. seine griindliche Auseinander-
setzung mit dem Sozialismus besonders charakteristisch. Er sah in ihm, mit
einem Gemisch von Bestiirzung und Bewunderung, die vielleicht groBte geistige
Bewegung der Zeit. Soweit sie sich kritisch gegen den Optimismus der Kon-
kurrenztheorie wandte, war nach seiner Ansicht, trotz vieler Ubertreibungen,
i88 1917
»im groBen und ganzen das Bild nicht unrichtig, die Malerei nicht tendenzios,
die Diagnose des Ubels nicht falsch«. So kam er zum ersten viel umstrittenen
SchluB : man muB von der Kritik des Sozialismus lernen und sich hiiten, die
kritische Betrachtung der Wirtschaft zu einem Monopol der unteren Schichten
der Bevolkerung werden zu lassen. Er selbst hat immer wieder mutig bekannt,
viel vom Sozialismus gelernt zu haben.
Neben der Kritik steht das Dogma des Sozialismus. Auch dieses muB mit
groBter Sorgfalt zum Gegenstand einer unbefangenen Kritik gemacht werden.
Die Axiome miissen in Probleme verwandelt werden. Denn »was in den kriti-
schen Gedanken und positiven Ideen des Sozialismus richtig ist, wird sich
siegreich erweisen«, und je mehr von den Wunschen der unteren Schichten
unerfullt ist, um so eifriger muB verlangt werden, »daB das Erreichbare ge-
schehe und daB auf das sorgfaltigste gepriift werde, was eben erreichbar sei«.
W. hat diese Priifung des Sozialismus mit nie erlahmendem Mut zur Durch-
fuhrung gebracht und damit die theoretische Volkswirtschaftslehre in bedeut-
samster Weise bereichert. Einige seiner Lehren miissen als Hauptbeispiele da-
fur kurz hervorgehoben werden.
Erstens hat W. eine nationalokonomische Rechtslehre unter dem Schlag-
wort »Freiheit und Eigentum« entwickelt. In ihr wendet er sich einerseits
gegen das, was Jhering das »Blendwerk der juristischen Dialektik, welche dem
Positiven den Nimbus des l,ogischen zu geben versteht«, genannt hat, und
andererseits gegen die Forderungen, die sozialistische Demagogen mit »bod en-
loser I,eichtfertigkeit« in das Publikum tragen. Wissenschaftlich kann es sich
weder um einfache Aufrechterhaltung noch um einfache Beseitigung des Pri-
vateigentums handeln. Die Wissenschaft hat vielmehr die Aufgabe, unab-
hangig vom positiven Recht, breit und ausfuhrlich zu erortern, wo ist Privat-
eigentum und wo Gemeineigentum am Platz, und W. kam bei dieser Erorte-
rung zum Ergebnis, daB viele Unterscheidungen gemacht werden miissen. Er
ging den verschiedenen Verwendungsarten des Bodens nach und unterschied
Wohnboden, landwirtschaftlichen Boden, Waldboden, Bergwerksboden, Wege-
boden und Gewasser. Dieser Mannigfaltigkeit der Bodenarten muBte auch eine
Mannigfaltigkeit in den Rechtsformen des Bodenbesitzes entsprechen. Wie
zur Erhaltung eines gesunden Bauernstandes, des Haupttragers individueller
Volkskraft, das Privateigentum an landwirtschaftlichem Boden unentbehrlich
ist, so erschienen ihm staatliche Beschrankungen, die bis zur Beseitigung des
Privateigen turns gehen konnen, iiberall dort geboten, wo der Boden einen
Monopolcharakter tragt, wie bei den Eisenbahnen infolge der Kostspieligkeit
ihrer Anlage, wie der Bergwerksboden infolge der Erschopflichkeit der Boden-
schatze, wie auch der stadtische Bauboden infolge seiner Lage. Diesen tief-
greifenden Verschiedenheiten muB die Rechtsordnung sich anpassen. Sie ist
nichts Unabanderliches, muB vielmehr im selben MaBe, wie die fortschreitende
Entwicklung neue Unterschiede hervortreten oder Bedeutung gewinnen laBt,
gewandelt werden. Die Grenzen des Staatsbesitzes konnen nicht grundsatz-
Hch ein fiir allemal festgelegt werden. Sie nach den sich andernden Verhalt-
nissen im Wirtschaftssystem neu zu ziehen, ist fiir jede Zeit eine der schwierig-
sten und wichtigsten Aufgaben. Diese hiermit nur angedeutete Theorie des
Grundbesitzes und der Grundrente stellt unzweifelhaft eine sehr wertvolle
Bereicherung der theoretischen Erkenntnis durch W. dar.
Wagner 189
Auch bei der Kapitallehre, die mit seinem Namen verbunden ist, im wesent-
lichen aber schon anf Rodbertus zuriickgeht, handelt es sich darum, zwischen
dem Wirtschaftlichen und Rechtlichen klar zu scheiden. Immer ist Kapital,
ganz unabhangig von der Rechtsordnung, zur Gutererzeugung notig. Dieses
Kapital im reinwirtschaftlichen Sinn, das sich vorfindet, mag das Wirtschafts-
leben organisiert sein wie es wolle, hat W. Volks- oder Produktionskapital ge-
nannt. Es kann auch in einer sozialistischen Gemeinschaft nicht entbehrt
werden. Es ist eine »wirtschaftliche Kategorie«. Das Recht dagegen ist wan-
delbar, und darum ist jede positive Rechtsform des Kapitals nur eine »ge-
schichtlich-rechtliche<( Kategorie. Das ist der Fall mit dem auf dem Privat-
eigentum beruhenden und Einkommen schaffenden Kapital, das W. als das
Privat- oder Erwerbskapital bezeichnet. Dieses ist das Kapital, das der Sozia-
lismus beseitigen will; nur dieses kann beseitigt werden. Die wichtige Folge-
rung ist, daB man bei den »kapitalistischen« Folgen auch diese Unterscheidung
scharf beriicksichtigen muB. Ein groBer Teil der Folgen beruht auf dem Kapital
als wirtschaftlicher Kategorie, auf dem Volks- oder Produktionskapital. Eine
Aufhebung des Privatkapitals beseitigt sie nicht; sie bezieht sich vielmehr
nur auf diejenigen »kapitalistischen« Folgen, die aus der privaten Rechtsform
des Kapitals hervorwachsen, und man kann sehr zweifelhaft sein, ob sie die
wichtigeren sind. Jedenfalls hat der Mangel einer solchen klaren Unterschei-
dung beim Sozialismus eine Fulle von Verwirrung hervorgerufen.
Nicht minder wichtig ist W.s wirtschaftliche Motivenlehre, die er selbst den
»Ausgangspunkt fur alle weiteren Erorterungen in der Wirtschaftslehre« ge-
nannt hat. Auch in ihr richtet er sich gegen zwei Fronten : gegen die Sozialisten,
die den Erwerbstrieb aus dem Wirtschaftsleben ausschalten wollen, und gegen
die Anh anger der historischen Schule, welche in der Lehre von Adam Smith
liber das »Selbstinteresse« eine »bodenlose Oberflachlichkeit<< erblicken. W.
sucht als erster in sorgfaltiger Untersuchung festzustellen, welche Motive im
Wirtschaftsleben uberhaupt eine Rolle spielen und wie sie sich im einzelnen
zueinander verhalten, insbesondere, wieweit sie sich ersetzen konnen. Er ge-
langt zunachst gegeniiber der historischen Schule zu dem Ergebnis, daB die
Lehre der Klassiker hier zwar erganzungsbedurftig, aber nicht falsch und ober-
flachlich ist, wenn sie richtig verstanden wird. Er sagt nachdriicklich, mit Recht
habe »die Methode der Deduktion der politischen Okonomie gerade dieses
Motiv — den , self interest' — als Ausgangspunkt genommen«. Diese ideal-
typische Abstraktion halt er fiir ein wirksames Hilfsmittel, in die Kausal-
zusammenhange einzutreten. Nur muB man natiirlich auch hier das »Verifizie-
rungsverf ahren « nicht vernachlassigen, wie es vor allem die Nachfolger der
klassischen Schule get an haben ; auch iiber die durch das Gesamtwohl gebotenen
Grenzen des Erwerbstriebes und die Moglichkeiten seiner Kontrolle ist Klar-
heit notig. Wichtiger noch ist das Ergebnis gegeniiber dem Sozialismus: die
von diesem so leichthin angenommene Ersetzbarkeit des Erwerbstriebes durch
andere Motive ist ein durch nichts gerechtfertigter Optimismus. Die psycho-
logischen Griinde sind es in erster Linie, an denen die sozialistischen Plane
scheitern; sie bauen sich auf der Annahme »wesensanderer Menschen« auf.
Was Schaffle zuerst dargelegt hat, hat W. zu einer system atischen Lehre ausge-
staltet. GewiB ist sie nichts Fertiges fiir alle Zeiten. Insbesondere in der Zu-
ruckfuhrung der Motive auf die Bediirfnisse und in der Differenzierung der
igo 1917
Analyse konnte man noch weiter gehen. Aber W.s Motivenlehre bleibt eine
theoretisch und praktisch auBerordentlich wertvolle Leistung.
Neben der Motivenlehre hat W. stets in der Bevolkerungslehre den durch-
schlagendsten Grund gegen den Sozialismus gesehen. Er hat immer wieder
Malthus gegen MiBverstandnisse in Schutz genommen, die Ansicht von Karl
Marx, daB das Ubervolkerungselend nur eine Frage der »kapitalistischen« Pro-
duktionsweise sei, bekampft und auf die aus der gleichbleibenden Natur des
Menschen hervorwachsenden grundlegenden Bevolkerungsprobleme hinge-
wiesen. Mit Riicksicht auf sie hat er alles befurwortet, was einer Entvolkerung
des platten Landes entgegenwirken konnte, inid den Kampf gegen den »In-
dustriestaat« auf genommen. Mit Riicksicht auf sie war er der Ansicht, daB die
Ausfuhrung der sozialistischen Plane so harte Beschrankungen der individuellen
Freiheit erfordere, daB sie als untragbar empfunden werden miiBten.
Wahrend W. in der Verstandnislosigkeit des Sozialismus fur die Bevolke-
rungsfrage einen seiner Hauptmangel sah, erkannte er immer wieder an, daB
»eine vollstandige prinzipielle Behandlung der Einfliisse der Konjunktur vor-
nehmlich doch erst den sozialistischen Theorien zu verdanken« sei. Schon 1879
befiirwortete er, auch hier vom Sozialismus zu lernen; denn »die Signatur der
modernen Volkswirtschaft« liege darin, daB die Konjunktur »vielfach als
dritter Hauptfaktor, von welchem die Tauschwertsumme des Giiterbestandes
in der Wirtschaft und des Vermogensbestandes einer Person abhangt, neben
die beiden anderen hierfiir maBgebenden Faktoren, die Produktion und die
Konsumtion, tritt«. Daher hielt er es auch fiir eine berechtigte Aufgabe, den
miBlichen Folgen der Konjunktur entgegenzuarbeiten ; aber das sei naturlich
nur eine »Bekampfung der Symptome, der Folgen des t)bels«. Wichtiger sei,
»zu fordern, ob und wieweit das Ubel selbst, der maBgebende EinfluB der
Konjunktur, beseitigt oder vermindert werden kann«. Das bezeichnet W. als
»die prinzipielle Frage der heutigen Nationalokonomie<(. Diese klare Erkennt-
nis, die seinerzeit nur wenig Beachtung fand, muB sich, fast ein halbes Jahr-
hundert spater, durch eine Wirrnis unklarer Plane erst muhsam wieder durch-
ringen.
Endlich steht mit der Motivenlehre noch eine Lehre im Zusammenhang : die
Organisationslehre. Auch hier hat W., gestiitzt auf Schaffle, in der wissen-
schaftlichen Analyse einen wichtigen Schritt voran getan. Er unterscheidet
drei Systeme : das privatwirtschaftliche, gemeinwirtschaftliche und karitative
System. Stets sind in der Praxis des Wirtschaftslebens alle drei Systeme mit-
einander vermischt. Diese Mischung ist immer verschieden und gibt der ein-
zelnen Volkswirtschaft ihr besonderes Geprage. Den wechselnden Erforder-
nissen der Zeit diese Mischung anzupassen, ist eine Hauptaufgabe aller Wirt-
schaftspolitik. Sie lost sich in zahlreiche Einzelprobleme, insbesondere schwie-
rige Verstaatlichungsfragen auf, die nur in ernster Einzelpriifung, nicht durch
Schlagworte, gelost werden konnen.
An diese Organisationslehre knupfen die positiven Reform vorschlage W.s
an. Sie laufen in der Hauptsache darauf hinaus, das gemeinwirtschaftliche
System in der Volkswirtschaft zu verstarken. Einmal sollen durch eine Reihe
von Verstaatlichungen — die Eisenbahnen, WasserstraBen, Notenbanken so-
wie Walder spielen dabei eine besondere Rolle — besonders schadliche und
verbitternde Ausbeutungsmoglichkeiten ausgeschaltet und damit eine hohere
Wagner igi
Gerechtigkeit in der Verteilung der Giiter erzielt werden. Im Interesse der
Gesamtheit darf der Staat iiberhaupt Monopole privater Art nicht aufkommen
lassen. Zweitens musse ein hoherer Wohlstand der Arbeiterklassen erstrebt
werden. »Proletarier« wie »Millionare« sind »ein Auswuchs, eine soziale Krank-
heit«. Die Gegensatze von Arm und Reich diirfen nicht immer groBer werden;
sie mussen im Gegenteil verringert werden, da die zunehmende Bildung der
Arbeiter sie immer fuhlbarer werden laBt. Das ist der Gesichtspunkt, von dem
aus W. auch die schon besprochene » soziale Steuerpolitik« befurwortet.
W. glaubt im AnschluB an Rodbertus in der Entwicklung des Wirtschafts-
lebens ein »historisches Gesetz« der zunehmenden Ausdehnung der Staats-
tatigkeit erkennen zu konnen und meint, wer dieses Gesetz erfafit habe, habe
auch »die Berechtigung, zu sagen, was geschehen soll«. Fiir dieses Gesetz
ist aber ein zwingender Beweis nicht zu erbringen. Es ist unzweifelhaft in
einem gewissen Gegensatz zum systematischen MiBtrauen, mit dem der Libe-
ralismus der Staatstatigkeit gegeniiberstand, aufgestellt worden; und mit
Recht ist auch gefragt worden, ob der Nachweis einer historischen Entwicklung
geniigen konne, eine tief eingreifende Wirtschaftspolitik zu rechtfertigen.
Solche Zweifel sind urn so mehr am Platze, als eine scharfe Grenze zwischen
Individuum und Staat nicht zu ziehen ist. W. begniigte sich daher auch mit
der ganz allgemeinen Formel, die Tatigkeit des Staates sei moglichst auszu-
dehnen, ohne die Entwicklung des Individuums zu gefahrden. Er verkannte
nicht, daB darin ein gewisses MaB von »Willkur« liege. Darum faBte er auch
selbst »Kautelen« ins Auge, und zwar erstens eine international einigermaBen
gleiche Arbeitergesetzgebung, zweitens eine Regelung der internationalen Kon-
kurrenz durch »soziale Schutzzolle« und drittens die gesetzliche Beseitigung be-
sonderer MiBstande der freien Konkurrenz im Borsen-, Bank-, Aktien- und
Versicherungswesen. Auch dann bleibt besonnenes MaBhalten oder — wie
W. sagt — eine Beschrankung auf die Falle notig, »wo es okonomisch und tech-
nisch passend ist«. Dtese vorsichtige Formulierung kann dariiber nicht tau-
schen, daB W. bei seinen Forderungen einseitig die staatlichen Verhaltnisse
ins Auge gefaBt hat, die ihm damals im Deutschen Reich gegeben zu sein
schienen. Er hat es nicht beachtet, daB das MaB der Staatstatigkeit in erster
Linie von der Art des Staates selbst abhangt: von dem Grade seiner Stetigkeit
und Uberparteilichkeit, der Gesundheit seiner Traditionen, der Bildung seiner
Leiter. Die Gefahren treten urn so ernster in den Vordergrund, je mehr Garan-
tien besonnenen MaBes im Staate fehlen. Seinerzeit hat jedoch diese unermiid-
lich verfochtene Politik, die mit dem irrefuhrenden, nur fiir Rodbertus passen-
den Ausdruck »Staatssozialismus« bezeichnet zu werden pflegt, groBte Be-
achtung gef unden ; sie ist auch von starkem praktischen EinfluB gewesen und
hat einen Sturm von Angriffen gegen W. entfesselt. Mit Bezug auf sie hat
Toennies gesagt: » Kathedersozialismus ist eine Merkwiirdigkeit, eine Gelehr-
samkeit, eine Vermittlung. Staatssozialismus ist ein Programm. Und das war
es, was der Natur W.s gemaB war : in ihm loderte die Flamme reformatorischen
Geistes. «
DAS wissenschaftliche Lebenswerk von Adolf W. stellt eine gewaltige, frei-
lich vielfach unvollstandige Einheit dar. Unter dem Zwang der Logik und dem
Druck eines starken wissenschaftlichen Verantwortungsgefuhls hat sich die
Arbeit eines Spezialgelehrten, der fiir monographische Studien ungewohnlich
192 1917
befahigt war, zu immer umfassenderen Aufgaben systematischer Art geweitet,
obwohl die Zeit, infolge des stiirmischen Gangs der Entwicklung, ihnen abhold
war und wirtschaftswissenschaftliche Spezialstudien einseitig begiinstigte.
Schmoller hat sich diesem Zuge der Zeit gefiigt. Seit seiner Jugendschrift
»Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert« aus dem
Jahre 1870 hat er drei Jahrzehnte lang kein ejgentliches Buchmehr geschrieben
und erst am Ende seines Lebens seine Aufsatze und Vorlesungen zu einem
Werk zusammengefaBt, das mehr das erstaunliche Ergebnis einer langen, rast-
losen Lesearbeit darstellt als das geschlossene System einer Wissenschaft.
W. dagegen hat sich bereits zu Beginn seiner Laufbahn mit den groBten
Aufgaben der Zusammenfassung belastet, von denen er sein Leben lang nicht
wieder frei wurde. Spurt man in Schmollers »Grundrii3« einen Hauch der freu-
digen Stimmung eines Erntefestes, so empfindet man bei den umfangreichen
Werken W.s von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr, wie er von einer Riesenlast
bedriickt wurde, die nicht abzuwalzen war. W. fuhlte sich gleichsam in geistigen
Fesseln, und wenn er sie auch immer wieder fur kurze Zeit abstreifte, so geschah
es doch meist mit einem Gefuhl des schlechten Gewissens. Die voile Freude
des Freischaffenden hat er nur selten genossen. In diesem Widerspruch der
logisch erwachsenen Aufgabe zum Grundcharakter der Zeit und zu der Lei-
stungsfahigkeit eines einzelnen liegt in erster Linie die Tragik dieses Gelehrten-
lebens.
Erst an zweiter Stelle liegt sie in der Sonderstellung, die W. lange Zeit in der
deutschen Wirtschaftswissenschaft angenommen hat. Er schwamm bewuBt
gegen den Strom. Darin war seine wissenschaftliche und menschliche GroBe
begriindet; daraus erwuchs ihm aber auch immer wieder ein Gefuhl nutzlos
vertaner Arbeit und hilfloser Isolierung. Doch immer wieder triumphierte auch
die Uberzeugung von der Berechtigung und Zukunftskraft seiner Methoden
und Lehren, und zum SchluB seines Lebens hat er die groBe Befriedigung ge-
habt, daB die Gesamtentwicklung mehr und mehr in Bahnen einlenkte, die er
selbst zu wandeln und zu lehren nicht miide geworden war.
Trotzdem haben auch jetzt W.s Hauptwerke nicht den EinfluB gewonnen,
auf den sie sachlich einen Anspruch hatten. Das hangt mit dem Gewand zu-
sammen, in dem sie auftreten. Schon auBerlich ist es ungewohnlich. Wahrend
Anmerkungen namlich sonst am FuBe des Textes oder am SchluB des Para-
graphen untergebracht zu werden pflegen, hat W. sie in den Text einbezogen.
Seine Gedankenfuhrung erleidet daher immer wieder Unterbrechungen und
Verlangsamungen. Auch wo eine groBe L,inie in der Darstellung vorhanden ist,
vermag sie nicht wirksam in die Erscheinung zu treten. Das ist um so storen-
der, als W. es als Pflicht wissenschaftlicher Griindlichkeit und literarischen
Anstandes empfand, bei jedem Schritt festzustellen, mit wem er sich ganz
oder teilweise in tTbereinstimmung befinde, und sich mit alien umstandlich
auseinanderzusetzen, welche irgendwie eine andere Ansicht vertraten. Immer
wieder muB der L,eser auf Seitenwegen an kleineren NebenstrauBen teilneh-
men, die ihn wcnig oder gar nicht interessieren.
Das fiel fort, sobald W. die schwerfallige Riistung des wissenschaftlichen
Systematikers auszog. Dann konnte seine Personlichkeit, die mit der umstand-
lichen und pedantischen Methode seiner Lehrbiicher in scharfem Widerspruch
stand, sich frei entfalten. In ihr lebte bis an die Schwelle des Todes eine jugend-
Wagner. Zeppelin 103
liche Feuerseele. Nicht Gelehrter und Lehrer standen bei ihm im Vordergrund,
sondern der furchtlose Kampfer, der gerade aufs Ziel losgeht, sich opfert fur
seine Uberzeugung, auch mit Freunden bricht, wenn die Sache es erfordert.
Diese freie, offene, feurige Personlichkeit enthullt sich in den zahlreichen
Streitschriften, die so eindrucksvoll die miihsame Gelehrtenarbeit begleiten.
Erst Widerspruch brachte sie zu voller Entfaltung.
Ganz ahnlich auch in der Lehrtatigkeit. Die groBen systematischen Vor-
lesungen unterdriickten seine Personlichkeit. In ihnen trat die Muhseligkeit
der Arbeit und die Unterwerfung unter selbst erwahlte Grundsatze zu sehr in
den Vordergrund. Fur sie lieB ihm auch seine wissenschaftliche Tatigkeit
meist nicht viel Zeit zur Vorbereitung. Fiir W. war die kurze offentliche Vor-
lesung der Hohepunkt seiner Lehrtatigkeit. Da entfaltete sich seine groBe
natiirliche Beredsamkeit, steigerte sich sein Wahrheitsdrang zum Bekenner-
mut, teilte er nach links und rechts, oft herausfordernd, lustige Schlage aus.
Wenige konnten eine groBe Zuhorerschaft, zumal eine studentische, so packen
und begeistern. Und wenn W. auch wohl kaum ein groBer Lehrer genannt
werden kann, seine tapfere, treue Mannesart, seine ganze vorbildliche Person-
lichkeit machte ihn zum groBen Erzieher. Er hat keine Schule hinterlassen, und
doch war sein EinfluB weitreichend wie selten der eines Professors. Der auf-
rechte, ritterhche Kampfer fiir das Vaterland, fiir die Gerechtigkeit und fiir
die Wahrheit hat sich, weit iiber den Tod hinaus, eine Statte in vielen dank-
baren Herzen geschaffen.
Literatur: Zunachst iiber Wagners Personlichkeit im ganzen: Schmoller und Sering,
Reden zu W.s 70. Geburtstag. Schrnollers Jahrbuch 1905. — Einleitung zur Festgabe
zum 70. Geburtstag von Adolf W., Berlin 1905. — Artikel W. im Handworterbuch der
Staatswissenschaften. — Reinhold Seeberg, Trauerrede fiir Adolf W., Berlin 1918. —
Hermann Schumacher, Adolf W., eine Gedachtnisrede, Schrnollers Jahrbuch 19 18; auch
Hermann Schumacher, Gustav Schmoller. Technik und Wirtschaft 191 7, Heft 8. —
Toennies, Adolf W.Deutsche Rundschau, Band 174. — Westphal, Adolf W. Deutsche
Akademische Rundschau vom i.Mai 1927.
Sodann iiber W.s Schriften : v. Heckel, Die finanzwissenschaftlichen Schriften Adolf W.s.
Jahrbiicher fiir Nationalokonomie und Statistik 1900. — Entwicklung der deutschen
Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert (Schmoller-Festschrift), und zwar insbesondere
Hermann Schumacher, Geschichte der deutschen Bankliteratur im 19. Jahrhundert; Ger-
lach, Geschichte der Finanzwissenschaft; v. Heckel, Die Steuern. Leipzig 1908. — Vogel,
Die finanzpolitischen Steuerprinzipien in Literatur und Theorie. Zeitschrift fiir die ge-
samten Staatswissenschaften 1 9 10. — Schneider, Adolf W.s Beziehungen zum Sozialis-
mus. Neubrandenburg 192 1. — Kirchner, Adolf W.s Nachlafl in der PreuBischen Staats-
bibliothek. Schrnollers Jahrbuch 1927.
Berlin-Steglitz. Hermann Schumacher.
Zeppelin, Ferdinand Graf v., * am 8. Juli 1838 auf dem Landgut Girsberg bei
Konstanz, f am 8. Marz 1917 in Berlin. — Die Ahnen des Grafen Z. waren
urspriinglich in Mecklenburg ansassig. Bereits im 13. Jahrhundert gab es hier
ein Gut Zepplin. Im 18. Jahrhundert trat der Groflvater, Ferdinand Ludwig,
in wurttembergische Dienste und wurde in den Grafenstand erhoben. Graf
Friedrich, sein Sohn, war Hofmarschall des Fiirsten von Hohenzollern. Auf
seinem Gute wurde ihm am 8. Juli 1838 Graf Ferdinand v. Z. geboren. Hier
verbrachte er seine ersten Jugendjahre und wurde von seiner Mutter und spater
von mehreren Hauslehrern unterrichtet. Im Alter von 14 Jahren kam er in die
DBJ 13
194 lw
Realschule nach Stuttgart, spater in die Kadettenanstalt Ludwigsburg und
wurde 1857 Leutnant. Bereits im nachsten Jahre wurde er beurlaubt und stu-
dierte in der Hauptsache staatswissenschaftliche Facher auf der Universitat
Tubingen. 1859 versetzte man inn in das Ingenieurkorps nach Ulm, im Herbst
desselben Jahres kam er in den Generalquartierstab. Im Frontdienst war er
jedoch nicht lange tatig.
Zahlreiche Reisen, deren Hauptzweck stets militarische Studien waren,
fuhrten ihn 1861 nach Osterreich, Italien und Frankreich, 1862 nach Belgien
und England. Im Jahre 1863 erhielt er Urlaub, um an dem amerikanischen
Sezessionskrieg als Zuschauer teilnehmen zu konnen. Dort machte er bei
St. Paul seinen ersten Aufstieg in einem Militarballon. Seine Studien in Amerika
beschrankten sich jedoch nicht auf das rein militarische Gebiet. Er lernte Land
und Leute eingehend kennen und unternahm eine Forschungsexpedition zur
Erkundung der Mississippiquellen. 1864 nach Deutschland zuriickgekehrt,
zeichnete er sich im Feldzug 1866 aus.
Als Generalstabsoffizier der wurttembergischen Reiterbrigade nahm Z. an
dem Feldzug 1870 teil. Zu Beginn dieses Krieges fiihrte er erfolgreich eine
wichtige Erkundungspatrouille durch, durch die er in weiteren Kreisen iiber
die deutsche Armee hinaus bekannt wurde. Es handelte sich darum, festzu-
stellen, ob Mac Mahon in die Pfalz aufmarschiere, ob eine dritte Division bei
seinem Korps sei ; bisher hatte man nur Truppen der ersten und zweiten Divi-
sion festgestellt. Spater nahm dann Z. an dem Kampf bei Worth und vor Paris
teil. 1874 wurde er Major, 1882 Regimentskommandeur. In den diplomatischen
Dienst iibertretend, war er 1885 — 1887 Militarbevollmachtigter bei der wurt-
tembergischen Gesandtschaft in Berlin und bis 1889 Gesandter und Bevoll-
machtigter beim Bundesrat. 1888 wurde er zum General d la suite des Konigs von
Wurttemberg befordert. In den Militardienst zuriickgekehrt, erhielt er 1890
eine Kavalleriebrigade in Saarburg. Jedoch in den Manovern des nachsten
Jahres wurde er zur Disposition gestellt. Dies kam fur alle, die seine aoBer-
ordentlichen militarischen Fahigkeiten kannten, iiberraschend. Seine mili-
tarische Laufbahn war abgeschlossen. Er hielt dies fur ein Ungliick, jedoch
sollte es sich in ein Gliick fur die Luftschiffahrt verwandeln.
Bereits im Jahre 1873 hat Z. ein groBes, starres, in Zellen eingeteiltes Luft-
schiff entworfen, ohne sich jedoch klar zu sein, mit welchen Maschinen es an-
getrieben werden sollte und welches fur die Versteifung notwendige Metall
verwendet werden miiBte. Im gleichen Jahre hielt Dr. Stephan (der spatere
General-Postmeister) einen Vortrag iiber Weltpost und Luftschiffahrt, der ein
Jahr spater veroffentlicht wurde. Hieraus seien folgende Satze mitgeteilt:
»Seit den altesten Zeiten finden sich Spuren davon, dai3 der menschliche
Geist sich mit der Fortbewegung des Korpers in der Luft beschaftigt. Die
Gesamtsumme der in Europa und Amerika bis jetzt (1874) ausgefiihrten Luft-
fahrten belauft sich auf 3700. Auf diese Zahl kommen 16 Tote, gewifi kein un-
gunstiges Resultat. Im ganzen liefern diese Tatsachen den Beweis, daB man
imstande ist, mit dem Ballon langere Reisen zu unternehmen. Die Schnellig-
keit und Richtung hangen zurzeit noch freilich ganz vom Winde ab, und hier
tritt der Kern der Frage hervor.« Ferner: »Seit den Zeiten Elisabeths von Eng-
land (1558 — 1603) beschaftigt das Problem der Nordpolexpedition den mensch-
lichen Geist; mit den bisherigen Mitteln und Anstalten der Ausfuhrung hat
Zeppelin 195
es schon viele Menschenleben gekostet und scheint auf den gewohnlichen Wegen
dennoch unlosbar zu sein. Wie leicht wiirde das Luftschiff iiber die undurch-
dringlichen Eisf elder hinwegfliegen ! « Und gegen^den SchluB des Vortrages
heiBtes: »Soviel durfte feststehen, daB wenigstens von den bisher bekannten
neueren Erf indungen keine so sehr wie die Luftschif f ahrt zu einer Vervollkomm-
nnng der Kommunikation der Erdbewohner sich als geeignet erweisen wird.«
Aus den Besprechungen iiber seinen Plan, die durch den Vortrag Stephans
angeregt wurden, erkannte man, welche Bedeutung Z. der Verwirklichung
seines Gedankens beimaB. Er betonte wiederholt die kulturelle Aufgabe eines
solchen Fahrzeuges fur grofle Forschungsreisen. Jedoch erst viel spater ver-
lieh Z. seinen Anschauungen iiber Lenkluftschiffe dadurch festere Gestalt, daB
er im Jahre 1887 dem Konig von Wiirttemberg in einer Denkschrift seine
Gedanken darlegte.
»Die Unvollkommenheit der Fesselballone hatten die Kriegsministerien der
GroBstaaten zu der Erkenntnis gebracht, daB eine bedeutende Einwirkung auf
die Kriegfuhrung nur durch Lenkballone zu erreichen sei, und es seien auch
Aufwendungen fur diesen Zweck gemacht worden, wobei Deutschland zuriick-
geblieben sei, wahrend Frankreich, das nicht mit Mitteln karge, wo es sich um
militarische Vorteile iiber die Nachbarn handle, schon Erfolge auf diesem Gebiet
aufzuweisen habe, indem durch das Luftschif f »La France a der Hauptleute
Rinard und Krebs, das allerdings nur eine Eigengeschwindigkeit von 5 Meter-
sekunden habe, die Moglichkeit der Lenkung unwiderleglich erwiesen sei.
Zur wirtschaftlichen Nutzbarmachung der freien Luftschiffahrt fur mili-
tarische Zwecke sei daher nur noch erforderlich, daB die Schiffe auch gegen
starkere Luftstromungen vorwarts kamen, daB sie erst nach langerer Zeit
(mindestens 24 Stunden) zu landen genotigt seien, um weite Rekognoszierungen
ausfuhren zu konnen, daB sie bedeutende Tragkraft besaBen, um eine grofiere
Zahl von Menschen, Vorraten oder Sprengstoffen mitfuhren zu konnen. Alle
drei Anforderungen bedingten ausgedehnte Gasraume, also groBe Luftschiffe.
Wesentliche Fortschritte in der Vervollkommnung der lenkaren Schiffe
blieben nur noch zu machen in der Findung einer zum Durchschneiden der Luft
geeigneten Form und der Moglichkeit ohne Ballastverminderung zu steigen und
ohne Gasverlust zu sinken. Gelange es, dieses Problem zu losen, so sei der
Luftschiffahrt eine noch ganz unschatzbare Bedeutung nicht allein fur die
Kriegfuhrung, sondern auch fur den allgemeinen Verkehr (kiirzeste Verbin-
dung durch Gebirge oder Meere getrennter Orte) fur die Erforschung der Erde
(Nordpol, Innerafrika) in der Zukunft gewiB. «
Aus seinen heute noch gultigen und kaum erf ullten Auf gaben des Ivuftschiff-
baues und der Luftschiffahrt kennzeichnenden Darlegungen geht klar hervor,
daB Z., bevor er an die technische Seite der Losung des Problems heranging,
die Aufgaben festlegte, die von einem Luftschiff erfiillt werden muBten, um
Nutzen zu bringen, und denen die Einrichtungen des Luftschiffes anzupassen
waren, f erner daB er betonte, daB das Luftschiff groB ausgef uhrt werden miisse.
Verf olgt man die Entwicklungsgeschichte der beiden in derLuftschiff ahrt neben-
einander bestehenden Systeme, namlich das starre Luftschiff und das Prall-
luftschiff, so erkennt man klar den Grund fur die groBen Erfolge des starren
Systems. Das Pralluftschiff , entstanden in engster Anlehnung an den Frei-
ballon, besitzt keine feste Form, diese mufi vielmehr auf kunstlichem Wege
196 1917
gegeben und erhalten werden. Beim starren Luftschiff liegt diese im Bau
selbst.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Militardienst im Jahre 1891 konnte er
mit voller Energie und groBer Begeisterung an die Verwirklichung der in der
Denkschrift niedergelegten Gedanken herangehen. Gemeinsam mit dem In-
genieur Theodor Kober fuhrte er im Jahre 1892 und 1893 die Berechnung und
Zeichnung seines Luftschiffes durch. Anfang 1894 war der Entwurf fertig-
gestellt und wurde im Marz in einer Denkschrift mit den dazugehorigen Zeich-
nungen einer Kommission, die vom Kriegsministerium einberufen war, vor-
gelegt.
Die Hauptkennzeichen, die dem ersten Projekt zugrunde lagen und die be-
zuglich des konstruktiven Charakters bis zu seiner Vervollkommnung unver-
andert beibehalten wurden, sind: die schlanke Form, das Gerippe aus Alu-
minium, die Einteilung des Gasraumes in eine groBe Zahl gleicher zylindrischer
Zellen, die Anordnung von zwei getrennten Gondeln, eine Kommandostelle,
die feste Verbindung der Gondeln mit dem Gerippe, die Anordnung eines Ver-
bindungsganges zwischen den Gondeln, die Anbringung der Luftschrauben in
Hohe des Luftwiderstandsmittelpunktes.
Ausgehend von den in der Denkschrift niedergelegten Gedanken, daB das
starre Luftschiff groB sein miisse und im Hinblick darauf , daB das Luftschiff
sein Eigengewicht, Betriebsmittel fur mehrere Stunden, Ballast, Triebwerke
zur Erreichung von mindestens 9 m/s Geschwindigkeit und die notwendige
Besatzung heben miisse, sowie unter Beriicksichtigung eines Sicherheits-
faktors, betrug die erforderliche Gasmenge 11 300 cbm. AlsGas wurde Wasser-
stoffgas gewahlt.
Die langgestreckte Form des Luftschiffes ergab sich bei dem festgelegten
Inhalt aus zweierlei Grunden. Entsprechend den Ansichten iiber den Wider-
stand von durch die Luft bewegten Korpern muBte der Querschnitt so gering
wie moglich gehalten werden. Die andere Forderung bestand darin, daB, urn
ein geringes Gewicht zuerzielen, die kleinste Oberflache zugrunde zulegen war.
Mit Rucksicht auf die Handhabung des Luftschiffes auf der Erde sowie die
GroBe der Bauhalle betrug der Durchmesser 11,6 m, seine Lange 128 m. Die
gewahlte schlanke zylindrische Form hatte den Vorteil, eine groBe Zahl gleich
groBer zylindrischer Gaszellen einbauen zu konnen und zwei Gondeln mit
vollig unabhangigen Maschinenanlagen anbringen zu konnen, wodurch auch
die Betriebssicherheit erhoht wurde. Der Bau eines zylindrischen Korpers
war einfach. Der Querschnitt durch den Ballonkorper war nicht ein Kreis,
sondern ein 24-Eck. Die beiden Enden des Ballonkorpers waren eiformig
ausgebildet. Der Ballonkorper war durch 16 Querwande in 17 Abteilungen
unterteilt.
Als Baustof f fiir das Gerippe wurde nach langen Versuchen in der Material-
priifungsanstalt der Technischen Hochschule Stuttgart unter Leitung von
C. v. Bach Aluminium gewahlt. Graf Z. hat diese Wahl damit begriindet, daB
natiirlich unter den sonst gleichen Bedingungen der Zug- und Druckf estigkeit
und des Gewichts das Aluminium eine groBere Knickf estigkeit aufweist als
Stahl. Die Wandstarken der in Betracht kommenden Bauelemente waren
groBer und daher auch fiir die Bearbeitung zweckmaBiger als bei der Ver-
wendung von Stahl. Hiermit geht Hand in Hand eine groBere Widerstands-
Zeppelin 197
fahigkeit gegen rein ortliche Beanspruchung. Obwohl Holz noch giinstigere
Ergebnisse lieferte, sah man von dessen Verwendung aus verschiedenen
anderen Griinden ab.
Wahrend das Projekt als Bauelemente fur die Druckubertragung Alu-
miniumrohren, fur die Zugiibertragung Drahtseil atis Aluminiumbronze vor-
sah, wahlte Ingenieur Kiibler als Hauptbauelement bei den ersten Zeppelin-
luftschiffen flache, aus Aluminium-T-Profilen zusammengesetzte Gitter-
trager. Beim zweiten Schiff wurden die flachen Gittertrager nach Angaben
des Grafen Z. dnrch Dreiecktrager ersetzt. AuBerdem wurde als Querschnitt
nach Angaben Diirrs das 16-Eck zugrunde gelegt.
Der Uberzug des Metallgeriistes, die AuBenhaut, bestand im oberen TeU
aus wasserdichtem Baumwollstoff, im unteren, der groBeren I^eichtigkeit
wegen, aus diinner Seide. Die Querwande im Schiff bestanden aus den so
genannten Hauptringen, die durch ein System von Verspannungsdrahten, die
quer durch das Schiff laufen und ein ziemlich enges Netz bilden, versteift
sind. Die Drahte bilden die Wande, die die Ballonzellen voneinander trennen.
Die Zellen sind aus gasdichtem Ballonstoff hergestellt, sie fullen den Raum
zwischen zwei Hauptringen, wenn sie gefullt sind, ganz aus.
Die Seitensteuer waren als Schaukelsteuer (stoffbespannte Holzrahmen)
ausgebildet, die an beiden Enden angeordnet waren. Die Hohensteuerung
wurde dadurch ermoglicht, daB man im Laufgang ein Bleigewicht, auf einem
Drahtseil beweglich, anordnete. Nach dem dritten Aufstieg des ersten I,uft-
schiffes wurde aber ein Hohenruder angebracht. In den beiden Gondeln, die
erste war beim Ubergang vom ersten zum zweiten, die zweite vom dritten
zum vierten Viertel der Fahrzeuglange starr aufgehangt, befand sich je ein
14,7 PS starker Daimler-Motor im Gewicht von 385 kg — so viel wiegt heute
ein Motor von 300 PS Leistung. In dem Projekt des Jahres 1892 waren zwei
Motoren von je 11 PS Leistung und im Gewicht von je 500 kg vorgesehen, die
von der Daimler-Motorengesellschaft entworfen waren. Mittels zweifacher
Kegelradgetriebe und schragen Wellen trieben die beiden Motoren je zwei
rechts und links im Tragkdrpergerippe in Hohe des Iyuftwiderstandsmittel-
punktes angebrachte Schrauben.
Nach wiederholtem Zusammentreten lehnte die vom Kriegsministerium ein-
gesetzte Kommission im Dezember 1894 das Projekt des Grafen Z. ab. Einer
der Griinde war, daB die Militarverwaltung sie nur dann als Kriegsmittel an-
wenden konne, wenn die Fahrzeuge ftir Verkehrszwecke bereits vorhanden
und erprobt waren. Da ihm fiir die Durchf iihrung seines Planes nicht geniigende
Mittel zur Verfiigung standen, wandte sich Graf Z. im Dezember 1895 an die
Offentlichkeit, um zu versuchen, auf diese Weise die Mittel aufzubringen. Er
veroffentlichte eine ausfuhrliche Denkschrift, in der er die bisherigen Schick-
sale seiner Erfindung darlegte und die Allgemeinheit aufforderte, sein Unter-
nehmen zu fordern. Es sollte ein Kapital von mindestens 800 000 Mark aufge-
bracht werden. Leider fuhrte die auf diese Weise eingeleitete Sammlung nicht
zu dem gewiinschten Ergebnis.
Wahrend der Sammlung der Geldbetrage nahmen sich die deutschen In-
genieure der Sache des Grafen Z. an. Der Verein Deutscher Ingenieure erlieB
am 30. Dezember 1896 einen Aufruf , in dem zum Ausdruck gebracht wurde,
daB nur auf die gemeinniitzige und opferwillige Geneigtheit derjenigen Kreise,
198 1917
die dazu imstande sind, insbesondere also anf die Geneigtheit der Vertreter
der deutschen Industrie, die Hoffnung gesetzt werden kann, daB sie fur die
Forderung einer sehr wichtigen und groBen technischen Aufgabe unseres Zeit-
alters zur Aufbringung der bedeutenden Mittel sich bereitf inden lassen mochte,
ohne welche ein entscheidender Fortschritt nicht zu erwarten ist. »Frankreich,
Nordamerika und England sind uns mit bedeutenden Aufwendungen voraus-
gegangen. — Sollte die deutsche Technik nicht auch ihren Anteil an der Losung
dieser Aufgabe haben und nehmen?«
Dieser Aufruf fiihrte dann auch einige Vertreter der deutschen Industrie
zur Griindung einer Aktiengesellschaft, fiir die auch von anderen Kreisen
Aktien gezeichnet wurden. Graf Z. iiberaahm die Halfte der Aktien, da sich
noch nicht geniigend Personen an dem Unternehmen beteiligten. Es wurde
eine Aktiengesellschaft unter dem Namen » Gesellschaft zur Forderung der
Luftschiff ahrt« mit einem Grundkapital von 800000 Mark im Jahre 1899 ge-
griindet.
Aus den Mitteln wurde das erste Luftschiff nach dem Entwurf des Grafen Z.
unter der Leitung des Oberingenieurs Kiibler, in der schwimmenden Holzhalle,
die in der Bucht von Manzell bei Friedrichshafen verankert war, gebaut. Die
weite Flache des Sees, die keinerlei Hindernis bot, erschien das geeignetste
Ubungsfeld fiir das Luftschiff , auBerdem bot die nur an der Spitze verankerte
Halle den groBen Vorteil, daB sie sich immer in die Windrichtimg einstellte,
wodurch das Aus- imd Einfahren des Luftschiffes wesentlich erleichtert
wurde.
Nach vielen Zwischenf alien erfolgte am Abend des 2. Juli 1900 inn 8 Uhr
unter Fuhrung des Grafen Z. der erste Aufstieg. Bei dem erfolgreich durchge-
fiihrten kurzen Fluge hatten sich jedoch, wie zu erwarten war, eine groBe Zahl
von Mangeln herausgestellt, an deren unverziiglicher Abstellung man unmittel-
bar nach der Landung schritt. Besonders betrafen diese das Gerippe imd das
Steuer. Am 17. Oktober wurde dann der zweite Aufstieg unternommen, bei
dem sich die Neuerungen gut bewahrten. Der Flug dauerte 1 Stunde und
20 Minuten. Bei dem dritten Aufstieg am 24. Oktober, bei dem eine Geschwin-
digkeit des Luftschiffes von 8 m/s gemessen wurde, bewahrte sich die Steue-
rung gut. Nach der Landung war es notwendig, das Luftschiff neu zu fiillen.
Die Mittel waren jedoch erschopft.
Die Gesellschaft beschloB im November 1900, sich aufzulosen. Graf Z.
erwarb nun von der Gesellschaft das Luftschiff mit allem Zubehor. Er hoffte,
die notwendigen Mittel zu erhalten, inn seine Versuche weiter durchfiihren zu
konnen. Er wandte sich zu diesem Zweck im Marz 1901 an den Verein Deutscher
Ingenieure mit der Bitte, die Kommission des Jahres 1896 erneut zusammen-
zuberufen, um die auf Grund seiner Versuche gefundenen Ergebnisse zu tiber-
priifen und den damaligen BeschluB zu erganzen oder zu berichtigen. Der Aus-
schuB trat im Juni 1901 in Kiel zusammen, ohne jedoch zu einem bestimmten
Ergebnis zu kommen. Am 2. Marz 1902 fand eine neue Sitzung der Kommission
in Berlin statt, bei der die verantwortlichen Mitglieder des Ausschusses — es
stimmten nicht alle dem Gutachten zu — erklarten, daB die friiheren An-
nahmen und Ermittlungen durch die Aufstiege zwar bestatigt seien, daB aber
nicht gentigende und gesicherte Unterlagen vorlagen, um sie zu erganzen und
zu berichtigen.
Zeppelin 199
Um seine Versuche fortsetzen zu konnen, war Z. gezwungen, zu versuchen,
Geldmittel hierfiir zusammenzubekommen. Die Firmen, die die Rohstoffe,
wie Aluminium, Ballonhiillenstoff und die Motoren liefern sollten, stellten diese
kostenlos zur Verfiigung. Um den Zusammenbau durchfuhren zu konnen,
wurde Z. in Wiirttemberg eine Lotterie bewilligt. Man konnte nunmehr mit
dem Bau beginnen. Das zweite Luftschiff hatte man in seinen Einzelheiten
bedeutend verbessert; das Aluminiumgerippe bestand aus dreiseitigen Langs-
tragern, die auch heute noch verwendet werden. Dagegen fehlten noch aus-
reichende Steuer. Die Motorenindustrie, die sich sprunghaft inzwischen ver-
vollkommnet hatte, lieferte Motoren von 85 PS.
Das neue Luftschiff unternahm im November 1905 einen Aufstiegsversuch,
der jedoch miBgluckte. Eines der Haltetaue war mit einem Knoten in einem
Ring hangen geblieben, wodurch das Luftschiff auf den See herabgedriickt
und infolge des starken Windes weit in den See auf dem Wasser schwimmend
hinausgetrieben wurde. Bei dem zweiten Aufstieg im Jahre 1906 hatte das
nicht prall gef ullte Luftschiff starken Auftrieb ; in 500 m Hohe kam es in eine
starke Windstromung und wurde abgetrieben. Es landete gliicklich bei KiBlegg
im Allgau, wo es aber, da die notwendigen MaBnahmen zur sorgfaltigen Ver-
ankerung fehlten, in der Nacht durch einen plotzlich ausgebrochenen starken
Sturm zerstort wurde. Es muBte auseinandergenom m en werden.
Z. lieB sich durch dieses unvorhergesehene Ungliick nicht entmutigen. Er
wrertete die auf diesem Flug gewonnenen Erfahrungen aus und beschloB, aus
den noch brauchbaren Resten des zweiten Luftschiffes ein neues, drittes Luft-
schiff zu bauen. Mit diesem Luftschiff, bei dem zum ersten Male genugende
Dampfungsflachen eingebaut wurden, unternahm Z. am 9. und 10. Oktober
1906 zwei Aufstiege, die glanzend gelangen. Die viele aufgewendete Muhe und
die groBen Opfer waren nunmehr von Erfolg gekront. Das Luftschiff war gut
lenkbar und hielt ordentlich Kurs. Hohen- und Seitensteuerung sowie Sta-
bilitat hatten sich bestens bewahrt.
Um weitere Versuche durchzufuhren, fehlten jedoch wieder Geldmittel. Nun-
mehr griff das Reich ein. Es wurden die geniigenden Mittel zur Verfiigung ge-
stellt, um eine neue schwimmende Halle aufzubauen. Wahrend dieser Zeit
wurde vom Grafen Z. das in der festen Holzhalle in Manzell liegende Luftschiff
teilweise umgebaut und die Steuervorrichtung verbessert. Die Motoren wurden
sorgfaltig uberpriift, um etwaige Storungen zu verhindern.
Ende September 1907 war die neue schwimmende Luftschiffhalle fertig-
gestellt. Es wurden mehrere wohlgelungene Fliige durchgefuhrt, darunter eine
achtstiindige Fahrt. Die Geschwindigkeit des Luftschiffes bet rug 15 m/s. Die
Ergebnisse des Jahres 1907 waren fur den Grafen Z. sehr giinstige. Mit Hilfe
des Reiches hatte er sein Luftschiff vervollkommnet, wertvolle neue Erfah-
rungen gesammelt, auBerdem eine zuverlassige Ballonmannschaft ausgebildet.
Nach langen Verhandlungen entschloB sich der Reichstag, dem Grafen Z. die
Mittel zu bewilligen, um zwei neue Luftschiffe bauen zu konnen.
Am Ende des Jahres 1907 sollte jedoch durch ein Naturereignis wiederum
das Unternehmen des Grafen Z. schwer in Mitleidenschaft gezogen werden.
Am 14. Dezember sank infolge eines schweren Sturmes teilweise die schwim-
mende Halle, in der das Luftschiff untergebracht war. Da die Wiederherstel-
lungsarbeiten sehr lange Zeit in Anspruch nahmen, begann Z. inzwischen in
200 igi7
seiner auf dem Lande befindlichen Halle mit dem Bau des vierten Luftschiffes,
das am 20. Juni 1908 zu seiner ersten Fahrt aufstieg. Seine Lange betrug
136 m, sein Durchmesser 13 m. Die Seitensteuerung war verstarkt worden,
im Laufgang hatte man eine Kabine eingebaut und die Gondeln ver-
groBert. Die beiden Motoren leisteten 210 PS. Das Schiff war also be-
deutend leistungsfahiger.
Am 1. Juli wurde eine zwolfstiindige Fahrt iiber der Schweiz erfolgreich
durchgefuhrt, so daB man hoffte, eine vierundzwanzigstiindige Fahrt mit
Leichtigkeit ausfiihren zu konnen. Dieser Versuch wurde am 14. Juli gemacht.
Jedoch muBte er unterbrochen werden, da ein Motorschaden auftrat. Am
4. August gelang es endlich, den groBen Flug anzutreten. Um 6 Uhr morgens
stieg das Luftschiff auf. In der Nacht setzte dann infolge Ausschmelzen eines
Lagers der vordere Motor aus. Kurz vor 8 Uhr morgens am folgenden Tage
muBte das Luftschiff, da es gegen den stark aufgekommenen Wind nicht mehr
vorwarts kam, bei Echterdingen notlanden.
Das Luftschiff wurde verankert. Am Nachmittag dieses Tages um 3 Uhr
setzte plotzlich eine starke Bo ein. Da der Wind das Schiff breitseits traf,
rissen die Ankertaue. Ebenso konnten die Mannschaften das Luftschiff nicht
mehr halten. Das Luftschiff wurde abgetrieben, in ungefahr 1 km Entfernung
vom Ankerplatz streifte es eine Baumgruppe und geriet dabei in Brand. Es
wurde vollstandig zerstort.
In alien Kreisen Deutschlands war man nun bereit, dem Graf en zu helfen.
Wenige Tage nach dem Ungliick waren schon geniigende Mittel vorhanden,
um ein neues Zeppelin-Luftschiff zu bauen. Die Nationalspende mit einem Er-
gebnis von iiber 6 Millionen Mark fuhrte dem Grafen Z. die Mittel zu, sein
Lebenswerk auf finanziell gesicherter und technisch verbreiterter Grundlage
weiter auszubauen. Z. verwandte die tiberwiesene Summe zur Erbauung einer
Werft, zur Fortsetzung seiner Fahrversuche und fiir wissenschaftliche Unter-
suchungen.
Aus den Mitteln der Nationalspende errichtete Z. die Zeppelin-Stiftung mit
der Bestimmung, daB alle Einkiinfte daraus der Entwicklung der Luftschiff ahrt
und deren Verwendung fiir die Wissenschaft dienen sollten. Ferner wurde eine
Gesellschaft mit beschrankter Haftung »Luftschiffbau Zeppelin* in Friedrichs-
hafen gegriindet. Die erste Aufgabe dieser Gesellschaft war, dem Reich die
beiden Luftschiffe zu liefern. Das beschadigte Luftschiff Z 3, das in der teilweise
untergegangenen schwimmenden Halle untergebracht war, wurde ausgebessert
und iiberholt. Dieses Luftschiff wurde vom Reich angekauft. Mit einem neuen
Luftschiff Z 5 unternahm dann Z. Ende August 1909 vom Bodensee aus eine
Fernfahrt, deren Ziel Berlin war. Auf dem Rtickflug muBte man bei Goppingen
eine Zwischenlandung vornehmen, um die Betriebsstoffe zu erganzen. Hierbei
wurde das Luftschiff an der Spitze eingedriickt. Man beseitigte die beschadigten
Teile, baute den vorderen Motor aus und band die Hulle iiber dem beschadigten
Teil zusammen. Mit eigener Kraft konnte dann das Luftschiff seinen Hafen
erreichen.
Im Jahre 1909 wurde die Deutsche Luftschiffahrts-A.-G. (Delag) gegriindet.
Die Stadt Dusseldorf entschloB sich, auf eigene Kosten eine Luftschiffhalle zu
bauen. Die Delag war es, die dem Luftschiffbau Zeppelin neue Auftrage gab
und somit das Unternehmen lebensfahig erhielt. Die Gesellschaft fuhrte Passa-
Zeppelin 201
gierfahrten mit Zeppelin-Luftschiffen durch. Ihr gehorten die Luftschiffe
*Deutschland«, »Schwaben«, »Viktoria Luise«, »Hansa« und »Sachsen«.
Um den immer wieder auftretenden Motorenschaden abzuhelfen, da das
Versagen der Motoren f iir die Luftschif f ahrt auBerst verhangnisvoll war, wurde
die Motorenbau-G. m. b. H. gegnindet, die unter der Leitung von Maybach
den Bau von Flugzeugmotoren aufnahm. AuBerdem wurde in Berlin die
Ballonhullen-G. m. b. H. gegriindet, um zweckmaBigen Stoff fiir die Zellen
und die Hulle zu schaffen. Neue Luftschif fhallen wurden in den verschieden-
sten Orten des Reichs, auch in Berlin, in Potsdam, Johannistal und Staken
gebaut.
Von den Mitarbeitern des Graf en Z., die ihm bei der erfolgreichen Durch-
f iihrung seiner genialen Idee half en, sind zu nennen : Dr. Durr, Chefkonstruk-
teur und Direktor der Luftechiffbauwerft, Kommerzienrat Colsmann, General-
direktor des Zeppelinkonzerns, und Dr. Hugo Eckener, der in aller Welt als
Kommandant des Amerikaluftschiffes bekannt geworden ist.
Mit dem Passagierluftschiff » Viktoria Luise« wurden 1912 — 1914 489 Fahrten
diirchgefuhrt. In 981 Fahrtstunden wurde eine Gesamtstrecke von 54 000 km
zunickgelegt und 9758 Personen, einschlieBlich der Besatzung, befordert. Das
Passagierluftschiff »Sachsen« konnte mit einer Geschwindigkeit von 72 km
pro Stunde, mit 1000 kg Besatzung und 3000 kg Nutzlast eine Strecke von
2200 km durchfliegen.
Bis zum Kriege waren von der Heeresverwaltung sechs Luftschiffe iiber-
nommen worden. Bei Beginn des Krieges waren in Deutschland zehn Luftschiffe
der Bauart Zeppelin vorhanden. Bis zum Kriegsende wurden 66 Marineluft-
schiffe und 35 Heeresluftschiffe fertiggestellt
Die Entwicklung der Zeppelin-Luftschiffe mogen folgende Angaben beleuch-
ten: Wahrend das erste Luftschif f einen Gasinhalt von 11 300 cbm, 11,7 m
Durchmesser, 128 m Lange, 17 Zellen, 2 Motoren von einer Gesamtleistung
von 30 PS, 4 Propeller und eine Geschwindigkeit von71/2m/shatte, hatten die
Luftschiffe der GroBkampfschiffbauart 55 200 cbm Gasinhalt, 23,9 m Durch-
messer, 198 m Lange, 19 Zellen, 6 Motoren von einer Gesamtleistung von
1440 PS mit 6 Propellern. Das Luftschiff hatte eine Geschwindigkeit von
28,7 m/s, die Nutzlast betrug 32 Tonnen, es konnte ohne Fahrtunterbrechung
7400 km bei groBter Geschwindigkeit zuriicklegen.
Trotz vieler Riickschlage und einer groBen Reihe von Unfallen, von denen
die Luftschiffahrt betroffen wurde, hat sich das geniale Werk des Grafen Z.
sieghaft durchgerungen. Im Jahre 1914 begann Z. auch auf der Werft in See-
moos, die der Leitung Dorniers anvertraut war, mit dem Bau von GroBflug-
zeugen, ein Gebiet, dem er sich mit ganz besonderem Interesse widmete.
Von den Tagen von Echterdingen bis zu seinem plotzlichen Tode am 8. Marz
1917 in Berlin glich sein Leben einem Siegeszug. Zahlreich sind daher auch die
Ehrungen, die ihm von alien Seiten verliehen worden sind. 1906 wurde er zum
Ehrendoktor der Technischen Hochschule Dresden und kurze Zeit danach von
der Technischen Hochschule Stuttgart ernannt. Der Verein Deutscher In-
genieure verlieh ihm 1908 die goldene Grashof-Denkmiinze ; zum sojahrigen
Militardienstjubilaum verlieh ihm der Konig von Wurttemberg das GroBkreuz
des Militarverdienstordens; die Universitat Tubingen ernannte inn zu seinem
70. Geburtstag zum Doktor der Naturwissenschaften. Im Mai 1908 verlieh
202 1917
ihm der Kaiser den Schwarzen-Adler-Orden ; an seinem 75. Geburtstag ernannte
ihn eine ganze Reihe von Stadten zu ihrem Ehrenbiirger, kurz vor seinem Tode
ernannte ihn das Deutsche Museum in Munchen zu seinem ersten Ehren-
mitglied.
Graf Z. war eine iiberragende Personlichkeit. Dem Ziel, das er sich auf dem
Gebiet der Luftschiffahrt gesteckt hatte, hat er alles andere untergeordnet.
Keine Muhe, keine Arbeit war ihm zu schwer, kein Gang, mochte er noch so
unangenehm fur ihn sein — besonders gilt dies fur die Zeit, wo er unter Geld-
mangel litt — , wurde nicht versucht, wenn er fiir seine Sache eine Fdrderung
erhoffte. Er war ein unermudlich Arbeitender, oft arbeitete er bis spat in die
Nacht hinein, urn doch am Morgen als erster wieder im Werk tatig zu sein. Ein
eigener Zauber ging von seiner Personlichkeit aus. Er war ein Glucklicher,
nicht nur durch seine Erfolge, sondern auch durch die Eigenschaften seines
Gemiites. Der Glaube an sich selbst, tapfere Entschlossenheit und Ausdauer
hat die groBten, scheinbar uniiberwindlichen Hindernisse beseitigen konnen.
Das deutsche Volk konnte ihn daher nicht hoher ehren, als ihn zu seinem
Nationalhelden zu erheben.
Literatur: Dr. Stephan, Weltpost und Luftschiffahrt. J. Springer, Berlin 1874. —
Jahrbuch der Schiffbautechnischen Gesellschaft 191 5, S. 178. J. Springer 191 5. — Graf
v. Zeppelin, Die Eroberung der I,uft. Vortrag, gehalten in Berlin am 28. Januar 1908.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1908. — Luftschiffbau Zeppelin, Das Werk Zeppelins.
Eine Festgabe zu seinem 75. Geburtstag 191 3. J.Hoffmann, Stuttgart. — L. Durr,
25 Jahre Zeppelin -Luftschiffbau. VDI-Verlag, Berlin 1924. — Aug. v. Parseval, Graf Zep-
pelin und die deutsche Luftfahrt. H. Kleinm A. -G., Berlin 1926. — Hans Hildebrandt,
Zeppelin-Denkmal fiir das deutsche Volk. Germania-Verlag, Stuttgart. — Joh. Schwengler,
Der Bau der Starrluftschiffe. J. Springer, Berlin 1925. — MatschoB, Manner der Technik.
VDI-Verlag, Berlin 1925. — Engberding, Luftschiff und Luftschiffahrt. VDI-Verlag,
Berlin. — Kollmann, Das Zeppelinschiff , seine Entwicklung, Tatigkeit und Leistung.
M. Krayn, Berlin. — Feldhaus, Buch der Erfindungen. — Feldhaus, Bezwinger der Lufte.
R. Bardtenschlager, Reutlingen und Stuttgart 1925. — Georg Neumann, Die deutschen
Luftstreitkrafte im Weltkriege. Mittler & Sohn, Berlin. — Johann Schiitte, Der Luft-
schiffbau Schutte-Lanz 1909/ 192 5. R. Oldenbourg, Munchen und Berlin 1926. — Dr. Carl
Berg, David Schwarz — Carl Berg — Graf Zeppelin. Ein Beitrag zur Entstehung der
Zeppelin-Luftschiffahrt in Deutschland. Selbstverlag. — Zeitschrift des Vereins Deutscher
Ingenieure. — Zeitschrift fiir Flugsport und Motorluftschiffahrt.
Berlin. Erich Gossow.
Ziese, Carl Heinrich, Ingenieur und Inhaber der Schichau-Werke Elbing
und Danzig, Geh. Kommerzienrat, Dr.-Ing e. h., * am 2. Juli 1848 in Moskau,
f am 15. Dezember 1917 in Elbing. — Carl Z. entstammte einer holsteinischen
Familie, UrgroBvater und GroBvater waren Hamburger Burger, letzterer
GroBkaufmann, der durch die Kontinentalsperre Napoleons und die eng-
lischen Kaperschiffe Vermogen und Schiffe verlor. Der Vater, Alexander
Berthold Z., geboren 1812, ging nach vollendeter Lehrzeit nach Kopenhagen,
spater nach Paris, wo er die »Ecole Polytechnique« besuchte, so daB er mit
etwa 30 Jahren eine russische Staatsstellung annehmen konnte, die darin be-
stand, die zu jener Zeit junge russische Industrie und die dortigen Bahnbauten
zu organisieren und zu beaufsichtigen ; daneben baute er noch eine eigene
Maschinenfabrik, bis er durch einen Ungliicksfall genotigt wurde, RuBland
zu verlassen und krank nach Deutschland zuriickzukehren, wo er 1858 starb.
Zeppelin. Ziese 20 3
Die Mutter, eine geborene Burchardi, entstammte einer alten Gelehrten-
und Predigerfamilie, deren Stammbaum bis ins 13. Jahrhundert zuriickreicht.
Sie blieb nach dem Tode des Gatten mit fiinf Kindern zuriick, die zuerst bei
ihrem Onkel, Prediger Burchardi in Hamburg, dann in Kiel ihre Ausbildung
erhielten. Carl Heinrich, der alteste der Sonne, damals 10 Jahre alt, und sein
Bnider Rudolf kamen in die ruhmlich bekannte Privatschule von Dr. Meyer
und dann aufs Gymnasium. Carl, der von klein auf den Wunsch hatte, In-
genieur zu werden, ging nach seiner Konfirmation als Volontar zur Firma
Schweffel & Howaldt, der Vorgangerin der spateren Howaldt-Werke. Kenn-
zeichnend f iir seine Veranlagung und seine spatere glanzende Entwicklung zu
einem der hervorragendsten deutschen Ingenieure ist die Bemerkung in dem
Abgangszeugnis, das er nach Verlassen der Meyerschen Schule erhielt: »Ein
junger Mann von eigentumlicher Begabung. Biicherweisheit liegt ihm fern;
dagegen besitzt er eine fabelhaft leichte Auffassung alles Sichtbaren, Natiir-
lichen und Zeichnerischen ; nach dieser Richtung ist er geradezu genial ver-
anlagt. «
Nach Beendigung seiner dreijahrigen praktischen Lehrzeit bei Schweffel
& Howaldt trat er als Monteur in die Werkstatten von John Elder & Co.
in Glasgow ein, die zu jener Zeit die ersten Compoundmaschinen (Ver-
bimdmaschinen) bauten, bei denen wesentlich hoher gespannter Dampf, als
bisher ublich, in zwei Zylindern nacheinander wirkte, was eine erhohte Wirt-
schaftlichkeit gegeniiber den alteren Dampfmaschinen ergab und fur die Ent-
wicklung der Schiffahrt von umwalzender Bedeutung wurde. Sein Bruder
Rudolf folgte ihm spater, kehrte auch nach dem siebziger Kriege fiir mehrere
Jahre nach England zuriick.
Der Ausbruch des Krieges veranlaBte beide Bruder, sich zum Militardienst
zu stellen. Sie kamen zuerst auf das Kanonenboot »Chamaleon«, dann auf das
Zeichenbureau der Kieler Werft, und bezogen nach Erledigung ihres Kriegs-
dienstes im September 1871 die Berliner Gewerbeakademie in der Kloster-
straCe (die spatere Technische Hochschule), um Maschinenbau und Schiffbau
zu studieren. Aus jener Zeit stammen die Beziehungen, die Z. mit bedeutenden
deutschen Technikern, damals Studierende der Gewerbeakademie, zeitlebens
verbanden, mit Busley, dessen Name mit der Entwicklung von Deutsch-
lands Schiffbau und Schiffahrt verknupft ist, den Werftbesitzern Blohm und
Sachsenberg, ferner mit Heckmann, Oechelhauser, Hoppe, Max Krause, Pro-
fessor Slaby, dem Heizungstechniker Professor Rietschel (s. DBJ. 1914 — 16
S. 81) und manchen anderen.
Im Herbst 1873 trat die entscheidende Wendung in Z.s Leben ein : er erhielt
eine Stellung als Schiffsmaschinenbauer bei der Firma F. Schichau in Elbing,
die, 1837 gegriindet, sich allmahlich zu einer bedeutenden Maschinenfabrik im
ostlichen PreuBen entwickelt hatte. Ferdinand Schichau erkannte sofort die
hohen Ingenieurfahigkeiten, die in dem 25jahrigen Z. steckten, und er iiber-
trug ihm bald die Leitung des gesamten Schiffsmaschinenbaues. Bis zu jenen
Jahren hatte sich Schichau nur mit dem Bau von kleineren Handelsdampfern
und Baggern beschaftigt. Z. steckte seine Ziele weiter; er wandte bald seine
Aufmerksamkeit der in den Anfangen ihrer Entwicklung befindHchen deut-
schen Kriegsmarine zu, die 1878 die beiden Avisodampfer »Habicht« und
*>M6wTe« bei Schichau in Bestellung gab. Fiir diese Schiffe entwarf Z. Verbund-
204 *9I7
maschinen von je 600 PS und fuhrte damit als erster dieses System erfolgreich
in den deutschen Kriegsschiffbau ein.
Die Torpedowaffe hatte Anfang der siebziger Jahre in England zum Bau
kleiner, schneller Schiffe, der Torpedoboote, Veranlassung gegeben; klar sah
Z. — der inzwischen Schichaus Schwiegersohn geworden — die Zukunft dieses
neuen Schiffstyps voraus und widmete vom Jahre 1877 ab der Entwicklung
des Torpedobootes seine voile Arbeitskraft. Gleich das erste Boot, fur Rufi-
lands Marine gebaut, das bei 18 m Lange 16 Knoten lief und unter eigenem
Dampf von Elbing nach Petersburg fuhr, war ein voller Erfolg. Rasch folgten
sich die Bestellungen auf solche Boote : nicht nur die Kaiserliche Admiralitat,
auch Rufiland, Italien, Osterreich, China, die Tiirkei, die alle bisher nur in
England bestellt hatten, wandten sich nach Elbing, und in den folgenden
Jahren sah das bescheidene, westpreufiische Stadtchen Schiffbau-Ingenieure
aus aller Welt in seinen Mauern. Die Anforderungen an die Geschwindigkeit
wuchsen, und damit stiegen Maschinenleistung und Bootsdimensionen : 1889
war das russische Torpedoboot »Adler« mit 27,5 kn das schnellste Schiff der
Welt, 1898 liefen die chinesischen Torpedojager 36,7 kn, die hochste Geschwin-
digkeit, die mit Kolbenmaschinen je erreicht worden ist. Die Kaiserlich deutsche
Marine bestellte vom Jahre 1883 ab alle ihre Torpedoboote — die S-Boote —
bei Schichau und gab durch ihre mustergiiltige Ausgestaltung des Torpedo-
wesens Z. dauernd neuen Anreiz zur Weiterentwicklung des von ihm geschaffe-
nen Typs. Auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 konnte Schichau
250 von ihm gebaute Torpedoboote und Torpedojager in Bild und Modell vor-
fuhren, eine Zahl, die bis dahin keine andere Werft der Welt aufzuweisen hatte.
Die Maschinenanlagen dieser Torpedoboote waren Z.s ureigenste Schopfung ;
als ein Ingenieur von seltener konstruktiver Gewandtheit, von angeborenem
sicheren Gefuhl fiir die Ausgestaltung des Details, driickte er seinen Schop-
fungen einen Stempel auf, der sie in auffalliger Weise von alien anderen unter-
schied. Der kiinstlerische Sinn, der ihm eigen war, kam darin zum Ausdruck ;
wahrend die meisten Schiff smaschinen bis zur Nuchternheit »billige« Zweck-
formen aufwiesen, zeigten Z.s Entwiirfe bis hinab zum geringftigigsten Detail
eine vollendete Schonheit der Form, die sie von alien anderen charakteristisch
aufs vorteilhafteste unterscheidet. Die Z.schen Konstruktionen wurden vor-
bildhch fiir den Bau leichtester Kriegsschiff maschinen.
Z.s EinfluB ging jedoch, was vielleicht zu wenig bekannt ist, iiber die eigent-
liche Maschinenkonstruktion hinaus und erstreckte sich auch auf das Schiff.
Er erkannte bald, dafi die aufierste Sparsamkeit an Maschinengewicht, wie
sie der Torpedobootsbau gebieterisch fordert, in einem Mifiverhaltnis zu der
bislang geubten Praxis der meisten Schiffbauer stand, deren Detailkonstruk-
tionen nur zu haufig zeigten, daB — um seine Worte zu gebrauchen — »der
Holzschiffbau ihnen noch an den Fingern klebte«. So wurden denn unter seiner
Leitung all die tausend Einzelheiten des Torpedobootes bis ins kleinste »durch-
konstruiert« und in jahrzehntelanger Ubung zu mustergultigen Typen leichte-
ster Schiffbaudetails ausgestaltet. Nur so erklart es sich, daB Schiff und Ma-
schine »wie aus einem GuB« erscheinen, ein harmonisches Ganzes bilden, beide
von gleichem Geiste durchsetzt sind. Als Kunstlernatur, als vorziiglicher
Zeichner von hervorragend malerischer und bildhauerischer Begabung reizte
es Z. stets, auch auf anderen Gebieten, die der Schiffbautechnik ferner liegen,
Ziese 205
sich zu betatigen; mancher dekorative Entwurf, manches Mobelstiick in
Scbiffskajiiten und Salons verdankt seine Entstehung Z.s formgewandter
Hand.
Die gesteigerten Anf orderungen an die Wirtschaf tlichkeit des Schiffsantriebes
bedingten die Weiterentwicklung von der Verbund- zur Dreifacbexpansions-
maschine. Nach Z.s Entwurf baute Scbicbau als Versuchsmaschine 1881 die
erste dreikurbelige Dreifacbexpansions-Scbiffsmascbine anf dem Kontinent,
deren Original als ein Meisterstiick deutscher Technik vor einigen Jabren dem
Miincbener » Deutscben Museum « iiberwiesen wurde. Der Dampfer »Nierstein«
der Dampfschiffahrtsgesellschaft »Hansa« wurde 1883 als erstes deutsches
Schiff mit einer solchen Mascbine ausgerustet.
So lange sicb Scbicbau auf den Bau von Torpedobooten, -jagern und Han-
delsscbif fen mittlerer GroBe bescbrankte, reicbte die Elbinger Werft mit ibren
beengten Wasserverhaltnissen aus; als sicb Scbicbau aber an dem Ausbau
der deutscben Kriegs- und Handelsflotte, der Ende der acbtziger Jabre einen
ersten starken AnstoB erbielt, beteibgen wollte, konnte es nur durcb Scbaffung
einer neuen Werft an geeigneter Stelle gescbeben. So wurde 1890 an der Dan-
ziger Weichsel ein Gelande von 50 ba erworben und in ktirzester Zeit eine neue
Werft erricbtet, die Z. fur den Bau groBter Kriegs- mid Handelsscbiffe aus-
riisten UeB. Fiir das erste Kriegsscbiff, die Kreuzerkorvette »Gefion«, wurde
dort 1891 der Kiel gestreckt; 1894 Hefen die beiden Reicbspostdampfer »Prinz-
regent Luitpold* und »Prinz Heinricb« vom Stapel. Bis zu Z.s Tod batte die
Danziger Scbicbauwerft der deutschen Flotte iiber 20 Linienscbiffe und Kreuzer
gebefert, fiir die Handelsmarine iiber 30 der groBten Passagier- mid Fracbt-
dampfer, darunter aucb das damals groBte Scbiff des Norddeutscben Lloyd
»Columbus« gebaut.
Zu einer Zeit, als die Anwendung des Stablgusses im Scbiff- mid Scbiffs-
maschinenbau nocb wenig Anklang fand, hatte Z. bereits erkannt, welcbe
Bedeutung diesem Material fiir die Zukunft der Scbiffbautecbnik innewobnt;
lange bevor andere sicb dazu entscblossen, verwandte er bei seinen Konstruk-
tionen StahlguB und gliederte, um sicb von den weit entfernten StahlgieBereien
unabhangig zu macben, seiner Elbinger Werft 1898 ein Stablwerk an, das so-
fort fiir die Lieferung groBter GuBstiicke eingericbtet wurde und heute bei
einer tagbcben Lieferung von 50 Tonnen die groBte StablgieBerei im deutscben
Osten darstellt.
So entwickelte Z. die Scbicbau- Werke zu einer Weltfirma, die miter seiner
Leitung tausend Scbiff e gebaut und mit Mascbinen von rund 5 MilHonen PS
ausgerustet batte. Febl- mid Riickscblage sind ibm dabei erspart geblieben;
nacb 45jabriger Tatigkeit konnte er von sicb bebaupten, stets ins Scbwarze
getroffen zu baben; sicbtbarer Segen rubte auf all seiner Arbeit. Es war nur
scbeinbar, wenn er sicb Neuerungen langsamer vielleicbt als andere anschloB ;
das »Sensationelle« reizte ibn nicbt; batte er aber einmal das Gute im Neuen
erkannt, dann setzte er seine ganze groBe Energie und die groBen, ibm zur
Verfiigung stebenden Mittel an die Erreicbung des neuen Zieles. So war es,
als er 1907 den Dampfturbinenbau in groBtem Stile aufnabm und den Bau von
Unterseebooten wabrend des Krieges begann.
Dem bier gezeicbneten Bilde Z.s feblte jedocb ein wichtiger Zug, wollte man
nicht aucb des Reizes seiner Personlicbkeit gedenken, die Liebenswiirdigkeit
206 19 1 7
erwahnen, die jeden sofort fur sich gewann, der in die Nahe dieses Mannes kam.
Wer Gelegenheit hatte, mit Z. zu verkehren, ward von der gewinnenden Art
bestrickt, mit der er — gegen Hoch und Niedrig stets gleich — jedem ent-
gegentrat, von jener Form des Umgangs, die in ihrer Bescheidenheit kaum er-
kennen lieB, mit welcher bedeutenden Personlichkeit man es zu tun hatte.
Diese Bescheidenheit behielt er bis an sein Lebensende, trotz der hohen Aus-
zeichnungen, die ihm von vielen Regierungen zuteil wurden, trotz der Ehrungen
seitens der Technischen Hochschule Berlin und des Vereins deutscher Inge-
nieure, der ihm die Grashof-Denkmunze verlieh. Er stellte den Typus des
» gentleman « in des Wortes bester Bedeutung dar; sein AuBeres, das den ge-
sunden Geist im gesunden Korper erraten lieB, sein Auftreten machten ihn
bei Versammlungen zu einer hervorstehenden Erscheinung, die man nicht
iibersehen konnte. Er selbst fuhlte sich, ganz im Sinne des groBen Konigs, als
ersten Diener seines Reichs; Glockenschlag acht bei der Arbeit, nach dem
letzten seiner Beamten von der Arbeit gehend, so kannten ihn die Seinen, die
zu ihm nicht in einem bloBen Verhaltnis der Untergebenen zum Herrn standen,
die vielmehr durch sein freundliches Wesen, durch die fast kollegiale Art seines
Umganges an ihn gefesselt wurden.
Es muB aber auch noch besonders des innigen Verhaltnisses gedacht werden,
das ihn bis zum Tode mit seinem Bruder Rudolf (* 12. Juni 1850) verband,
der, selbst ein hervorragender Ingenieur, zuerst lange Jahre in England als
Schif f smaschinenbauer gearbeitet hatte und spater die Vertretung der Schichau-
Werke in RuBland iibernahm. Aus dem jahrzehntelangen Zusammenarbeiten
der Bruder ist die Anregung zu mancher Schichauschen Neukonstruktion ent-
standen.
Unerwartet, mitten in der Fulle von Arbeit, die der Krieg in erhohtem MaBe
von ihm verlangte, starb Carl Z. nach kurzer Krankheit am 15. Dezember 191 7.
Ihm folgten nacheinander in der Leitung des Werkes seine Gattin Elisabeth,
geborene Schichau (f 2. Juli 1919), sein Schwiegersohn, Ingenieur C. Carlson
(f 23. Oktober 1924) und seine Tochter Frau Carlson, geborene Z. (f 4. Marz,
1927).
Berlin-Charlottenburg. Paul Krainer.
1918
Bachem, Julius, Politiker und Publizist, * am 2. JUH1845 inMulheim a. Rh.,
t am 22. Januar 1918 in Koln. — B. war der Sohn eines Farb- und Kolonial-
warenhandlers und besuchte zunachst in seiner Vaterstadt die Realschule
I. Ordnung. Unter dem Einflusse seines Vaters entwickelte sich bei ihm ein
starkes Interesse an der Natur, besonders der Vogel- und Insektenwelt. Noch
in spateren Lebensjahren betatigte er sich auf diesem Gebiete als Sammler
und Forscher. Nach der Absolvierung der Tertia der Realschule kam er an
die Handelsschule in Rolduc in Hollandisch-Iyimburg, wo in der ehemaligen
Augustinerabtei mehrere hohere Unterrichtsanstalten vereinigt waren. Da B.
Lust zum akademischen Studium bekam, ging er zur Lateinschule iiber, die
er mit gutem Erfolg besuchte. Dann trat er in die Unterprima des Huma-
nistischen Gymnasiums in Kempen ein, das er Sommer 1864 mit dem Zeugnis
der Reife zum Universitatsstudium verlieB. In Bonn studierte er zuerst
neuere Sprachen und Naturwissenschaften, ging aber nach zwei Semestern
zur Rechtswissenschaft iiber, der er sich in Berlin und Bonn widmete. Im
Sommer 1868 wurde er nach bestandenem Examen bei dem Kolner I,and-
gericht als Auskultator angenommen. Gleichzeitig trat er in die Redaktion der
»K61nischen Blatter « ein, die seit dem 1. Januar 1869 den Namen »K61nische
Volkszeitung* fiihrten. Bei seiner groflen Willensstarke gelang es B., seiner
Dienstpflicht am Gericht und zugleich seinen ObHegenheiten als Redakteur
zu gentigen, und bestand mit gutem Erfolge das Assessorexamen. Danach
entschied er sich endgiiltig fiir die Journalistik. Seine Tatigkeit als Redakteur
f iel zeitlich zusammen mit dem groBen kirchenpohtischen Konflikt (Kultur-
kampf), der 1872 ausbrach. B. stand an der Wiege der Zentrumsfraktionen
des Reichstags und des PreuBischen Landtags. Er erblickte seine Lebensauf-
gabe darin, die Grundideen der Zentrumspartei und die praktische Zentrums-
politik offentlich zu vertreten.
Zu Beginn des Jahres 1876 trat der Bonner Privatdozent fiir Geschichte,
Dr. Hermann Cardauns, als Hauptredakteur in die Leitung der »K61nischen
Volkszeitung« ein. Beide Manner haben mehr als drei Jahrzehnte in eintrach-
tiger Zusammenarbeit die Redaktion des sich stetig entwickelnden Hauptorgans
der Rheinischen Zentrumspartei geleitet, wobei B. vorwiegend das staatsrecht-
Uche und das sozialpolitische Gebiet behandelte. Wiederholt verdichtete sich
seine publizistische Tatigkeit zu konkreten Gesetzesvorschlagen, fiir die er als
Schriftsteller und Redner unausgesetzt bemiiht war. So bei der zuerst von ihm
planmaBig betriebenen gesetzhchen Bekampfung des »unlauteren Wett-
bewerbs*, dem er im Sinne der franzosischen Rechtsprechung wider die Con-
208 1918
currence deloyale aus Artikel 1382 des Code Civil beizukommen suchte. Mehr
und mehr setzte sich bei den Juristen und auch in Handelskreisen dieser Ge-
danke durch, und am 27. Mai 1896 nahm der Reichstag das Gesetz gegen den
unlauteren Wettbewerb an. Mit dem Abgeordneten Oberlandesgerichtsrat
Roeren gab B. einen in mehreren Auflagen erschienenen Kommentar zu diesem
Gesetze heraus.
In ahnlicher Weise setzte B. sich in Zeitungsartikeln und inBroschiiren fur die
Einfiihrung der sog. bedingten Verurteilung ein, durch die die schwerwiegenden
Nachteile der kurzfristigen Freiheitsstrafen abgeschwacht werden sollten. Er
hatte die Handhabung des einschlagigen belgischen Gesetzes an der Zucht-
polizeikammer in Luttich studieren konnen, und wenn die bedingte Verurtei-
lung damals im Deutschen Reiche auch nicht in der von B. beabsichtigten
Weise eingefuhrt wurde, so kam der Grundgedanke seit 1895 in den meisten
deutschen Bundesstaaten doch in der Weise zur Durchfuhrung, dafl die Landes-
justizverwaltungen im Verordnungswege eine bedingte Strafaussetzung mit
Aussicht auf StraferlaB im Gnadenwege gewahren konnten.
Auch auf dem Gebiete der Kommunalpolitik hat B. sich eifrig betatigt,
Kaum 30 Jahre alt wurde er 1875 in der dritten Wahlerabteilung in das Kolner
Stadtverordnetenkollegium gewahlt. Der Kampf der Parteien wurde damals
vor allem in der dritten Klasse gefiihrt, zumal das Wahlrecht in der Rhein-
provinz fiir die stadtische Vertretung gesetzlich an einen um eine Stufe hoheren
Zensus gekniipft war als in den alten Provinzen PreuBens, und da es, wie auch
in Koln, durch Ortsstatut noch um eine weitere Stufe erhoht worden war. Erst
1892 gelang es bei Gelegenheit der Miquelschen Steuerreform hauptsachlich
durch die Bemuhungen B.s im PreuBischen Abgeordnetenhause, daB der Wahl-
zensus um eine Stufe herabgesetzt wurde, wodurch allein in Koln die Zahl der
Wahler in der dritten Klasse um rund 8000 stieg.
Im Herbst 1876 wurde B. fiir den Wahlkreis Sieg - Miilheim a. Rh. -Wipper-
fiirth auch in das PreuBische Abgeordnetenhaus gewahlt, dem er bis 1890 an-
gehorte. Rasch erlangte er in der Zentrumsfraktion, aber auch bei den ubrigen
Parteien infolge seiner Rednergabe und seiner Sachkenntnis eine angesehene
Stellung. Ihm lag neben Windthorst, den beiden Reichensperger und Lieber
die parlamentarische Vertretung der politischen, der kirchenpolitischen und
der Schulfragen ob. In der Schrift »PreuBen und die katholische Kirche« schil-
derte er das Verhaltnis dieser beiden Gewalten in seiner geschichtlichen Ent-
wicklung. Als Parlamentarier wie als Journalist hielt B. es fiir seine vornehmste
Pflicht, fiir die Beseitigung der Kulturkampfgesetzgebung, fiir die Freiheit der
Religionsubung des katholischen Volksteils und fiir die verfassungsmaBige
Gleichberechtigung desselben einzutreten. Die Erregung, die sich in katho-
lischen Gegenden der Bevolkerung damals bemachtigt hatte, fiihrte wiederholt
zu ZusammenstoBen mit den Organen der Staatsregierung und zu aufsehen-
erregenden Gerichtsverhandlungen. Zweimal hatte dabei B. als Rechtsbeistand
einen vielbesprochenen Erfolg; das erstemal 1876 bei dem ProzeB gegen
21 Leute aus dem Dorfe Marpingen (Bez. Trier), die wegen Aufruhrs und Land-
friedensbruchs angeklagt waren, aber bei der Gerichtsverhandlung in Saar-
briicken auf Antrag B.s freigesprochen wurden. Das zweitemal bei dem sog.
Rheinbrohler GlockenprozeB. In dem Orte Rheinbrohl bei Neuwied hatte der
Biirgermeister beim Begrabnis eines zweijahrigen Kindes das Lauten der
Bachem
209
Kirchenglocken angeordnet, und als die Kirchengemeinde dieser Forderung
passiven Widerstand entgegensetzte, in Koblenz Landgendarmerie und Militar
requiriert. B. vertrat im Landtage mit Erfolg den Satz, daB die Glocken in
Rheinbrohl der Kirchengemeinde gehorten und daB die Bevdlkerung zu der
schroffen MaBregel der Requirierung von Militar keinerlei AnlaJ3 gegeben habe.
Das Oberlandesgericht in Frankfurt erkannte das alleinige Eigentum der
Kirchengemeinde an der Kirche und dem Kirchturm an, und demgemaB wur-
den der Zivilgemeinde die erheblichen Kosten des militarischen Eingreifens
wieder erstattet.
Als 1876 der hundertjahrige Geburtstag Joseph v. Gorres' gefeiert wurde,
war B. in Koblenz mit fiinf Gesinnungsgenossen, darunter die Bonner Privat-
dozenten Freiherr v. Hertling (s. unten VS. 418) und Hermann Cardauns,
an der Griindung der » Gorres-Gesellschaf t zur Pflege der Wissenschaft im katho-
lischen Deutschland« hervorragend beteiligt. Besonders enge verkniipfte ihn
mit dieser Organisation die Bearbeitung und Herausgabe des von ihr ver-
offentlichten »Staatslexikons«, von dem unter der Redaktion B.s vier Auflagen
erschienen. Nach der Fertigstellung der ersten Auflage ernannte ihn die Uni-
versitat Lowen zuin Ehrendoktor der Staatswissenschaften. In ahnlicher Weise
war B. auch fur den Ausbau des 1878 gegrundeten Augustinus-Vereins zur Pflege
der katholischen Presse bemiiht, bei dessen Generalversammlungen er meist
die politischen Refer ate erstattete.
In der Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verbreitete sich
von Frankreich und Italien her auch in Deutschland ein von den sog. franzo-
sischen »Fumisten« ausgehender Schwindel, dessen Urheber, vor allem der
franzosische Schriftsteller und ehemalige Freimaurer Leo Taxil, auf Grund
willkurlicher Erfindungen und Enthiillungen in Biichern und Zeitungen die
Freimaurerei als im Bunde mit dem Teufel stehend hinstellten. Auf dem im
September 1896 in Trient stattfindenden Internationalen Antifreimaurer-
kongreB sollten diese sensationellen Enthiillungen als Beweismaterial fiir kirch-
liche MaBnahmen gegen die Freimaurerei verwertet werden. In dieser hoch-
kritischen Situation gelang es B. auf Grund seiner personlichen Beziehungen zu
einem dieser f ranzosischen Schriftsteller die ganze groBangelegte Mystif ikation
aufzudecken und ihre Hintermanner in mehreren Artikeln der Presse zu ent-
larven. Dadurch hat er sich urn die Bewahrung des deutschen Katholizismus
vor der ihm zugedachten Blamage ein groBes Verdienst erworben.
B. wollte nach seinen offentlichen Versicherungen nichts anderes sein, als
Zentrumspublizist und Zentrumspolitiker schlechthin, so wie er in der Schule
Windthorsts es gelernt hatte. Trotzdem konnte er nicht verhindern, daB er von
sog. integralen Schwarmgeistern als Vertreter einer einseitigen Richtung, der
Richtung Bachem oder auch der Koln - M. - Gladbacher Richtung bezeichnet
und heftig angefeindet wurde. Diese kritische Einstellung gegenuber der von
B. vertretenen Kulturpolitik war hervorgerufen durch einen Artikel, den B.
1906 unter dem Titel »Wir miissen aus dem Turm heraus! « in den »Munchener
Historisch-Politischen Blattern« (Bd. 137, S. 376 ff.) veroffentlicht hatte, und
der lange Zeit hindurch in der Presse aller Parteien ein groBes Aufsehen erregte
und vielfach angefochten wurde. Dadurch wurde der jahrelang wahrende Streit
um den Charakter der Zentrumspartei bewirkt, der in der 1910 erschienenen
anonymen Streitschrift »K61n — eine innere Gefahr fiir den Katholizismus «
DBJ 14
210 1918
gipfelte. Was B. mit jenem Artikel beabsichtigte, hat er in seiner Schrift »Lose
Blatter aus meinem Leben« erlautert. Danach wollte er die starke Verteidi-
gungsstellung des Zentrums nicht preisgeben, aber anderseits die Zentrums-
partei auch nicht als eine ausschlieBlich konfessionelle Partei kennzeichnen,
sondern er betonte ausdriicklich, daB das Zentrum nach der Absicht seiner
Griinder, nach seinem Programm und nach seiner Geschichte eine politische
nichtkonfessionelle Partei sei, der auch jeder Nichtkatholik, der dessen Pro-
gramm annehme, beitreten konne und dem auch bis in die neueste Zeit hinein
hervorragende Mitglieder des protestantischen Bekenntnisses arigehort hatten.
Mit dieser Forderung B.s war also nicht gemeint, das Zentrum solle sein bisher
vertretenes Programm aufgeben und sich in eine rein wirtschaftliche Partei
umwandeln, wie die Richtungsgegner B.s dies unterstellten. Die in dem Turm-
artikel erorterten Gesichtspunkte des Verfassers haben sich, nachdem die Mi£-
verstandnisse und falschen Auffassungen beseitigt waren, allmahlich auf der
ganzen Linie durchgesetzt.
B. besaB einen ungemein klar denkenden Verstand, eine rasche Auffassung
und eine schier unbeugsame Willenskraft. Seine geistige Starke lag auf poli-
tischem Gebiete, wo ihn auBer einem rastlosen FleiB ein geradezu divinato-
rischer Scharfblick auszeichnete, der ihn kommende politische Situationen
sicher vorhersehen und genau berechnen lieB. Er war eine ausgesprochene
Kampfer- und Fiihrernatur und besafi eine hinreiBende und schlagfertige Be-
redsamkeit. Er war eifrig um den wirtschaftlichen, sozialen und wissenschaft-
lichen Auf stieg des katholischen Volksteiles bemiiht und hat diesen durch seine
46jahrige journalistische Tatigkeit aus alien Kraften zu befordern gesucht, aber
er hat sich doch anderseits auch stets fur den paritatischen Rechtsstaat und
fiir die biirgerliche Toleranz in Deutschland eingesetzt und bewuBt die gemein-
samen Giiter aller Konfessionen gepflegt.
Literatur: Bachem (und W ein and) : Vor den Wahlen. Mahnruf an das christlich-
konservative Deutschland, 1871. — B. (und Semmerau) : Lamy, ein Opfer der Geheim-
biinde. Auszug aus Brescimis Jude von Verona, 1873. — Das Zentrum im Landtag und
im Reichstag, 1874. — Ein Kapitel uber die Polizei, 1876. — Strafrechtspflege und
Politik, 1876. — Gesetz und Recht, 1876, 2. Auflage 1877. — Preuflen und die katholische
Kirche, 1884, 5. Auflage 1887. — Der unlautere Wettbewerb, 1892. — Wie ist dem un-
lauteren Wettbewerb zu begegnen ? 1893. — Bedingte Verurteilung, 1894. — Bedingte
Verurteilung oder bedingte Begnadigung, 1896. — B. (und Roeren) : Das Gesetz zur Be-
kampfung des unlauteren Wettbewerbs, 1896, 3. Auflage 1900. — B. (und W. Hankamer) :
Die Paritat in PreuBen, 1897, 2- Auflage 1899. — Allerlei Gedanken iiber Journalistik, 1905.
— Lose Blatter aus meinem Leben, 1910. — Erinnerungen eines Politikers, 191 2. — Das
Zentrum, 191 3. — Der Krieg und die politischen Parteien, o. J. — Der Krieg und das
Papsttum, o. J . — Der Krieg und die Polen, o. J . — Hsg. J ahrhundertf eier zur Vereinigung
der Rheinlande mit PreuBen, 1915. — Staatslexikon der Gorres-Gesellschaft, 1900 ff. —
Hermann Cardauns, Aus dem Leben eines Redakteurs, 191 2.
Koln. Karl Hoeber.
Ballin, Albert, Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie, * 15. August
1857 in Hamburg, f 9. November 1918 in Hamburg. — Albert B. wurde in
Hamburg unten im Hafenviertel, in dem heute nicht mehr bestehenden alt-
hamburger Hause Stubbenhuk 17 als dreizehntes Kind seines Vaters geboren.
Der Vater, Samuel Joel B., aus dem kleinen Hafenort Horsens an der Ostkiiste
Siid-Jiitlands stammend, war 1832 als Handwerker in Hamburg eingewandert,
Bachem. Ballin 211
hatte es rasch mit einer Dekatier- und Farbereiwerkstatt, die schlieBlich zur
Fabrik angewachsen war, zu kleinem Wohlstand gebracht, der freilich nach
dem groBen Brand von Hamburg 1842 infolge der Insolvenz groBer Hamburger
Firmen wieder zusammenbrach. 1852, also funf Jahre vor Alberts Geburt, er-
richtete der Vater mit einem Sozius eine Auswandereragentur,.die sich bis zu
seinem Tode (1874) miihselig durchschlug und keine besondere Bedeutung er-
langen konnte. In diesem Milieu wuchs Albert B., nahe dem Zentrum des Ham-
burger Hafenverkehrs und tagtaglich hingewiesen auf den groBen, namentlich
nach der Revolution von 1848 mehr und mehr anschwellenden Auswanderer-
verkehr iiber Hamburg, mit hellsichtigen Augen auf. Als der Vater, siebzigjahrig,
gestorben war, muBte er, noch unmiindig, sehr bald die Fiihrung der Firma, die
nominell der Mutter gehorte, ubernehmen. Seine Schuljahre hatten ihm auf
verschiedenen Lehranstalten das iibliche Bildungsgut vermittelt. Ein glanzen-
der Schuler ist er niemals gewesen. Die wertvollste Ausbildung brachte ihm in
den nachsten Jahren das Leben selbst, zumal er nun einen eisernen FleiB, eine
ungewdhnliche Auffassungsgabe und einen ganz seltenen Blick fur geschaft-
liche Moglichkeiten entwickelte. Die kleine Auswandereragentur verstand er
als » junger Mann « sehr bald zu groBerer Bedeutung zu bringen, so daB er bereits
1880 mit seiner Firma einen erheblichen Teil des indirekten Auswanderer-
verkehrs iiber Hamburg, d. h. den Transport von Auswanderern iiber englische
Hafen beherrschte. Reisen nach England brachten ihm Beziehungen aller Art,
verschafften ihm Einblick in die treibenden Krafte des Schiffahrtsgeschaftes
und in die damals namentlich in England aufstrebenden GroBreedereien.
Die Entwicklung der deutschen Reedereien war bis dahin keine besonders
gluckliche gewesen. Zwar hatte der Norddeutsche I,loyd in Bremen (gegriindet
1857) einen erheblichen Teil des Auswandererverkehrs iiber deutsche Hafen an
sich ziehen konnen, ebenso wie die Hamburg-Amerikanische Paketfahrt A.-G.
(Hapag, gegriindet 1847) mit wechselndem Gliick ihre Beziehungen im Per-
sonen- und Frachtverkehr nach Amerika und Westindien ausgestaltet hatte.
Anfang der achtziger Jahre aber, zu einer Zeit, in der Bremen in seinen Be-
forderungszahlen einen starken Vorsprung vor Hamburg erzielt hatte, waren
die inneren Verhaltnisse der Hapag iiberaus unsicher und schwankend. Es lag
wie eine Lahmung iiber dem Unternehmen. Der Reeder Edward Carr, vorher
Mitinhaber der bekannten Firma Rob. M. Sloman jr. stellte der wenig unter-
nehmungslustigen Hapag eine Auswandererlinie nach Neuyork entgegen und
sicherte sich die Mitarbeit der B.schen Agentur mit dem Erfolg, daB die Hapag
trotz ihrer iiberragenden GroBe schlieBlich dazu iibergehen muBte, sich mit
dieser tatkraftigen jungen Konkurrenz zu verstandigen. Die Carrschen Inter-
essen wurden mit der Hapag vereint, und B. trat, 20jahrig, 1886 als Passage-
leiter in den Dienst der groBten Hamburger Reederei. Zwei Jahre spater wurde
er Mitglied des Direktoriums und abermals einige Jahre spater Vorsitzender
des Direktoriums des sich nunmehr » Hamburg- Amerika -L,inie« nennenden
GroBbetriebes.
War schon der personliche Aufstieg dieses Mannes, den weder uberkommenes
Vermogen noch glanzende Verbindungen oder Familientradition zur Ver-
fiigung standen, ein namentlich in der alten patrizischen Hansestadt durchaus
ungewohnlicher Vorgang, so war die Iyeistung, die nun folgte, etwas Erstaun-
liches.
212 1918
Zunachst organisierte B. den Passagedienst der vergroBerten Gesellschaft
sowohl in Hamburg als auch in Neuyork neu, schuf die ersten Grundlagen
einer reprasentativen Propaganda, die bekanntlich heute ein iiberaus wichtiges
Element der iiberseeischen Personenschiffahrt darstellt, und trieb die Gesell-
schaft dazu an, den Schnelldampfertyp, mit dem der Norddeutsche Lloyd in
den letzten Jahren vor 1886 grofle Erfolge erzielt hatte, aufzunehmen und fort-
zubilden. Der erste grofle Schritt der Hapag war der Bau eines Doppelschrauben-
Schnelldampfers, der den Einschrauben-Schnelldampfern des Norddeutschen
Lloyd die Spitze bieten sollte. Damit gewann die Hamburg- Amerika-Linie un-
geahnte Entwicklungsmoglichkeiten. Sie konnte ihre Schiffe wesentlich ver-
groBern und wegen der beiden nebeneinanderliegenden Maschinen verbreitern,
ohne daB darunter das Ziel groBerer Schnelligkeit litt. Der Norddeutsche Lloyd,
der sich zunachst nicht zum Bau von Doppelschraubenschiffen entschlieBen
konnte, muflte bald empfinden, daB ihm ein scharfer Wettbewerber in Ham-
burg entstanden war. In den ersten zehn Jahren der B.schen Wirksamkeit in
der Hamburg- Amerika-Linie muBte sich der Norddeutsche Lloyd trotz eigener
vortrefflicher Entwicklung, sowohl was Tonnage, beforderte Passagiere, wie
Auswandererzahl angeht, iiberfliigeln lassen. Das Kennzeichen der B.schen
Wirksamkeit innerhalb seiner Reederei war die f achliche Universalitat. Obwohl
er in seinen Lehr jahren mit dem Frachtgeschaft kaum etwas zu tun hatte,
wirkte er bald anfeuernd auch auf die Frachtlinien der Hamburg-Amerika-
Linie ein. Die Ausbildung des Borddienstes stand nicht nur unter seiner Auf-
sicht, sondern blieb bis zuletzt bis ins einzelne seinem EinfluB unterworfen. In
technischer Beziehung stellte er seine Mitarbeiter immer erneut vor neue und
groflere Aufgaben. Auf finanziellem Gebiet verstand er es, der Gesellschaft,
deren Aktien vorher zeitweise stark angeboten waren, neues Vertrauen nicnt
nur in den hamburgischen Wirtschaftskreisen, sondern im ganzen Reiche zu
verschaffen. Die in finanzieller Beziehung durchaus vorsichtige, aber auch
wagemutige Fiihrung der Gesamtentwicklung ermoglichte immer neue Kapital-
erhohungen und schuf damit erst die Grundlage zu neuen technischen Fort-
schritten. Nicht zuletzt war es B. zu danken, daB der Hamburger Staat in weit
groflerem Umfange als f riiher seine Fiirsorge der Vertiefung und dem Ausbau
der Unterelbe zuwendete (s. Bubendey, unten S. 359), so daB die von der Ham-
burg- Amerika-Linie in raschem Tempo geschaffenen, immer grofler werden-
den Schiffsgefafle fast ausnahmslos bis in den Hamburger Hafen gelangen
konnten. Die geniale Beweglichkeit seines Geistes und die vorausschauende
Feinfuhligkeit, mit der er den Wiinschen des zu Seereisen geneigten Publikums
zuvorkam, fiihrten in der Ausgestaltung der transatlantischen nordamerika-
nischen Fahrten zu einer iiberaus sinnvollen jeweiligen Verlegung des Schwer-
gewichts im Charakter der neu geschaffenen Schiffstypen, indem wechselweise
im Abstand von mehreren Jahren das eine Mai mehr der gesteigerten Schnellig-
keit, das andere Mai der Bequemlichkeit und hervorragenden Raumgestaltung
an Bord die groflere Bedeutung zugemessen wurde. Daneben verstand B. fur
die europaische Auswanderung nach Nordamerika vorbildliche neue Grund-
lagen zu schaffen. Die Organisation des Auswandererdienstes schon an der
russisch-polnischen Grenze, die Unterbringung der Auswanderer bis zur Ab-
fahrt des Schiffes im Hamburger Hafen in einer eigens hierzu geschaffenen
Auswandererhallenanlage, die einer ganzen Stadt gleicht, und die gesundheit-
Ballin 213
liche Sicherung der immer mehr wachsenden Anzahl von Menschen (letzteres
namentlich nach dem katastrophalen Cholera jahr von 1892) wurde so geradezu
zur Voraussetzung des glatten Ablaufs jenes Auswandererstromes, dessen
Hunderttausende alljahrlich iiber europaische, meist deutsche Hafen eine neue
Lebensgrundlage jenseits des Ozeans such ten. — Als B. in die Hapag eintrat,
lieB diese ihre Schiffe lediglich nach Nordamerika und Westindien laufen. In
der Folgezeit steigerten sich die Leistungen der Gesellschaft, indem immer
neue Gebiete der Welt in den Verkehr einbezogen wurden. Mit Ausnahme der
australischen Hafen gab es vor Ausbruch des Weltkrieges kaum irgendeinen
groBeren Hafen an den Kiisten dieser Erde, in dem nicht die Flagge der Hapag
regelmaBig gezeigt worden ware. Die geradezu meisterhafte Propaganda, die
unter dem EinfluB B.s sowohl in kunstlerischer wie in literarischer Beziehung
ausgebaut wurde, fand Unterstiitzung in der Angliederung kleinerer Unter-
nehmen, die fur das Urteil des Publikums erhebliche Bedeutung hatten: die
Ausgestaltung des deutschen Nordseebaderdienstes und der Reisebureaus. Es
soil nicht behauptet werden, daB alle Einzelheiten dieser Entwicklung das per-
sonliche Verdienst oder die ureigenste Idee Albert B.s gewesen seien. Er war viel
zu objektiv, um nicht das Gute daher zu nehmen, wo er es fand. Wohl aber war
er oft derjenige, der den ersten AnstoB gab, und der nicht ruhte, bis eine Neue-
rung in der feinsten Form durchgefuhrt wurde. So war der Gedanke der Nord-
land- und Mittelmeerfahrten mit denjenigen groBen Passagierdampfern, die in
der stilleren Zeit im transatlantischen Verkehr nicht benotigt wurden, eine
seiner originellen, fruchttragenden Ideen.
Wenn der alte Satz, daB die Flagge dem Handel vorausgeht, als richtig anzu-
erkennen ist, dann hat Albert B. fur die Ausgestaltung der deutschen Ubersee-
wirtschaft, fur die Entwicklung des AuBenhandels und gleichzeitig auch der
deutschen Industrie eine Riesenleistung vollbracht. Der Auftrieb seiner Tatig-
keit und seines Unternehmens riB naturgemaB andere Unternehmungen gleicher
Art zu groBen Leistungen mit. Er hat niemals der Meinung gehuldigt, daB,
nachdem die Hamburg- Amerika-Linie zur groBten deutschen Reederei ge-
worden war, ihr etwa eine Art Monopol oder Vorzugsstellung verschafft werden
konnte. Trotz seiner guten Beziehungen zur deutschen Regierung und der
Freundschaft, die ihn etwa von der Jahrhundertwende ab mit dem deutschen
Kaiser verband, hat er niemals versucht, seiner Reederei Subventionen der
Regierung, wie sie in anderen Landern ublich waren, zuzufuhren ; im Gegen-
teil, er war ein scharfer Gegner dieser Art von Schiffahrtspolitik.
Dem schrankenlosen Wettbewerb, der insbesondere der Schiffahrt eigen sein
kann, begegnete er mit dem Aufbau einer der glanzendsten internationalen
Organisationen, die die neuere Wirtschaftsgeschichte kennt. Es ist bezeichnend,
daB er bereits als 2oJahriger junger Mann beim Eintritt in die Hapag den Plan
zu einem internationalen Schiffahrtspool mitbrachte. Neben der iiberaus viel-
seitigen Tatigkeit des ersten Jahrzehnts innerhalb der Hapag war die Durch-
arbeitung dieser Idee und der allmahliche unter seinem maBgeblichen EinfluB
zustande kommende Aufbau des transatlantischen Passagepools, dem sehr bald
ahnliche Organisationen auf alien Schiffahrtsgebieten folgten, einer der wich-
tigsten Leistungen. Die Eigenart dieser groBen Kartelle, denen sehr bald alle
Schiffahrtsunternehmungen angehorten, lag darin, daB zwar die Preise und die
Linienorganisation auf einer sinnreich durchdachten Vereinbarung beruhten,
214 1918
daB aber gleichzeitig den einzelnen Unternehmungen hinsichtlich der quali-
tativen Ausgestaltung ihres Dienstes und der technischen Verbesserung ihrer
Schiffe keinerlei Schranken gezogen waren. So wurde B. selir bald als aner-
kannter Fiihrer dieser Organisation zu einer wirtschafts-politisch bedeutenden
Personlichkeit, deren EinfluB auch auBerhalb der Grenzen groB zu nennen war.
Es nimmt daher nicht wunder, daB ihm ganz von selbst auch ein erheblicher
politischer EinfluB zuwuchs, der keineswegs nur auf seiner Freundschaft zum
deutschen Kaiser beruhte. Seine Beziehungen zu den Wirtschafts- und Finanz-
fuhrern der groBen Weltmachte, denen der gewaltige wirtschaftliche Erfolg
seiner Reederei hohe Achtung abgerungen hatte, fiihrten ganz von selbst dazu,
auch in den groBen Fragen der AuBenpolitik eine nicht unwesentliche Stellung
zu finden. Er hat freilich niemals eine amtliche Tatigkeit auf diesen Gebieten
erstrebt oder ubernommen. AuBere Ehrungen, die ihm zahlreich angeboten
wurden, hat er gering geschatzt, und so we it es sich um Titel handelte, charakter-
voll abgelehnt. Den Gipfel seiner Laufbahn erklomm er in den letzten Jahren
vor dem Weltkriege, indem er unter der besonderen Aufmerksamkeit des
Kaisers den groBen Wurf der drei Imperatorenschiff e wagte : Drei Turbinen-
schnelldampfer von ungeheuren AusmaBen mit drei Schrauben, zwischen
52 000 und 60000 Bruttoregistertonnen mit einer bis dahin noch nicht gekannten
Schnelligkeit versehen, mit Bordraumen von bisher ungekannter Pracht: ein
dreifaches Werk, dessen Vollendung der Weltkrieg verhinderte. Dampfer
»Imperator<( war 1913, Dampfer »Vaterland« 1914 in Dienst genommen, wah-
rend Dampfer » Bismarck « erst wahrend des Krieges langsam fertiggestellt
werden konnte.
Damit begann der tragische Zusammenbruch einer seltenen menschlichen
Laufbahn und Leistung. Der Krieg zerstorte die Organisation der deutschen
Reedereien mit einem Schlage. Der Frieden von Versailles nahm der Hamburg-
Amerika-Linie den verhaltnismaBig groBen Teil der Schiffe, die ihr trotz Ver-
senkung und Wegnahme verblieben waren, vollends fort. B. hat diesen letzten
und schwersten Schlag nicht mehr erlebt. Aber sein Geist hatte dieses vor-
laufige Ende seines Lebenswerkes vorausgefuhlt. — Wahrend des Krieges
stellte er seine Kraft fur die Beratung in groBen wirtschaftlichen Fragen und
fur politisch-diplomatische Verhandlungen soweit moglich zur Verfugung. Sein
Urteil iiber die politische Fuhrung des deutschen Volkes wahrend des Krieges
war im ganzen, wenn auch unter Schwankungen, die seinem sanguinischen
Charakter entsprachen, absprechend. Er begann aus seiner Auslandskenntnis
heraus bereits friih daran zu zweifeln, daB es Deutschland moglich sein wiirde,
einer ganzen Welt zu widerstehen. Er warnte vor der Einleitung des unbe-
schrankten U-Bootkrieges und lieB sich schlieBlich durch die Urteile der Marine-
politiker bestimmen, seinen Widerspruch aufzugeben. Der Eintritt Amerikas
in den Krieg nahm ihm aber fast alle Hoffnungen auf einen giinstigen Ausgang,
und der Gedanke, daB er im Schatten der durch den Krieg hervorgerufenen
Hetze gegen Deutschland genotigt sein konnte, eines Tages aus den Triimmern
seines Unternehmens wieder eine neue Reederei aufzubauen, hat ihn in seinen
Nerven auf das schwerste erschtittert. Im Herbst 19 18 wandten sich maB-
gebende Kreise, unter ihnen Hugo Stinnes, an Albert B., seinen EinfluB bei
Wilhelm II. im Sinne einer Liquidierung des Krieges einzusetzen. Ende Oktober
legte man ihm nahe, die Waffenstillstandsverhandlungen zu fiihren. Er war
Ballin. Baeyer 215
bereit. Als der Zusammenbruch da war und die Erregung der Revolution jede
Arbeit vollends zum Stillstand brachte, schlug das Schicksal auch iiber dem
Haupte Albert B.s zusammen. An dem schicksalsschweren 9. November 1918
schied er aus dem Leben.
Literatur: Huldermann, Albert Ballin, 1920, 2. Auflage 1922; P. F. Stubmann,
Albert Ballin, 1926.
Hamburg. Peter Franz Stubmann.
Baeyer, Johann Friedrich Wilhelm Adolf v., Dr. phil., o. Professor der Chemie
an der Universitat Miinchen, Geh. Rat; * am 31. Oktober 1835 m Berlin,
•f am 20. August 1918 *) in Miinchen. — Adolf B. wurde als Sohn des Hauptmanns
im Generalstab und nachmaligen Generalleutnants Johann Jakob B. und dessen
Frau Eugenie, geb. Hitzig, geboren. Das Milieu, in welchem Adolf B. seine
Jugend verlebte, ware eigentlich viel mehr dazu geeignet gewesen, den Knaben
einem schongeistigen Beruf zuzufiihren als der Naturwissenschaft. Denn sein
Geburtshaus bewohnten auBer den Eltern auch die GroBeltern Hitzig und sein
Onkel Franz Kugler (s. DBJ. 1914 — 16, S. 27), ein namhafter Kulturhistoriker,
und in deren Kreise hatten einst Chamisso und E. Th. A. Hoffmann verkehrt
imd verkehrten in Adolf B.s Jugendjahren noch Geibel, Paul Heyse (s. DBJ.
1914 — 16, S. 26ff.)( Fontane und andere Dichter alsFreunde und haufigeGaste.
Gleichwohl wiesen angeborene Neigmig und Anregungen, welche der Junge
auf Reisen mit seinem Vater empfing, ihn den Weg zur Naturwissenschaft.
Obwohl die von ihm besuchte Schule, das Friedrich- Wilhelm-Gymnasium
in Berlin, ihm anfanglich keinerlei Anregung in naturwissenschaftlicher oder
mathematischer Richtung bot, oblag der junge B., geleitet von Stockhardts
beriihmtem Buch » Schule der Chemie «, im Elternhaus mit Eifer chemischen
Studien, deren Auswertimg in Experimenten nicht immer den Beifall der
Hausinsassen fand. Vom 13. Lebensjahr ab gewannen die besonderen Inter-
essen des Jimgen auch durch die Schule Forderung, da nunmehr K. Schellbach
dort ausgezeichneten Unterricht in Mathematik und Physik erteilte. Die Wir-
kimg von Schellbachs Unterricht war nachhaltig, denn als B. 1853 das Gym-
nasium absolviert hatte, begann er an der Universitat das Studium der Mathe-
matik und Physik ; der Physiker Magnus und der Mathematiker Dirichlet waren
ihm dabei ausgezeichnete Lehrer. Nach dem dritten Studiensemester wurden
Adolf B.s Studien durch Abdienen des Militardienstjahres unterbrochen. In
dieserZeit vollzog sich in dem jimgen Mann ein entscheidender Wandel : alle
bisherigen Neigtmgen traten von nun an hinter denen zur Chemie zuriick. In
Berlin war damals ein fruchtbares Chemiestudium nicht moglich, weil der
Universitat ein chemisches Laboratorium fehlte. Deshalb trat B. in das be-
riihmte Laboratorium Robert Bunsens in Heidelberg ein.
Die Kenntnisse und Fertigkeiten, die der junge Chemiebeflissene einer
friihen hauslichen Beschaftigung mit Chemie zu danken hatte, kamen dem
Studenten B. nun vorziiglich zustatten; denn schon nach Ablauf eines ein-
zigen Semesters in Heidelberg wurden seine analytischen Fahigkeiten als hin-
reichend anerkannt, und da in jener Zeit eine anorganisch- oder organisch-
praparative Schulung noch nicht tiblich war, durfte B. nun sogleich seine erste
wissenschaftliche Arbeit beginnen. Das Thema dazu stellte Bunsen; es handelte
sich urn Feststellung des Einflusses von L,icht auf die Reaktionsgeschwindigkeit
•) 1917 (nicht 19 18) : durch Versehen des Verfassers irrtiimlich an dieserStelle eingereiht.
2l6 1918
zwischen Weinsaure und Brom. »Mein Anteil an der Arbeit war naturlich nur
ein rein mechanischer, und die veroffentlichte Notiz gab nur die von Bunsen
mir mitgeteilten Gedanken wieder«, so aufierte sich B. selbst iiber seine erste
wissenschaftliche Produktion.
Vielleicht noch wertvoller als der EinfluB Bunsens waren die Anregungen
alterer Praktikanten, die znsammen mit B. den Unterricht des Meisters ge-
nossen. Roscoe, Lothar Meyer, Pebal, Schischkoff, Lieben, Beilstein, Frapolli,
Pavesi, Filipuzzi u. a. bildeten fur B. den anregendsten Umgang. Besonders
wichtig aber wurde fur ihn sein Bekanntwerden mit August Kekule, der sich
gerade in Heidelberg als Privatdozent habilitiert hatte und ein eigenes Labo-
ratorium einrichtete. B. wurde sein erster Praktikant und griff nun eine schon
im Bunsenschen Laboratorium, allerdings erfolglos, von ihm begonnene Arbeit
iiber Kakodylderivate wieder auf, diesmal mit dem Resultat, daB er die
Niederschrift der Ergebnisse 1858 in Berlin als Dissertation einreichen und die
Doktorwiirde erlangen konnte.
Wenn auch die Neigungen Kekules zu wissenschaftlichen Spekulationen von
denen auf die chemischen Individuen selbst gerichteten B.s stark differierten,
so war Kekules EinfluB auf den jungen Forscher doch zweifellos groB. Als
Kekule* kurz nach B.s Promotion seine Arbeitsstatte nach Gent verlegte, folgte
ihm der junge Doktor dorthin nach. Es folgte die Zeit, in welcher B. seine
klassischen Arbeiten iiber Verbindungen der Harnsauregruppe begann.
Im Fruhjahr i860 kehrte B. nach Berlin zuriick und habilitierte sich hier als
Privatdozent. Da in jener Zeit die Universitat einem Chemiedozenten nur Ge-
legenheit zu Vorlesungen, nicht aber zu Experimentalarbeiten bot, nahm B.
als Hauptberuf eine Lehrstelle am »Gewerbeinstitut« an, wo ihm durch das
Wohlwollen des Direktors Nottebohm ein geraumiges Laboratorium zur Ver-
fiigung gestellt wurde.
Zwolf sehr fruchtbare Jahre verbrachte B. in dieser Stellung. Es war die
Zeit, in welcher er seinen Untersuchungen iiber Harnsaure feste Basis gab, in
welcher ferner die bewundernswerten Arbeiten iiber Indigo begonnen und
(1870) durch eine erste Synthese dieses wichtigsten aller technischen Farb-
stoffe gekront wurden. Arbeiten iiber die Natur des Benzols, die Konden-
sationen von Phthalsaure mit Phenolen und vieles andere Bedeutende datiert
aus jener Zeit.
Eine ganz besondere Fahigkeit B.s, wie sie im gleichen Grade niemals ein
anderer Chemiker besaB, tat sich bereits in jener Entwicklungsperiode kund:
eine unvergleichliche Lehrbegabung, das Vermogen, dem Lernenden in gleichem
MaBe Begeisterung zur Forschung, weiten Blick fiir das Bedeutungsvolle und
streng kritischen Sinn einzupflanzen. Wenn aus B.s Schule in jenem beschei-
denen Laboratorium Manner wie Berend, Grabe, Liebermann und Viktor
Meyer hervorgegangen sind, so war dies gewiB kein Zufall, sondern ein hohes
Verdienst B.s, das der Meister auch an seinen spateren Wirkungsstatten bis
ins hohe Alter immer erneuerte.
Wenn die Tatigkeit am Berliner Gewerbeinstitut somit reich an Erfolgen
war, so lieBen ein kargliches Gehalt und die Knappheit der Arbeitsmittel B.
doch eine Veranderung seiner Position sehr wiinschenswert erscheinen, um so
mehr, als er nicht mehr fiir sich allein zu sorgen hatte. 1868 hatte er namlich
eine Tochter des Geheimrats Bendemann als Gattin heimgefuhrt.
Baeyer 217
So mag B. es mit Freuden begriifit haben, als 1872 seine erfolgreiche Tatig-
keit in einer Berufung auf das Ordinariat fiir Chemie in Strafiburg Anerkennung
fand. Er folgte dem Ruf, wenn die damit verbundenen Veranderungen auch
ihre starke Schattenseite hatten. In Strafiburg bestand namlich kein chernisches
Universitatslaboratorium, und es war B.s erste Aufgabe daselbst, im Garten
des pharmazeutischen Instituts ein provisorisches Laboratorium zu erbauen.
Dazu hemmte Anfangerunterricht, den B. in ausgedehntem Mafie zu erteilen
hatte, in unerwiinschter Weise die Forschungsarbeit. Es ist einzigartig, in
welcher glanzenden Weise trotzdem B. auch in Strafiburg Schule machte.
In der Reihe derer, die bei dem Lehrer Anregung und Belehrung suchten und
fanden, finden wir Emil Fischer, Julius Weiler, Guido Goldschmidt, Julijan
Grabowski, E. Hepp, Hemilian, Edmund ter Meer, C. Schraube, F. Fuchs,
Ad. Kopp, N. Gerber, Zeidler, R. Schiff u. a. m., eine Reihe glanzender Namen f
Hatte B.s Wir ken bis dahin nicht immer den Dank der Regierung in dem
Mafie, wie B. hatte erwarten konnen, gefunden, so war es fiir ihn eine urn so
bedeutungsvollere Wendung, als nach dem Tode Justus Liebigs (1875) von
Miinchen aus die Einladung an ihn erging, Nachfolger des beruhmtesten Che-
mikers jener Epoche zu werden. B. nahm diese ehrenvolle Berufung urn so lieber
an, als die Regierung in Berlin keinen Versuch machte, ihn in seiner Strafi-
burger Professur zu halten.
Einst hatte Liebig dadurch umwalzend auf den chemischen Unterricht ge-
wirkt, dafi er in Giefien das erste deutsche Unterrichtslaboratorium einrichtete.
Spater (1852), als er nach Miinchen zog, waren seine Neigungen zum praktischen
Unterricht aber so vollig erschopft, dafi er zur Bedingung stellte, vom Labora-
toriumsunterricht vollig befreit zu sein. So kam es, dafi B. auch in Miinchen
einen Laboratoriumsneubau zu errichten hatte. Sein praktischer Sinn bewahrte
sich dabei aufs allerbeste, denn wenn seit etwa einem Jahrzehnt das von B.
geschaffene Miinchener Institut auch wesentlich erweitert und in seinen Ein-
richtungen verbessert worden ist, so hat sich B.s Schopfung doch durch f iinf
Jahrzehnte aufs beste bewahrt.
Die 40 Jahre, wahrend welcher B. in Miinchen seine Forscher- und Lehr-
tatigkeit ausiibte, waren mit einer Fulle von wissenschaftlichen Erfolgen ge-
segnet. Die Chemie des Indigo fand ihre Vervollstandigung in der Synthese
des Isatin (1878) und zwei neuen Indigosynthesen (aus Nitrophenylpropiol-
saure [1880] und aus O-Nitrobenzaldehyd [1882]). Zu nennen ist weiter die
grofie Reihe von grundlegenden Arbeiten, die von der Chemie der Azetylene
zur sogenannten »Spannungstheorie«, von hydrierten aromatischen Verbin-
dungen zu B.s Benzolformel fiihrte. Nennen wir noch die Arbeiten iiber Per-
oxyde und Persauren, iiber die Farbstoffe der Triphenylmethanreihe, die
Untersuchungen iiber die basischen Eigenschaften des Sauerstoffs, so ist da-
mit nur das Allerwichtigste zitiert. Ein glanzender Kreis von Schiilern umgab —
wie in Berlin und Strafiburg — auch in Miinchen den Meister. Unter den
vielen aus der Miinchener Schule, die in der akademischen Laufbahn sich be-
deutende Namen machten, seien nur die Namen Otto Fischer, Volhard, Claisen,
Bamberger, Kriifi, Pechmann, Curtius, Thiele, Konigs, Muthmann, Willstatter,
K. A. Hofmann, Wieland und Purnmerer genannt.
Eigenartig war B.s Wirken auf die chemische Industrie. Niemals bestimmten
B.s Arbeitsplane gewinnverheifiende Ziele; ihn interessierte das Wissenschaft-
2l8 1918
liche an den chemischen Problemen und nicht materieller Erfolg. Trotzdem
oder vielleicht gerade deshalb hat er die deutsche chemische Industrie in un-
gewohnlicher Weise befruchtet. Denn viele seiner Ideen lieBen sich von der
machtig emporwachsenden Farbstoffindustrie nutzbringend verwerten. Und
in mindestens gleichem MaBe erwarb er sich urn unsere Industrie hochstes Ver-
dienst dadurch, daB er ihr vortreffliche Chemiker erzog.
Am AbschluB seines 80. Lebensjahres noch hielt B. seine regelmaBigen Vor-
lesungen, die durch den meisterhaften Vortrag, den klaren Inhalt und treffliche
Experimente alljahrlich ein Anziehungspunkt fiir eine groBe Schar Lernbegie-
riger waren. Was nicht selten bei Gelehrten ist, die bis zum hohen Alter ihrer
Wissenschaft gedient haben, daB sie namlich sich an den Ruhestand nicht
mehr gewohnen konnen, traf auch bei Adolf B. ein. Am 20. August 1918, in
seinem 83. Lebensjahr, verlosch der Geist, der durch fast sechs Jahrzehnte
seinen Schulern geleuchtet hatte.
Die Kraft zu seinen unvergleichlichen L,eistungen schopfte B. zeitlebens
aus einer weisen Lebensfuhrung, die zwischen Arbeit und Erholung stets den
richtigen Wechsel eintreten lieB, und auBerdem in einem Familienleben, das
ihm seine Gattin und die Kinder, spater auch eine frohliche Enkelschar, sehr
gliicklich gestalteten.
Berlin. Wilhelm Schlenk.
Beck, Ludwig, Eisenhuttenmann, * 10. Juli 1841 zu Darmstadt, f 23. Juli 1918
zu Biebrich/Rh. — B. entstammt einer alten hessischen Beamtenfamilie. Sein
Vater vererbte den Sinn fiir die Vergangenheit auf seine drei Sonne, von denen
der spatere General Friedrich B. als Verf asser zahlreicher Regimentsgeschichten,
und Professor Theodor B. (s. oben S. 18 ff.) durch seine Forschungen zur Ge-
schichte des Maschinenbaues bekannt sind. I^udwig B. besuchte anfanglich
das Gymnasium in Darmstadt und dann die dortige hohere Gewerbeschule.
Schon mit i63/4 Jahren erwarb er sich das Reifezeugnis und bezog die Univer-
sitat Heidelberg. Er arbeitete im Bunsenschen Laboratorium und wurde,
20 Jahre alt, am 24. Juli 1861 auf Grund einer vor Bunsen (Chemie), Kirchhoff
(Physik) und Blum (Mineralogie) mit Note II (insigni cum laude) bestandenen
Priifung zum Dr. phil. promoviert. Nun wandte er sich dem Studium des
Eisenhiittenwesens zu und studierte von 1861 bis 1863 m Freiberg und dann in
Leoben, wo er von Peter Tunner angezogen wurde. Es folgte eine praktische
Ausbildung in den Berg- und Hiittenwerken zu Ems und auf der Henrichs-
hutte bei Hattingen. Von besonderer Bedeutung fiir seinen Entwicklungsgang
war ein Aufenthalt in London, der Hauptstadt des damals im Eisenhutten-
wesen fiihrenden Landes. Er war dort in den Jahren 1864/65 Assistent an
der Royal School of Mines bei Professor John Percy, dem ersten I^ehrer fiir
Eisenhiittenkunde seiner Zeit. Wie B. im Vorwort seiner »Geschichte des
Eisens« sagt, hat er von Percy die unmittelbare Anregung zur Abfassung
seines Werkes erhalten. Percy, der damals gerade mit seiner » Sketch of the
history of iron* im zweiten Bande seiner »Metallurgie« beschaftigt war, sprach
gelegentlich aus, eine ausfuhrliche Geschichte des Eisens zu schreiben, miisse
einmal eine Aufgabe fiir B. werden. Diese Anregung ist auf einen fruchtbaren
Boden gef alien.
Baeyer. Beck 210
1865 bis 1867 war B. als Hochofeningenieur in Altenhundem im Sauerland
tatig. Aber die iibliche eisenhiittenmannische L,aufbahn sagte ihm nicht zu.
Nachdem er in den beiden folgenden Jahren in Darmstadt und Frankfurt Vor-
lesungen iiber Hiittenkunde und Geologie gehalten hatte, machte er sich 1869
durch Ubernahme der Rheinhutte bei Biebrich selbstandig. Das Werk war 1857
als Hochofenwerk gegriindet worden, konnte sich aber als solches nicht halten.
B. baute es zu einer bedeutenden EisengieBerei aus. Leider fiihrt das Werk
heute nicht mehr den geachteten Namen L. Beck & Co.
In Biebrich griindete B. eine Familie und fand am schonen Rhein eine zweite
Heimat.
Es ist erstaunlich, daB B. neben seiner Tatigkeit im eigenen Werke und in
Industrieverbanden noch Zeit gefunden hat, sich geschichtlicher und archaolo-
gischer Bestrebungen anzunehmen. Als Forderer und Vorsitzender des Vor-
stands des romisch-germanischen Zentralmuseums, innig bef reundet mit dessen
Direktor Ludwig Lindenschmit, hat er sich verdient gemacht. Fast unverstand-
lich aber bleibt es, daB B. in Biebrich Zeit fand, die geplante » Geschichte des
Eisens « fertig zu stellen. Nachdem sich B. durch jahrelanges Studium vor-
bereitet hatte, erschien das Werk 1884 bis 1903 in fiinf Banden mit iiber 6000
Seiten bei Vieweg in Braunschweig.
Das Unternehmen war nicht leicht durchzufuhren. Fur die altere Geschichte
des Eisens lagen nur Einzelstudien vor. Das meiste Material muBte aus archaolo-
gischen Werken und Urkundensammlungen zusammengesucht werden. Fiir die
neuere Zeit gait es eine Unzahl seltener Werke zu beschaffen und durchzu-
arbeiten. Fiir die neueste Zeit erschwerte dagegen eine erdriickende Fiille von
Fachliteratur den Uberblick und drohte die Darstellung zu verwirren. Eine
weitere Klippe bildete die Begrenzung des Stoffes. Eine Geschichte der Eisen-
hiittenkunde, der Gewinnung und Verarbeitung des Eisens in dem Umfange,
wie sie auf den Eisenhutten betrieben wird, hatte fiir die altere Zeit zu wenig
Stoff geliefert und hatte die kulturgeschichtliche Bedeutung des Eisens nicht
erkennen lassen. Erst dadurch, daB B. auf kulturgeschichtlichem Hintergrunde
die Geschichte des Eisens aufbaute, schuf er ein Werk, das weit iiber den Kreis
der Eisenhiittenleute hinaus Bedeutung erlangte.
Der erste Band behandelt das Eisen im Altertum und im Mittelalter. Der
Zusammenhang ergab sich dadurch, daB das Eisen bis ins spate Mittelalter
nach dem »direkten« Verfahren gewonnen wurde, das die Naturvolker noch
heute benutzen. Eine schwierige Aufgabe war es, die Anfange der Eisentechnik
aufzufinden. Die Gelehrten hingen mit wenigen Ausnahmen der Lehre vom
Bronzezeitalter an, d. h. sie glaubten, daB iiberall der Eisenzeit eine eisenlose
Bronzezeit vorausgegangen sei. B. wuBte als Hiittenmann, wie leicht das Eisen
aus seinen Erzen zu gewinnen ist, und griff diese Lehre an. Heute steht fest,
daB die Reihenfolge, in der die Volker mit den Metallen bekannt geworden sind,
wechselt, und daB die Eisentechnik weit alter ist als der BronzeguB. Ebenso
schwierig war es, den Anfangen der modernen Eisengewinnung im Hochofen
nachzugehen, denn fiir das Aufkommen der Hochofen und der EisenguBtechnik
lag damals nur weniges und dabei unzuverlassiges Material vor. Trotzdem er-
kannte B. den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der Feuerwaffen und
der Erfindung des Eisengusses, den er und jiingere Forscher spater klar be-
wiesen haben.
220 1918
Der zweite Band schildert die Geschichte des Eisens im 16. und 17. Jahr-
hundert. Die Anfange der hiittentechnischen Literatur, die Erzeugung des
Eisens im Hochofen und im Frischfeuer, die hohen Leistungen der GuB- und
Schmiedetechnik im 16. Jahrhundert sowie die fesselnde Geschichte der da-
maligen Eisenindustrie in den einzelnen Landern werden im ersten Abschnitt
dieses Bandes behandelt. Im zweiten hebt B. besonders die Anfange der mo-
dernen Technik der Dampfmaschine und der Walzwerke sowie das Aufbluhen
der Eisenindustrie in England, Schweden und RuBland hervor.
Der dritte Band umfaBt die Entwicklung der Eisenindustrie im 18. Jahr-
hundert. Auf dem Festland machte die Holzkohlentechnik, angeregt durch
wissenschaftliche Studien, neue Fortschritte, wahrend man in England auf-
bauend auf den Erfindungen von James Watt und Henry Cort neue Bahnen
einschlug.
Der vierte Band schildert den machtigen Auf schwung der Eisenindustrie unter
Englands Ftihrungin der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere durch
das Aufkommen der Eisenbahnen. Er schlieBt mit Bessemers Erfindung ab.
Der fiinfte Band endlich ist dem Zeitalter des FluBeisens und der Riesen-
erzeugungen gewidmet. Besonders ist dabei die wachsende Bedeutung der
Eisenindustrie Deutschlands und Amerikas hervorgehoben.
B.s Schreibweise ist fesselnd und anregend. Sein Urteil, dessen Zielsicherheit
oben an einigen Beispielen gezeigt ist, geht selten fehl. Der Verein deutscher
Eisenhiittenleute hat kiirzlich eine gedrangte Darstellung der Geschichte des
Eisens herausgegeben, die zeigt, daB B.s Werk auch heute nur des Ausbaues,
aber in den Grundziigen nicht der Berichtigung bedarf. Auch die von B. vor-
gezeichnete Einteilung des Stoffes konnte beibehalten, ja noch straff er durch-
gefiihrt werden. (Geschichte des Eisens. Im Auftrage des Vereins deutscher
Eisenhiittenleute gemeinverstandlich dargestellt von Dr. Otto Johannsen;
1. Auflage Diisseldorf 1924, 2. Auflage ebenda 1925.)
Nach Vollendung seines groBen Werkes ruhte B. nicht. Er war der berufene
Berichterstatter iiber neue Beitrage zur Geschichte des Eisens, die groBtenteils
durch sein Werk angeregt waren. Besonders fesselte ihn dauernd die Geschichte
des Eisengusses, fur die er wert voile Erganzungen lieferte. Ferner beschaftigte
er sich mit der Geschichte des Eisens in seiner engeren Heimat. Zuletzt befaBte
er sich gemeinsam mit dem Archivar Dr. Hans Schubert mit urkundlichen
Studien zur alteren Geschichte des Eisens in Nassau, doch erlebte er die Voll-
endung der Arbeit nicht mehr.
Nachdem anfanglich B.s » Geschichte des Eisens « auf manchen Widerspruch
gestoBen war, wurde dem Verfasser spater reiche Anerkennung zuteil. 1905
erhielt cr den Titel Professor, 1909 verlieh ihm der Verein deutscher Eisen-
hiittenleute die Carl Lueg-Denkmiinze und 1910 erfolgte seine Ernennung zum
Dr.-Ing. E. h. durch die Technische Hochschule in Aachen.
Wie er sich durch seine wissenschaftliche Tatigkeit die Achtung aller er-
worben hatte, so gewann er sich durch seine Tatigkeit auf sozialem Gebiete und
durch seinen lauteren Sinn die Liebe der Mitmenschen.
Literatur: Hans Schubert, Ludwig B. (Stahl und Eisen, 1918, S. 789). — Briefliche
Mitteilung der Phil. Fakultat der Universitat Heidelberg.
Aufler der »(>eschichte des Eisens « und verse hiedenen Besprechungen und kleineren
Arbeiten veroffentliehte B.: Beitrage zur Geschichte der Eisenindustrie (Annalen des
Beck. Below 221
Vereins fiir nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung, Bd. 14, 1877; ebenda
Bd. 15, 1879, S. 124) ; Beitrage zur Geschichte des Eisens in Nassau (ebenda Bd. 32, 1903,
S. 211); Die Familie Remy und die Industrie am Mittelrhein (ebenda Bd. 35, 1906, S. 1) ;
Die alte Bruderschaft der Stahlschmiede in Siegen (ebenda Bd. 37, 1908); Zum fiinfzig-
jahrigen Jubilaum des Regenerativofens (Stahl und Eisen, 1906, S. 1421); Urkundliches
zur Geschichte der Eisengieflerei (Beitrage zur Geschichte der Technik und Industrie.
Jahrbuch des V. d. Ingenieure, herausg. von C. MatschoB, Bd. 2, Berlin 1910, S. 83) ;T>ie
Einfiihrung des englischen Flammofenfrischens in Deutschland durch Heinrich Wilhelni
Remy & Co. auf dem Rasselstein bei Neuwied (ebenda Bd. 3, Berlin 191 1, S. 86); Die ge-
schichtliche Entwicklung der EisengieBerei (C. Geigers Handbuch der Eisen- und Stahl-
gieBerei, Bd. 1, Berlin 1911, S. 1).
Volklingen (Saar). Otto Johannsen.
Below, Fritz Theodor Carl v., General der Infanterie, * am 23. September 1853
in Danzig, f am 23. November 1918 in Weimar. — Fritz v. B. war ein Sohn
des preuBischen Generalmajors Ferdinand v. B. und seiner Gemahlin Therese,
geb. Mauve. Er entstammte einer alten Soldatenfamilie, die der Armee viele
hervorragende Ftihrer und tapfere Offiziere geschenkt hat. Sein Vater erhielt
den Pour le merite 1866 als Regimentskommandeur. Sein GroBvater erwarb
denselben hohen Orden 1807 als Rittmeister und das Eichenlaub dazu als
Regimentskommandeur in den Befreiungskriegen. Fritz v. B. erhielt seine Er-
ziehung zunachst im elterlichen Hause, dann im Gymnasium zu Gumbinnen,
auf der Stadtschule zu Litzen und im Gymnasium zu Ratzeburg, schlieBlich in
den Kadettenhausern zu Wahlstadt, Culm und Berlin.
Am 19. April 1873 wurde er aus dem Kadettenkorps als Sekondeleutnant dem
1. Garderegiment zu FuB iiberwiesen und begann damit seine ebenso glanzvolle
wie arbeitsreiche militarische Laufbahn. Abwechselnd im Truppendienst und
im Generalstabe, erstieg er rasch eine Stufe nach der andern. Er hatte reiche
Gelegenheit, seinen Blick zu scharfen und seinen Horizont zu erweitern. Schon
als j unger Offizier wuBte er sich ein eigenes Urteil zu bilden, kraftvoll trat er
stets fiir seine Uberzeugung ein. Am 23. Marz 1887 wurde er Hauptmann und
in den Generalstab der Armee versetzt, am 16. Februar 1889 zur Dienstleistung
beim Kriegsministerium kommandiert, am 22. Marz 1891 Kompagniechef im
1. Garderegiment zu FuB, am 17. Mai 1892 Generalstabsoffizier bei der 5. Divi-
sion. Am 31. Mai 1892 zum Major befordert, wurde er am 24. Oktober 1893 zum
Generalstabe des Gardekorps versetzt. Vom 20. Mai 1896 bis 1. April 1898
fuhrte er ein Bataillon im Gardegrenadierregiment 4. Hierauf wurde er mit
Wahrnehmung der Geschafte als Chef des Generalstabes III. Armeekorps be-
auftragt, am 27. Januar 1899 zum Oberstleutnant befordert, am 1. Oktober 1899
mit Wahrnehmung der Geschafte eines Abteilungschefs beim Generalstab der
Armee und am 16. November 1899 mit Wahrnehmung der Geschafte als Chef
des Generalstabes des Gardekorps beauftragt. Der 22. Mai 1900 brachte seine
Ernennung zum Chef des Generalstabes des Gardekorps, der 18. April 1901
seine Beforderung zum Oberst. Am 14. November 1901 sehen wir v. B. als
Kommandeur des Gardegrenadierregiments 3. Er verstand es binnen kurzem,
die ihm anvertraute Truppe auf eine hohe Stufe der Ausbildung zu bringen.
Vor allem wirkte er auf das Offizierkorps erzieherisch ein und suchte dessen
Bildung und Konnen zu fordern. Am 15. September 1904 wurde er mit der
Fiihrung der 4. Gardeinfanteriebrigade beauftragt und am 27. Januar 1905
222 I9i8
unter Beforderung zum Generalmajor Kommandeur dieser Brigade. Am 13. Fe-
bruar 1906 wurde er als Oberquartiermeister in den Generalstab der Armee ver-
setzt und gleichzeitig mit Wahrnehmung der Geschafte des Chefs des Stabes
der 1. Armeeinspektion beauftragt. In diesen Stellungen war er einer der
nachsten Mitarbeiter und Gehilfen des Chefs des Generalstabes der Armee. Am
18.' Februar 1908 wurde er unter Beforderung zum Generalleutnant zum Kom-
mandeur der 1. Gardedivision ernannt, am 13. September 1912 zum General
der Infanterie befordert und am 1. Oktober 1912 zum Kommandierenden
General des XXI. Armeekorps ernannt. In vorbildlicher Weise hat er sein
Korps fiir den Ernstfall geschult, so daft es gut ausgebildet in den Weltkrieg
ausriicken konnte. Bei der Anlage der Manover setzte er sich dafiir ein, dafl die
ihm unterstellten Truppen in Anlehnung an einen groBeren Truppenverband
zu fechten lernten, und nicht allein als Detachements manovrierten. Er be-
tonte immer wieder, daB im Kriege der erste Fall fast stets, der letztere selten
vorkommen wiirde. Wie richtig seine Ansicht war, hat der Weltkrieg gezeigt.
v. B. hatte ein ungemein klares Urteil iiber Ausbildungs- und Fuhrerfragen.
Seinen Besprechungen bei Gefechtsaufgaben, Besichtigungen und Manovern
waren ungekiinstelt und niichtern und doch nie ermiidend, weil sie immer
klarend und iiberzeugend wirkten.
v. B. fiihrte sein XXI. Armeekorps auch ins Feld. Siegreich kampfte es im
August 1914 in den Gefechten bei Lagarde und Lauterfingen, sowie in der
groBen Schlacht in Lothringen. Schon hier zeigte sich v. B. als ein energischer,
tatkraftiger General, der auch in unklaren, gefahrlichen Lagen die Nerven nicht
verlor, und als ein Fuhrer, der sich ein klares Bild von der eigenen und der Lage
beim Feinde machen konnte, und entsprechend zu handeln wuBte. Dem
XXI. Korps war ein voller Erfolg beschieden. Gelang es ihm doch, den rechten
feindlichen Fliigel einzudrucken. Wiederholt bot ihm der Bewegungskrieg im
Anfang des Feldzuges Gelegenheit, Beweise seiner Kaltbliitigkeit und person-
lichen Unerschrockenheit zu geben. Auch in der mehrtagigen, blutigen Schlacht
an der Somme im September /Oktober 1914 rechtfertigte er das in ihn gesetzte
Vertrauen. AnschlieBend blieb er mit seinem Korps im Stellungskampf an der
Somme.
Dann riefen neue, gewaltige Aufgaben nach dem Osten. In der Winterschlacht
in Masuren zeichnete er sich erneut aus. War es doch sein Korps, das den Ring
auf der Ostseite um die sich verzweifelt wehrenden Russen schloB. Kuhn war
das Wagnis, da die Festung Grodno im Riicken lag, um so groBer war der Er-
folg. Der Kaiser erkannte seine Leistungen durch Verleihung des Pour le tneritc
an. In dem vom Armeeoberkommando 10 gemachten Ordensvorschlage heiBt
es : » Dem XXI. Armeekorps als auBerem schwenkenden Fliigel der Armee boten
sich ungewohnlich hohe Schwierigkeiten durch Wege- und Wetterverhaltnisse.
Nur der eisernen Energie und dem rucksichtslosen Drang nach vorwarts des
Kommandierenden Generals ist es zu danken, daB die Umklammerung gelang. «
Der Marz brachte unter schwierigen Verhaltnissen erneute, ruhmvolle Kampfe
im Osten.
Am 4. April 1915 wurde v. B. an Stelle des erkrankten Generalfeldmarschalls
v. Bulow (s. DBJ. 1921, S. 52 ff.) zum Oberbefehlshaber der 2. Armee ernannt.
t)ber ein Jahr leitete er die erfolgreichen Stellungskampfe westlich von St. Quen-
tin. v. B. war ein Fuhrer, den es aus seinem Hauptquartier nach vorn drangte
Below
223
in die vordersten Schtitzengraben, der sich nicht auf Meldungen und Berichte
verlieB. Er wollte selbst wissen, wie es vorn aussah und in Fiihlung bleiben mit
den braven Feldgrauen.
Im Sommer 1916 hatte v. B. rechtzeitig erkannt, daJ3 der Feind Angriffs-
vorbereitungen traf . Er sah die Gefahr, die seinem rechten Arraeefliigel drohte
und meldete an die Oberste Heeresleitung. Da diese aber zur Stiitzung des
osterreichisch-ungarischen Bundesgenossen zahlreiche Divisionen nach Galizien
und Wolhynien hatte werfen miissen und die Kampfe bei Verdun noch nicht
zum AbschluB gebracht worden waren, konnten wesentliche Reserven nicht
zur Verfugung gestellt werden. So muBte die 2. Armee den feindlichen Ansturm
zunachst allein aushalten. Und das schier Unmogliche gelang. Am 24. Juni 1916
eroffneten die Englander und Franzosen ihre seit dem Fruhjahr groBzugig vor-
bereitete Offensive beiderseits der Somme gegen den rechten Fltigel der
2. Armee. An diesen Tagen brauste ein Orkan von Eisen und Stahl der iiber-
machtigen feindlichen Artillerie und Minenwerfer, haufig untermischt mit Gas-
granaten und Gasminen, auf die Infanterie- und Batteriestellungen. Weit-
tragende Flachbahngeschutze erreichten tief im riickwartigen Gebiet StraBen,
Bahnen und Truppenunterkunfte. Eine an Fesselballons, besonders aber an
Fliegern stark iiberlegene, vorzuglich organisierte Luftmacht des Feindes be-
herrschte die Luft. Die eigene Artillerie und die eigenen Luftstreitkrafte
konnten trotz besten Willens dagegen nicht aufkommen. Die Macht des Mate-
rials zeigte sich in ihrer ganzen Schwere. Unsere Feinde hatten ja die Hilfs-
mittel der ganzen Welt zur Verfugung. Die deutschen Stellungen waren bald
eingeebnet. In dem Trichterfeld hielten aber tapfere Manner, stiindlich den Tod
vor Augen, trotz namhafter Verluste aus. Am 1. Juli brach der feindliche Sturm
los. Der Kampf wogte hin und her. Immer neue Divisionen warfen die Feinde
in die Schlacht. Die sich mehrere Wochen lang hinziehenden Kampfe mit ihrer
groBen raumlichen Ausdehnung machten eine Neuordnung der Befehlsverhalt-
nisse notig. Es war auf die Dauer unmoglich, von einem Armeeoberkommando
aus die gesamte schwierige Verteidigung im GroBkampf zu leiten. So wurde am
19. Juli 1916 nordlich der Somme, dem Brennpunkt der Schlacht, die 1. Armee
gebildet und zu ihrem Fiihrer Fritz v. B. bestimmt. Ihm unterstanden die
Gruppen Stein, Armin und GoBler. Sommeschlacht : aus diesem Wort erklingt
das Hohelied vom Heldentum des deutschen Frontkampfers. Tausende und
Abertausende wackerer deutscher Manner kampften und starben unter unsag-
baren Leiden im Trichterfeld des Sommegebiets fur Deutschlands Bestand.
Tatkraftig von seinem Chef, Oberst v. LoBberg, unterstiitzt, hielt v. B. die
Ziigel fest in der Hand. Mit eiserner Ruhe traf er seine Anordnungen. So oft er
konnte, eilte er nach vorn, urn seine Truppen anzufeuern. RiesengroB waren
die Anforderungen, die an die Fuhrung gestellt wurden. Nur tropfenweise
traf en die sehnsuchtig erwarteten Verstarkungen ein, die sofort in den Kampf
geworfen wurden, wo es am notigsten war. Neben den Heldentaten der tapferen
Frontkampfer waren es vor allem v. B.s iiberlegene Fuhrung und seine sach-
gemaBen Anordnungen, welche den Erfolg sicherten. Der erstrebte Durchbruch
des Feindes durch die deutschen Stellungen liber Bapaume^ — P^ronne auf
Cambrai — Le Cateau miBlang. Dankbar erkannte der Kaiser am 11. August
1916 die Verdienste B.s durch Verleihung des Eichenlaubs zum Pour le
merite an.
224 IQl8
An die Sommeschlacht schlossen sich die Stellungskampfe in demselben
Frontabschnitt an und dann im Friihjahr 1917 die Kampfe vor der Siegfried-
Stellung. Geschickt losten sich die Truppen v. B.s vom Feinde los und raumten
auf hoheren Befehl feindliches Gebiet, um eine wesentliche Frontverkiirzung
zu erzielen.
Das Vertrauen des Kaisers rief v. B. im Mai 1917 in die Gegend ostlich Reims,
wo die Franzosen zu neuem Schlage ausgeholt hat ten. Furchtbar wogte der
Kampf in der sogenannten Doppelschlacht an der Aisne und in der Champagne
hin und her. v. B. blieb Sieger und wurde am 20. Mai 1917 durch Verleihung
von Kreuz und Stern der Komture des Hausordens von Hohenzollern ausge-
zeichnet.
Bis Friihjahr 1918 wahrten die Stellungskampfe vor Reims. In dieser Zeit
^ntstand unter der Leitung v. B.s die Neubearbeitung der in weiten Kreisen
der Armee mit groi3er Genugtuung begriiBten Ausbildungsvorschrift fiir die
FuBtruppen, die dem Geist der neuen Kampfverhaltnisse in hervorragender
Weise Rechnung trug.
Am Ende seiner erfolgreichen militarischen Laufbahn war es ihm, der sich
in vielen heiBen Abwehrschlachten als Armeefuhrer bewahrt hatte, vergonnt,
seine Armee noch einmal zum Angriff zu fiihren. Bei der groBen Maioffensive
vor Reims 1918 erntete auch die tapfere 1. Armee reichen Lorbeer.
Mitten aus siegreichen Tagen zwang ihn plotzlich eine Lungenentziindung
aufs Krankenlager. Er wurde zur Wiederherstellung seiner Gesundheit nach
Deutschland beurlaubt und erlebte dort den Zusammenbruch von Armee und
Vaterland. Dies fraB an seinem deutschen Herzen. Er sah voraus, welche
Folgen sich einstellen muBten, und konnte nicht verstehen, daB Deutschland
die Waffen f reiwillig aus der Hand gelegt hatte. Als er Wiesbaden infolge feind-
licher Besetzung verlassen muBte, zwang ihn sein Kriegsleiden in Weimar er-
neut aufs Krankenbett. Am 23. November 1918 starb er an Lungenentziindung.
Beigesetzt wurde er in Berlin auf dem Invalidenfriedhof.
In Kennzeichnung der Personlichkeit lassen dienstliche Leistungen wie
private Beurteilung aller derer, die mit ihm in Beriihrung kamen, stets die
gleichen Eigenschaften an ihm erkennen. Wie alle B.s, so war auch er schlicht,
bescheiden, vornehm, ritterlich und treu, von warmem, giitigem, frommem
Herzen. Er trat gern in den Hintergrund, wollte stets mehr sein als scheinen.
Die Sache gait ihm alles, die Person nichts. v. B. war eine wahrhaft vornehme
Personlichkeit, der alles Kleinliche fremd blieb. Er war das Vorbild eines Edel-
mannes in des Wortes schonster Bedeutung. Trat er oft auch zuriick, die ihn
kannten, wuBten doch, was sie an ihm hatten: einen Heerfiihrer, der mit
s^trenger niichterner Sachlichkeit und scharfem Verstande erst wagte, bevor er
wagte, aber dann auch zu wagen verstand mit der ganzen Tatkraft seines klaren
Willens. Das einmal fiir richtig Erkannte setzte er entschlossen in die Tat um.
In der preuBischen Garde groB geworden, war er ein Freund altpreuBischer
Disziplin, aber ein Feind jeder unnotigen Harte. Warm, voll Fiirsorge und
Wohlwollen schlug sein Herz fiir die Truppe, in erster Linie fiir die Front-
kampfer und besonders fiir die brave Infanterie. Ihren Leistungen zollte er
uneingeschrankte Anerkennung und aufrichtige Bewunderung. Das Vertrauen
und die Verehrung fiir Fritz v. B. war daher groB. Darum standen die Offiziere
unter dem Zauber seiner Personlichkeit und arbeiteten gern unter ihm, darum
Below. Buz 22S
gingen die Mannschaften fur ihn durchs Feuer. Fritz v. B. ging ganz auf in
seinem Benif, er war Soldat, nur Soldat. Er kannte nur ein Gliick: restlose
Pflichterfiillung fiir Konig und Vaterland. Ihm war es versagt, zu jenen gltick-
lichen Feldherren zu gehdren, deren Namen nach glanzenden Siegen im Volke
von Mund zu Mund gehen. Und dennoch zahlte er unzweifelhaft mit zu den
tiichtigsten Heerfiihrern der deutschen Armee im Weltkriege. In kritischen
Lagen traten sein groBes Konnen und seine hervorragenden Ftihrereigen-
schaften deutlich zutage. Viel hat ihm das Vaterland in jenen schicksals-
schweren Monaten der Sommeschlacht des Jahres 19 16 zu danken, er war es
nut vor allem, der den feindlichen Durchbruch mit seinen unabsehbaren Folgen
zu verhindern verstand. Hat ihn auch schwere Krankheit gezwungen, den
Kommandostab aus der Hand zu legen, das Schicksal hat es gut gemeint. So
lange er das Kommando fuhrte, wich der Sieg nicht von den Fahnen seiner
Armee. Da ging es vorwarts, immer vorwarts zu stolzen, groflen Erfolgen.
Literatur: Reichsarckiv, Der Weltkrieg 19 14/ 18, Bd. 1 — 4. — Hermann Stegemann,
Geschichte des Weltkriegs, Bd. 1 — 4. — Deutsches Offizierblatt 1926, Nr. 25/26. — Einige
von der Familie zur Verfugung gestellte Brief e, Nachrufe und Erinnerungen.
Potsdam. Ernst Zipfel.
Buz, Heinrich Hitter v., Maschineningenieur, Geheimer Kommerzienrat,
Generaldirektor der Maschinenfabrik Augsburg-Nurnberg A.-G., * am 17. Sep-
tember 1833 in Eichstatt, f am 8. Januar 1918 in Augsburg. — Seine Eltern
waren der koniglich bayerische Genieoberleutnant Carl Christoph B. und
dessen Ehefrau Adolphine, geborene Sax. Sein Vater nahm 1838 den Ab-
schied, beteiligte sich zunachst am Bau der Eisenbahn Miinchen — Augsburg
und erwarb 1841 die Geigersche Buchdruckerei in Augsburg. Im Jahre 1844
ubernahm er pachtweise, gemeinsam mit seinem Schwager Carl August
Reichenbach die von Ludwig Sander in Augsburg 1840 gegriindete Ma-
schinenfabrik, die damals 44 Arbeiter beschaftigte. Bald darauf erwarben
die Pachter das Werk kauflich und fuhrten es als »C. Reichenbachsche Ma-
schinenfabrik« weiter. Im September 1857 trat Heinrich B., der vorher an
der Polytechnischen Schule in Augsburg und dem Polytechnikum in Karlsruhe
studiert hatte, dann im Elsafi, in Paris und London als Ingenieur tatig ge-
wesen war, als Konstrukteur und technischer Korrespondent in die Fabrik
ein, die damals 300 Arbeiter beschaftigte und am 1. Dezember 1857 in die
»Aktiengesellschaft Maschinenfabrik Augsburg« umgewandelt wurde. Als
am 1. Juli 1864 der Vater Carl B. von der Direktion zuriicktrat, war Heinrich
B. mit den Verhaltnissen des Unternehmens so wohl vertraut, daB die Direk-
tion ihm iibertragen wurde. Damit trat der Mann an die Spitze des Unter-
nehmens, dem es beschieden war, die Fabrik in wenigen Jahrzehnten durch
seinen genialen Scharfblick fiir das technisch Brauchbare und wirtschaftlich
Zweckmafiige, durch zahe ausdauernde Arbeit, durch treues Festhalten an
den altuberkommenen bewahrten Grundsatzen auf die hochste Stufe der
Entwicklung zu heben und ihr einen der ersten Platze unter alien Maschinen-
fabriken des europaischen Festlandes zu sichern. Die Fabrik baute anfangs
Wasserrader und Turbinen, Transmissionen, Dampfmaschinen und vor allem
Buchdruckschnellpressen, war doch C. A. Reichenbach ein Neffe von Friedrich
DBJ 15
226 I9i8
Konig, der 1810 die BuchdruckschneUpresse erfunden hat. Neben Neuerungen
an Wasserturbinen, deren rechnerische Grundlagen urspriinglich von B.
stammten, brachten Verbesserungen an der Reichenbachschen SchneUpresse
diesen Fabrikationszweig zu rascher Entfaltung. In inniger Fiihlung mit dem
graphischen Gewerbe, dessen Bediirfnisse nach fortschrittlicher Entwicklung
rasch von B. erfaBt worden waren, vollzog sich der Schritt von der Flach-
druckmaschine zur Rotationsmaschine und damit zu immer groBeren Lei-
stungen. Die Rotationsmaschine hat ihren Namen daher, daB sich ihre Druck-
zylinder ununterbrochen in derselben Richtung drehen (rotieren), und zwar
die die Stereotypplatten tragenden in der einen, und die den Druck aus-
iibenden in der entgegengesetzten Richtung. Voraussetzung fur ihre An-
wendung war die Einfiihrung des sogenannten endlosen Papieres, des Rollen-
papieres. Die erste dieser Rotationsmaschinen war auf der technisch so be-
deutsamen Wiener Weltausstellung 1873 im Betriebe zu sehen. 1882 wurde
eine solche Maschine bereits alien Anspriichen fiir Mehrfarbenillustration
gerecht. Mit der Zweirollenmaschine wurde 1892 der erste Schritt zur Mehr-
rollenmaschine getan und damit die Leistung sprunghaft gesteigert. Die zur
stiindlichen Herstellung von 200 000 Zeitungen zu 6 Seiten fiir eine groBe
Pariser Zeitung gebaute Sechsrollenmaschine war bei Ausbruch des Welt-
krieges die leistungsfahigste des Kontinents. Unter der Direktion B.s verlieBen
das Werk Augsburg iiber 10 000 Buchdruckmaschinen, die sich iiber den
ganzen Erdkreis verteilten.
Als Professor Linde 1873 den Entwurf seiner ersten Kaltemaschine fertig-
gestellt hatte, war der Ruf der Maschinenfabrik Augsburg nach der konstruk-
tiven und werkstattentechnischen Seite hin bereits so ausgezeichnet, daB er
sich damit keinem Besseren anzuvertrauen wuBte als B., der sofort die groBe
Bedeutung der mechanischen Kalteerzeugung fiir Industrie und Volkswirt-
schaft erkannte. Diese erste Maschine fand in Miinchen bei Gabriel Sedlmayr
(Spatenbrauerei) Aufstellung. 1875 schloB B. im Verein mit Georg KrauB
und Gabriel Sedlmayr ein Abkommen mit Linde zur Aufbringung der Mittel
zur weiteren Entwicklung und Verwertung der Lindeschen Patente. 1877
verlieB die zweite Lindesche Kaltemaschine die Maschinenfabrik Augsburg;
diese arbeitete in der Dreherschen Brauerei in Triest bis zum Jahre 1908.
1879 wurde die »Gesellschaft fiir Lindes Eismaschinen* gegriindet, in deren
Auf sich tsrat B. eintrat, der damit durch langsichtige Vertrage seinem Werk
ein umfangreiches Arbeitsgebiet fiir Deutschland und fremde Lander sicherte.
Die ausgezeichneten Erfolge des Linde-Unternehmens sind nicht zuletzt
dem langjahrigen, befruchtenden Zusammenarbeiten mit der Maschinen-
fabrik Augsburg und deren vorziigliche Leistungen in Konstruktionsbureau
und Werkstatte zuzuschreiben. Tausende von Lindes Kaltemaschinen stammen
aus Augsburg. Was B.s Verhaltnis zur Linde-Gesellschaft besonders aus-
zeichnete, war sein unermiidlicher Eifer, den er all ihren Unternehmungen
entgegenbrachte. Er gait auch der Frage der Gasverfliissigung, die im Welt-
krieg fiir Deutschlands Riistung von so schwerwiegender Bedeutung wurde.
Linde selbst preist in seinem Buch »Aus meinem Leben« die hohe und gleich-
maBige Qualitat der Augsburger Maschinen als ein wesentliches Moment
fiir den Erfolg seiner Arbeit, und schreibt, wie sehr B. durch seine vornehme
und gerechte Gesinnung den geschaftlichen und personlichen Verkehr durch
Buz
227
Jahrzehnte hindurch zu einein ebenso erfreulichen als fruchtbaren gemacht
hat. Das Zusammenarbeiten mit der Iyinde-Gesellschaft brachte der Ma-
schinenfabrik Augsburg aber noch einen sehr groBen indirekten Nutzen,
indem sie hierdurch auf warmetechnische Fragen gelenkt wurde, ihren
Dampfmaschinenbau auBerordentlich forderte und auf eine sehr hohe Stufe
der Entwicklung brachte. Die Fabrik hatte schon von 1845 an kleinere Hoch-
druckmaschinen von 3 — 4 PS. gebaut, in stehender Anordnung mit obenliegen-
der Welle. 1856 wurde eine liegende Zwillingsdampfmaschine fur die Augs-
burger Baumwollfeinspinnerei, 1857 eme ebensolche fur die Kammgarn-
spinnerei Worms gebaut. Diese Maschinen, denen bald solche bis zu 300 und
600 PS. folgten, hatten Farcotsche Expansionssteuerung mit unmittelbarem
Regulatoreingriff, Dampfmantel und Kondensation unter Flur. Schon friih-
zeitig wurden die Maschinen genauen Versuchen auf den Dampfverbrauch
unterworfen. 1871 nahm die Fabrik den Bau von Prazisions-Ventildampf-
maschinen auf und damit begann der Siegeslauf der Augsburger Dampf-
maschinen, die neben denen von Gebrtider Sulzer in Winterthur jahrzehnte-
lang die besten der Welt waren., 1876 wurde fiir die Neue Baumwollspinnerei
Hof im Gegensatz zu dem bis dahin allgemein ublichen Stirnraderantrieb
zum erstenmal die Kraftiibertragung durch Hanfseile bewerkstelligt. 1879
ging B. an die Einfiihrung der liegenden zweikurbeligen Verbunddampf-
maschine, und zwar als Erster in Deutschland fiir ortsfeste Anlagen. Diese
150 PS.-Maschine fiir die Augsburger Kammgarnspinnerei wurde namentlich
durch die daran vorgenommenen ausgedehnten Versuche epochemachend
und vorbildlich. 1888 lieferte die Firma ihre erste Dreifach-Expansions-
Dampfmaschine von 700 — 900 PS. an die Vogtlandische Baumwollspinnerei
in Hof. 1894 wurde die erste Dreifach-Expansionsmaschine mit geteiltem
Niederdruckzylinder und 1200 PS. Leistung fiir die Augsburger Kammgarn-
spinnerei gebaut, welche Bauart bald viel Nachahmung fand. Im Bau der
stehenden Dampfmaschine machte das Werk urn die Jahrhundertwende die
Entwicklung der groBen Elektrizitatswerke mit. Die Zahl der unter der Direk-
tion von B. gebauten Augsburger Dampf maschinen geht in viele Tausende.
Die hervorragendste und bemerkenswerteste Leistung B.s, die in ihren
Folgen auBerordentlich weittragend war, und durch die selbst seine starken
Fahigkeiten auf eine sehr harte Probe gestellt wurden, kniipft sich an das Auf-
treten Rudolf Diesels, der 1893 in seiner kleinen Schrift »Theorie und Kon-
struktion eines rationellen Warmemotors« auf Grund von warmetheore-
tischen Betrachtungen neue Ideen fiir eine bessere Warmeausnutzung vor-
trug. DaB auf Grund dieser Ideen wirklich ein brauchbarer Warmemotor ent-
stehen konnte, namlich der heute so auBerordentlich wichtige, allgemein
als »Dieselmotor« bezeichnete Olmotor, ist das groBe und ausschlieBliche Ver-
dienst von B. Mit der Geschichte des Dieselmotors bleibt daher der Name
Heinrich v. Buz untrennbar verbunden. Er hatte das gute in den Diesel-
schen Ideen klar erkannt und hielt daran auch dann noch fest, als maB-
gebende Manner in Industrie und Wissenschaft langst davon abrieten, und
andere Firmen von ebenfalls allererstem Range die Dieselsache nach groBen
Geldopfern als vollig hoffnungslos aufgegeben hatten. Hier auBerte sich B.s
unbeugsame Willenskraft von dem Augenblicke an, wo er eine Sache fiir
gut erkannt hatte, mochte der Weg auch noch so weit und noch so dornenvoll
228 I9i8
sein. Fast vier Jahre lang MiBerfolg auf MiBerfolg mit ungeheuren Geld-
opfern (iiber M. 400 000) waren vorerst der Lohn fiir sorgenvolle, keine Zeit
und Grenzen kennende Arbeit. Diesel selbst hatte an der Erreichung eines
marktfahigen Motors gezweifelt. Die Idee war geradezu in Verruf gekommen.
Unter solchen Umstanden ging B. unter Einsetzung von persdnlicher und
geschaftlicher Ehre im Vertrauen auf seine treuen bewahrten Mitarbeiter
den schier uniiberwindlich scheinenden Schwierigkeiten zu Leibe. Seine
Hauptstiitzen dabei waren der damals junge Ingenieur und jetzige Geheime
Baurat Dr. ing. Imanuel Lauster und die hochentwickelte Werkstattentechnik
der Fabrik. Die Konstruktion der Dieselmaschine muBte von Grund auf
neu geschaffen werden. Und es gelang. Der ortsfeste Olmotor mit der von
Diesel ertraumten Warmewirtschaftlichkeit war im Februar 1897 erreicht.
Es folgte dann die weitere Entwicklung zu immer groBeren Leistungen,
groBter Betriebssicherheit und der TJbergang von der ortsfesten zur Schiffs-
antriebmaschine, welch letztere im U-Bootkrieg fiir Deutschland so ungeheuer
wichtig und wertvoll gewesen ist. Sein nie versagender Glaube an seine
Arbeit, seine gesunde Hartnackigkeit im Verein mit seinen fiihrenden Mit-
arbeitern vollbrachten ein Werk, das B. seinen Platz unter den GroBen der
Technik fiir alle Zeiten sichert. Auch nach Ablauf der Dieselschen Patente,
als sich viele Fabriken dem Bau der Schwerolmaschine zuwandten, behielt
die Maschinenfabrik Augsburg ihre fuhrende Stellung an der Spitze aller
Dieselmotoren herstellenden Werke. Aus ihren Werkstatten sind bis zum
Jahre 1927 — 30 Jahre nach Fertigstellung des ersten brauchbaren Motors —
Dieselmotoren mit einer Gesamtleistung von einundeinhalb Millionen PS.
hervorgegangen ; das ist schatzungsweise der vierte Teil der auf der Welt
vorhandenen sechs Millionen Diesel-PS. Baute man 1903 noch Maschinen
mit Zylinderleistungen von 100 PS., so waren es 191 3 bereits solche mit
1000 PS. Im Weltkrieg nahm der Dieselbau einen auBerordentlichen Auf-
schwung und zwar im Bau von schnellaufenden Motoren bis zu 3000 PS. fiir
Unterseeboote. Der groBte Dieselmotor der Welt wurde 1926 von Blohm
& VoB, Schiffswerft und Maschinenfabrik in Hamburg — einer der vielen
Lizenznehmerinnen der Maschinenfabrik Augsburg-Niirnberg — nach den
Patenten und Entwiirfen von Maschinenfabrik Augsburg-Niirnberg (M.A.N)
gebaut. Er entwickelt 15 000 PS. in neun Zylindern. Zum Betrieb von Fabriken,
als Antriebsmaschine von See- und FluBschiffen und Lokomotiven, Kraft -
wagen, sowie als Lokomobile findet der Dieselmotor heute Anwendung;
diejenige fiir Flugzeuge und Luftschiffe steht der Verwirklichung nahe.
Fiir GroBkraftwerke ist das Vorhandensein des Dieselmotors als Momentan-
und Spitzenreserve geradezu eine Lebensf rage ; verursacht doch die Unter-
dampfhaltung von Kesseln und die Aufheizung von solchen fiir die nur wenige
Stunden dauernden Lichtspitzen enorme Verluste. Der hohe Stand des Diesel-
motorenbaus bei der Maschinenfabrik Augsburg-Niirnberg wird dadurch noch
bestatigt, daB diese Firma mehr als 20 Lizenzen an erstklassige Firmen des
In- und Auslandes vergeben hat, die heute alle nach den Entwiirfen und
Planen der Maschinenfabrik Augsburg-Niirnberg arbeiten.
Im Jahre 1898 entschloB sich B. in richtiger Erkenntnis technischer und
wirtschaftlicher Forderungen der Zeit zur Verschmelzung der Maschinen-
fabrik Augsburg mit der Maschinenbaugesellschaft Niirnberg. B. war von
Buz 229
1898 bis 1913 gemeinsam mit A. v. Rieppel, Generaldirektor der Maschinen-
fabrik Augsburg-Niirnberg A.-G. (M.A.N.), eines Unteraehmens, das beim
Tode B.s mit rund 85 Millionen Aktienkapital und Reserven arbeitete und in
seinen Werken Augsburg, Nurnberg, Gustavsburg und Duisburg rund
25 000 Arbeiter und Beamte beschaftigte.
Dem Wohlergehen und den Bediirfnissen seiner Beamten und seiner
Arbeiterschaft stand B. immer mit wahrhaft sozialer Gesinnung gerecht
gegeniiber. Mannigfache Wohlfahrtseinrichtungen wurden geschaffen, deren
Leistungen er durch hohe personliche Zuwendungen steigerte. Dabei lag ihm
besonders die Heranziehung eines tiichtigen Nachwuchses am Herzen. So
kam es, daB die Arbeiterverhaltnisse fast patriarchalisch blieben, was ein
Blick auf den alten Arbeiterstamm, der noch beim Tode B.s im Werk Augs-
burg tatig war, bestatigt. Im Verkehr mit seinen Angestellten war er jeder
formellen AuBerlichkeit abhold : Einf achheit und Disziplin waren seine Richt-
punkte. DaB er, der fast ein halbes Jahrhundert lang Tausenden von Arbeitern
gut bezahlte Arbeit verschafft hat, von sozialdemokratischen Fuhrern miB-
gunstig beurteilt wurde, braucht wohl kaum erwahnt werden. Wenn B. Auf-
sichtsratstellen annahm, so geschah dies nicht in seinem personlichen, als
vielmehr im Interesse seines Werkes. So war B. in den Aufsichtsraten folgender
Gesellschaf ten : Augsburger Lokalbahn, A.-G. fiir Bleicherei, Farberei und
Appretur in Augsburg, Gesellschaft fiir Markt- und Kiihlhallen in Hamburg,
Maschinenfabrik Augsburg-Niirnberg A.-G., Gesellschaft fiir Lindes Eis-
maschinen in Wiesbaden, Haunstetter Spinnerei und Weberei in Augsburg,
Mechanische Seilerwarenfabrik in Bamberg, Schantung-Eisenbahngesellschaft
in Berlin. Als B. in die Fabrik, das heutige Werk Augsburg der Maschinenfabrik
Augsburg-Niirnberg eintrat, hatte diese 300 Arbeiter, bei seinem Riicktritt
als Generaldirektor am 1. Juli 1913 dagegen 5500 Arbeiter und Beamte.
B. konnte von sich sagen, daB er der erste Arbeiter in seinem eigenen Werk
war ; er war in seinen gesunden Jahren der Erste und der Letzte auf seinem
ebenso verantwortungsvollen wie arbeitsreichen Posten. Ohne zwingende
Grande verlieB er sein Werk nicht. Eingedenk des guten alten deutschen
Sprichwortes »Fern von Haus ist nan' bei Schaden« konnte er sich nicht ent-
schlieBen, alle moglichen Ehrenstellen und Ehrenamter anzunehmen, die
einem Manne von seiner Bedeutung und seiner Stellung naturgemaB reichlich
angeboten werden, die ihn aber von seinen Pflichten, wie er sie auffaBte, ab-
gelenkt und haufig von Augsburg weggefuhrt hatten. Seine Arbeit und Sorge
gait seinem Werk, das er zu hochster Bliite brachte, und auBerdem seiner
Heimatstadt Augsburg und deren Industrie. So ist es seinem Eintreten zu-
zuschreiben, daB 1888 die Augsburger I^okalbahn gegriindet wurde, deren
Linien alle Augsburger industriellen Werke unter sich und mit dem Netz der
staatlichen Bahnen verbinden, wodurch eine der wesentlichsten Bedingungen
fiir den Aufschwung der Augsburger Industrie erfullt wurde. Der 1893 erfolgte
ZusammenschluB der Augsburger Unternehmungen zum Industrieverein fand
in B. eine seiner vornehmsten Stiitzen. Den besonderen Dank der Augsburger
Bevolkerung erwarb sich B. durch die Griindung des Augsburger Stadt-
gartens mit seinen prachtigen Anlagen, zu der er 1886 den AnstoB gegeben
hat und dessen Leitung, Verschonerung und Bewahrung vor finanziellen
Schwierigkeiten ihm bis ins hohe Alter eine liebe Aufgabe war.
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In seiner auBeren Erscheinung war B. stattlich, hochgewachsen, breit und
stark, fast derb an Gestalt und Gesichtsziigen, die kraftvoll und mannlich
ebenso unbeugsame Willenskraft wie wohltuende Herzensgtite ausdriickten.
B. war energisch Und zielbewuBt, besaB groBes Wissen und starkes Konnen,
technischen Scharfblick, bedeutendes Organisationstalent und eine rastlose
Arbeitsfreudigkeit. Von Hause aus Ingenieur, besaB er gleichwohl ein aus-
gezeichnetes Verstandnis fur die wirtschaftlichen Verhaltnisse und besonders
fur die kaufmannisch- wirtschaftlichen Fragen im Betrieb seiner Fabrik.
Seine vorsichtige Dividendenpolitik, die sorgfaltige Beachtung, die er den
Amortisationskonten und Reserven schenkte, und seine groBziigige Ver-
kaufsorganisation legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Freilich, jene beweg-
liche Vielseitigkeit, jenes spekulative GroBunternehmertum, jenes kritiklose
Herumprobieren, wie man es anderwarts so haufig sieht, war seinem Wesen
fremd. Er war immer davon iiberzeugt, daB nur bei weisester Selbstbeschran-
kung auf wenige Hauptgebiete des Maschinenbaues ei